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"Ahnungslose Hetze des deutschen Finanzministers"

Ein Buch mit drei Leben: 1999 ging es um die Wirtschaftskrisen, die damals Asien und Lateinamerika erschütterten, das zweite Leben begann im vergangenen Jahr, als Krugmann sein Buch im Lichte der Subprime-Krise aktualisierte. Der dritte Abschnitt erfährt das Werk nun in deutscher Übersetzung: Denn darin liefert sich der Kolumnist der New York Times einen derben Schlagabtausch mit der deutschen Bundesregierung.

Von Sandra Pfister | 08.06.2009
    "The Economic Consequences of the Peace" - unter diesem Titel warnte Krugmans Guru John Maynard Keynes in den 20er-Jahren davor, dass Europa mangels Untätigkeit im Protektionismus und im Währungschaos versinken könnte - was wenig später geschah. "The Economic Consequences of Herrn Steinbrück" - diese Anleihe an Keynes erlaubte sich Krugmann kürzlich in seinem Blog, nachdem der deutsche Finanzminister die Krisenmaßnahmen der europäischen Partner als "krassen Keynesianismus" verunglimpft hatte. In der New York Times konterte Krugman:

    "Vergleichbares zur ahnungslosen Hetze des deutschen Finanzministers kriegt man in den Vereinigten Staaten nur von den Republikanern zu hören."

    Für deutsche Ohren ist deshalb das Spektakulärste am "neuen" Krugman sein Vorwort. Ein Vorwort, das er eigens für die deutsche Ausgabe geschrieben hat. Ein amtierender Nobelpreisträger zeiht die Bundeskanzlerin der wirtschaftspolitischen Unfähigkeit. Er kommt zu dem Schluss,

    "dass die eigentlich Knappheit in der Welt von heute ( ... ) keine Knappheit 'der Ressourcen oder gar der Tugend, sondern der Erkenntnis ist. Besonders akut scheint diese Knappheit derzeit in der deutschen Regierung zu sein, was nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa ein Problem aufwirft. ( ... ) Dass die deutsche Regierung es 'nicht kapiert', hat weiter reichende Folgen, als man vielleicht denkt. ( ... ) Frau Merkel und ihre Beamten glauben anscheinend immer noch, hier herrschten die normalen Regeln der Wirtschaft, jene Regeln, die dann gültig sind, wenn man mit Geldpolitik noch etwas ausrichten kann."

    Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssten viel aggressiver als bisher versuchen, die Wirtschaft durch Konjunkturprogramme anzukurbeln - Deutschland allen voran. Doch Krugman ist ebenso weit davon entfernt, dem ihm politisch näher stehenden Barack Obama einen Lorbeerkranz zu flechten. Vor wenigen Wochen äußerte er im Wochenmagazin "stern":

    "Wenn wir nicht sehr rasch sehr viel mehr tun, dann entkommen wir dieser Spirale für viele Jahre nicht mehr. Wir brauchen eine 'Powell-Doktrin' für die Wirtschaftspolitik. ( ... ) Seine Doktrin besagt: Wenn man schon einen Krieg führen muss, dann mit überwältigender Übermacht. Aber was im Moment passiert, erinnert eher an die Eskalationstheorie. Zu wenig, zu spät. So wie damals im Vietnamkrieg. Mit den bekannten Folgen."

    Doch fahnden wir mit dem Wirtschaftsnobelpreisträger erst einmal nach den Ursachen der aktuellen Krise und blicken mit Krugmann zurück auf die 30er-, aber auch auf die 80er- und 90er-Jahre. Seine Analysen dieser Krisen-Jahrzehnte, die den Kern der Erstausgabe seines Buches bilden, lesen sich rückblickend wie ein Prolog zu dem, was jetzt passiert. Jede Krise ein Warnschuss. Hätte man sie ernst genommen, die Warnungen, hätte man die aktuelle Zuspitzung verhindern können - so Krugmans Resume:

    "Ich bin versucht zu sagen: So etwas wie diese Krise hat es noch nie gegeben. Richtiger wäre wohl, dass wir alles an dieser Krise schon einmal hatten."

    Die neuen Passagen seines Buches zeichnen sich vor allem durch eine kluge und differenzierte Analyse der aktuellen Misere aus. Sie beginnt mit der mittlerweile Allgemeingut gewordenen Blase am amerikanischen Häusermarkt. Doch soweit kommen konnte es nur, weil die Geldpolitik lasch war und die Politik tolerierte, dass im Schatten der regulierten Banken völlig unregulierte Banken entstanden: Investmentbanken, Fonds und Hedge-Fonds: Schattenbanken.

    "Einflussreiche Persönlichkeiten hätten eine einfach Regel verkünden müssen: Alles, was das tut, was eine Bank macht, alles, was in Krisen gerettet werden muss, so wie Banken gerettet werden, sollte auch wie eine Bank reguliert werden. (...) Der Zeitgeist (...) war aber zutiefst regulierungsfeindlich. Symbol dieser Einstellung war ein Fototermin im Jahr 2003, bei dem Vertreter der an der Bankenaufsicht beteiligten Behörden einen Stapel von Regulierungsvorschriften mit Gartenscheren und einer Kettensäge in Fetzen rissen."

    Krugmann attackiert aber nicht nur die Republikaner, sondern auch den früheren Chef der US-Notenbank, Alan Greenspan. Damit vollführt Krugman Greenspan gegenüber den gleichen Salto rückwärts wie der publizistische Mainstream - und verschweigt seine frühere Bewunderung geflissentlich, die aber in seinem ersten Buch nachzulesen ist. Greenspans Politik des billigen Geldes - das ist heute Konsens - war der Nährboden für die Krise.

    "Zwar warnte Greenspan vor einem (...) irrationalen Überschwang, doch getan hat er kaum etwas dagegen. (...) Statt dessen wartete er, bis die Blase platzte (...), und versuchte dann, den Saustall nachträglich aufzuräumen."

    Der scharfzüngige Krugman wäre nicht halb so berühmt, wenn er nicht eine eindeutige Botschaft transportieren würde: Wenn die Politik eine Neuauflage der Großen Depression noch verhindern will, muss sie aggressive Nachfragepolitik betreiben. Krugmans Patentrezept kann nun wirklich nicht überraschen, immerhin bimst er es den New York-Times-Lesern seit Jahren zwei Mal wöchentlich ein: Die Regierungen der Welt, aber insbesondere seine eigene, sollen endlich die Angst vor hohen Schulden ablegen. Und unversehens befindet sich der ehemalige Daueroppositionelle Krugman nur wenige Monate nach dem Regierungswechsel in den USA schon wieder in der Opposition. Der Wirtschaftsnobelpreisträger kritisiert den Wirtschaftskurs von Präsident Barack Obama inzwischen lautstark. Im Buch tut er das noch in einer moderaten Form, in seiner Kolumne hat er längst schon die Keule ausgepackt. Vielleicht liegt es, wie böse Zungen behaupten, daran, dass Obama ihn noch nie um Rat gefragt hat. Der Wirtschaftsnobelpreis-Träger plädiert für eine komplette Verstaatlichung und Reprivatisierung der gescheiterten Banken.

    "Nichts könnte schlimmer sein, als das Notwendige zu unterlassen, nur weil man fürchtet, Aktionen zur Rettung des Finanzsystems könnten irgendwie 'sozialistisch' sein."

    Krugman ist ein brillanter Makroökonom, aber sicher kein Finanzmarktexperte. Deshalb muss er sich von Letzteren vorhalten lassen, Institute wie AIG und Citigroup stünden de facto schon jetzt unter Staatskontrolle, eine Verstaatlichung großer Banken wäre für die Steuerzahler noch viel teurer.

    Aber in Sachen Verschuldung wirkt Krugman ohnehin schmerzfrei. Die USA haben derzeit Schulden, die 45 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes entsprechen. Leider nicht im Buch, aber in seiner Kolumne in der New York Times sagt Krugman recht präzise, dass er noch viel, viel weiter gehen würde:

    "Nach dem Zweiten Weltkrieg lagen wir bei 110 Prozent, was wir über die Jahre abgebaut haben. Daran sieht man, was geleistet werden kann. (...) Das führt mich zu der Überlegung, dass wir uns in den USA, wenn nötig, ruhig mit weiteren 40 Prozent des Bruttoinlandsproduktes verschulden könnten."

    Eine Staatsverschuldung von bis zu 85 Prozent des Bruttoinlandsproduktes - man muss schon Nobelpreisträger sein, um dafür nicht des Wahnsinns geziehen zu werden. It's Keynes, stupid: massive staatliche Investitionen. Diese Linie hält Krugman durch, bis auf eine kleine Passage, in der echte Ratlosigkeit durchschimmert.

    "Wirklich besorgniserregend ist die Machtlosigkeit der Politik, ist der Umstand, dass geldpolitische und fiskalische Anreize sich nicht mehr direkt auf Wachstum und Beschäftigung auswirken."

    Langfristig, ergänzt Krugman, sollten die USA ihr soziales Netz ausbauen und wieder zum "langweiligen" Bankensystem der zurückliegenden 100 Jahre zurückkehren.

    Krugmans Verdienst ist es erstens, dass er eine Meinung hat und sich traut, dafür einzustehen. Zweitens bietet er politische Lösungsvorschläge an. Die sind für den Krugman-Kenner nicht neu, und sie sind leider auch nicht konkret. Man muss Krugmans grund-keynesianische Meinung nicht teilen, um trotzdem von diesem Buch zu profitieren: auch für alle, die anderer Meinung sind, ist das Buch ein überaus lesbar geschriebener VWL-Basiskurs mit packenden, weil leider tagesaktuellen Beispielen.
    Krugman ist nicht nur ein ausgezeichneter Wissenschaftler, er ist Missionar. Wenn die ganze Welt in die - seiner Meinung nach - falsche Richtung fährt, hält er lautstark dagegen, eloquent und witzig und dabei überaus lesbar. Denn das ist, drittens, Krugmans größtes Verdienst: Dass er verständliche Wirtschaftsprosa schreibt und nicht bloß den Fachkollegen imponieren will.

    Paul Krugman "Die neue Weltwirtschaftskrise", Campus Verlag, 2009, 24,90 Euro.