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Aktion für Geschlechtergleichheit
Indiens junge Frauen rebellieren im Netz

#AintNoCinderella – ich bin kein Aschenputtel: Inderinnen protestieren in den sozialen Netzwerken gegen Männer, die sie am liebsten zu Hause einsperren wollen. Die Aktion erhält viel Resonanz - aber: "Es ist eine Mittelklasse-Blase, die da applaudiert", so ARD-Korrespondentin Silke Diettrich im Dlf.

Silke Diettrich im Gespräch mit Adalbert Siniawski | 15.08.2017
    Mitglieder der National Students Union of India (NSUI) protestieren am 9. August 2017 in Neu-Delhi gegen Vikas Barala, Sohn eines regionalen BJP Politikers, der eine Frau mit einem SUV verfolgt haben soll.
    Gegen die Auto-Verfolgungsjagd auf die junge Inderin sind in Neu-Delhi viele Menschen auf die Straße gegangen (imago / Hindustan Times)
    Adalbert Siniawski: Die Entwicklung des Schwellenlands Indien geht nicht ohne soziale Spannungen einher. Heiß diskutiert werden etwa Frauenrechte – verstärkt nach der brutalen Vergewaltigung einer jungen Frau von sechs Männern in einem Bus im Jahr 2012.
    Aktuell macht die Hashtag-Aktion "Ain't no Cinderalla" – ich bin keine Cinderella – die Runde im Netz.
    Hintergrund: Vor wenigen Tagen hat eine junge Frau bei Facebook beschrieben, wie sie nachts im Auto von zwei Männern im SUV verfolgt wurde und fürchtete, entführt zu werden. Als der Fall publik wurde, schlug sich der ein regionaler Politiker der rechtskonservativen Regierungspartei BJP auf die Seite der Verfolger: Die Frau hätte nicht so spät unterwegs sein dürfen. Pikant dabei: Einer der mutmaßlichen Täter soll der Sohn des regionalen BJP-Präsidenten sein.
    Als Gegenreaktion startete die junge Schauspielerin und Oppositionspolitikerin Divya Spandana online die Kampagne "Ain’t no Cinderella". Seitdem posten Frauen auf Twitter, Facebook und Instragram Bilder von sich, wie sie nach Mitternacht unterwegs sind und Spaß haben.
    Frage an Silke Diettrich, Korrespondentin im ARD-Studio Neu-Delhi: In Europa, Ländern wie Großbritannien und Deutschland, wird diese Kampagne gefeiert. Wie ist die öffentliche Wahrnehmung in Indien?
    Silke Diettrich: Das ist relativ unterschiedlich. Ich meine, die jungen Frauen, die diese Kampagne mit befördern und ihre eigenen Fotos posten, die feiern das natürlich auch. Die zeigen dann, wo sie nachts unterwegs sind, sagen, hey, BJP, wir haben einen Cocktail in der Hand, könnt ihr das sehen und es ist nach Mitternacht. Aber das ist natürlich so eine Mittelklasseblase, die da applaudiert. Also ich tippe mal, Millionen Frauen in Indien haben überhaupt nichts davon mitbekommen, weil sie noch niemals im Internet waren. Weil, ich habe vor kurzem schon noch mal mit der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy gesprochen, die hat das Leben in Indien, finde ich, ganz gut auf den Punkt gebracht, als sie gesagt hat: 'Hier leben die Menschen zur gleichen Zeit in verschiedenen Jahrhunderten'.
    Mit patriarchalen Traditionen brechen
    Siniawski: Sie sagen es. Die Frauen, die beim #AintNoCinderalla Bilder gepostet haben, stammen aus besseren Mittelschichts-Verhältnissen, aus den Großstädten. Wie sieht es auf dem Land mit Kampagnen der Solidarität oder des Schutzes aus? Greifen dort vielleicht auch manchmal Social-Media-Aktionen oder eben gar nicht?
    Diettrich: Social-Media-Aktionen, würde ich sagen, ist wirklich eher schwierig. Ich war jetzt schon viel in Indien auf dem Land unterwegs. Da hat vielleicht der ein oder andere Mann und Vater, einer in der Familie ein Handy, vielleicht sogar ein Smartphone. Aber meistens sind die Netzwerke da auch gar nicht so gut verbunden, dass die Frauen da irgendwo im Internet unterwegs sein könnten. Es gibt natürlich auch Kampagnen, die auf dem Land betrieben werden. Es gibt eine Kampagne im Moment, da geht es darum, die Töchter zu schützen, die heißt "Rettet die Töchter" und bildet sie gut aus. Und dann gehen Sozialarbeiterinnen von Ort zu Ort und versuchen dann, die Frauen zu überzeugen, dass es gut ist, auch Töchter zu bekommen, weil die werden ja hier leider noch regelmäßig abgetrieben oder Töchter bekommen einfach weniger zu essen, als Letzte etwas zu essen, erst bekommen die ganzen Brüder was oder sie werden nicht in die Schule geschickt.
    Und sie geben dann eigentlich ganz schöne Beispiele dafür, was es schon für tolle Frauen, auch in Indien gegeben hat, auch eine Regierungschefin in Indien, in den 60er-Jahren. Da waren wir in Deutschland lange noch nicht so weit, da mussten wir ja noch unsere Ehemänner eigentlich befragen, ob wir überhaupt einer Arbeit nachgehen dürfen. Aber da versuchen die so nach und nach Traditionen zu brechen und Frauenrechte hervorzuheben.
    Zu lange Gerichtsverfahren
    Siniawski: Aus Indien haben uns in der Vergangenheit immer wieder Nachrichten über Vergewaltigungsfälle erreicht, bei denen die Täter zum Teil ungeschoren davon gekommen sind. Einige wurden natürlich auch - gerade bei dem Fall von 2012 - dann auch wirklich bestraft. Hat die Regierung angemessen reagiert auf solche Fälle?
    Diettrich: Ja. Also mittlerweile kann Vergewaltigern sogar die Todesstrafe drohen, wenn das Opfer stirbt. Das war tatsächlich der Fall, als die von dieser großen Gruppenvergewaltigung - was Sie gerade erzählt haben - danach sind die Gesetze verschärft worden. Aber die Gerichtsverfahren dauern hier ewig. Nur weil der öffentliche Druck bei dem einen Fall vor vier Jahren so groß war, sind die vier Vergewaltiger tatsächlich zu Tode verurteilt worden. Viele Frauen müssen sonst Jahre darauf warten, dass überhaupt ein Urteil gefällt wird. Und nach wie vor wird die Vergewaltigung in der Ehe nicht bestraft. Das wurde zwar hier mal diskutiert, aber nach Meinung der Gesetzgeber hier in Indien kann so was in der Ehe überhaupt nicht vorkommen, also andersrum gesagt: Da muss die Frau ja wollen, das gehört eben zu den ehelichen Pflichten.
    "Man hat immer noch beide Seiten"
    Siniawski: Im Mai sorgte Schauspielerin Priyanka Chopra für Aufsehen: Sie erntete Kritik, nachdem sie beim Staatsbesuch von Regierungschef Modi in Deutschland ein kürzer geschnittenes Kleid trug statt ein bodentiefes, traditionelles Gewand. Daraufhin postete sie im Internet ein Foto, das sie und ihre Mutter in kurzen Kleidern zeigt, und sie schrieb dabei: "Es sind die Gene". Welche Rolle spielen die sozialen Netzwerke für den Protest der jungen Feministinnen in Indien?
    Diettrich: Es ist natürlich ein gutes Netzwerk, gerade für diese gehobene Mittelklasse, für die gebildeten Leute, um sich Gehör zu verschaffen. Es gibt jetzt im Moment auch eine große Kampagne, die wird von einem jungen Fotografen ausgeübt, der beschreibt - also der setzt erst mal Frauen eine Kuhmaske auf - und das ganze Leitthema ist die Frage: Sind bei uns Kühe geschützter und behandeln wir Kühe besser als Frauen? Und so was geht natürlich rum. Und es gibt sehr, sehr viele Menschen, man schätzt, es sind um die 400 Millionen Menschen, die hier ein smartphonefähiges Handy haben oder eben ansonsten im Internet unterwegs sind.
    Das ist schon eine neue Generation, die da heranwächst. Es gibt mehr Mädchen, junge Frauen, die auch studieren und die selbstbewusster sind. Und ich sehe es ja auch hier in Neu-Delhi, es gibt ganze Bereiche, wo Frauen tatsächlich mit extrem kurzen Röcken und Stöckelschuhen herumlaufen, aber man hat immer auch diese Gegenseite noch in Indien. Jetzt kürzlich noch, dieses Jahr Silvester, gab es eine große Feier in Südindien und da gab es einen Mob, also, Frauen wurden begrapscht. Und auch da direkt wieder Reaktionen der Politiker - wenn ihr westliche Kleidung tragt, wenn ihr kurze Röcke tragt, dann seid ihr eben selber Schuld. Also man hat immer so beide Seiten noch hier in Indien.
    Siniawski: Was ist die Ursache überhaupt für diese Gewalt gegen Frauen? Sind sie quasi Opfer eines Modernisierungsprozesses, in dem traditionelle, rückschrittliche Sexual, ein Kastenwesen auf eben diese größere, freiere, liberale Mittelschicht trifft? Sind sie da sozusagen die Opfer dieses Prozesses?
    Diettrich: Die Opfer dieses Prozesses, würde ich nicht sagen, sondern es gibt eigentlich diese beiden Bewegungen nebeneinander. Es gibt dieses völlig selbstverständliche – jemand aus der höheren Kaste konnte eine Frau aus der unteren Kaste einfach vergewaltigen, weil die ja sowieso nicht so viel wert war. Dieses feudale, hierarchische System hat hier sehr, sehr lange vorgehalten. Nun gibt es das erste Mal tatsächlich diese jungen Frauen, die sagen: Wir befreien uns, wir wollen da raus. Aber die Frage ist, was ist in den Köpfen und was ist die Tradition. Und da ist im Moment hier ein riesengroßes Clash, vor allen Dingen natürlich in den Großstädten. Und die Frage ist, wer am Ende gewinnen wird.
    Siniawski: Versucht die Regierung auch, die männliche Bevölkerung für das Thema zu sensibilisieren?
    Diettrich: Es gibt durchaus hier Plakate mittlerweile, ist mir in letzter Zeit noch mal aufgefallen, auf den Märkten, wo steht: Männer, die Frauen belästigen – das sei einfach unehrenwert und anrüchig. Das sollte man nicht tun. Es gibt sehr viele Taxifahrer mittlerweile, die auch so Plakate hinten in ihren Autos drin haben, wo draufsteht: Wir respektieren Frauen. Es gibt aber keine gezielte Kampagne, wo man jetzt sagen würde, die nimmt komplett die Männer ins Visier.