Samstag, 20. April 2024

Archiv

Aktuelle Krimis aus Frankreich
Politisch brisant - aber wenig neu

Ein Attentat auf einen Präsidentschaftskandidaten, eine Serie von Männer-Vergewaltigungen, ein rätselhafter Mord in einem korsischen Clan: Die aktuelle französische Krimi-Literatur ist politisch brisant. Allerdings haben einige der Romane auch ihre Schwächen.

Von Dina Netz | 01.11.2017
    In Frankreich ist heute (23.4.2017) Präsidentschaftswahl. Das Bild zeigt den Eiffelturm in Paris, im Vordergrund stehen Menschen im Gegenlicht, der Himmel ist wolkenverhangen.
    Frankreichs Krimi-Autoren bearbeiten aktuell vor allem politische Themen (AFP PHOTO / LIONEL BONAVENTURE)
    Sabri Louatahs "Eine französische Hochzeit" ist Michel Houellebecqs Skandalroman "Unterwerfung" in der Ausgangssituation nicht unähnlich: Ein Moslem steht kurz davor, französischer Präsident zu werden – zum ersten Mal in der Geschichte. Doch was bei Houellebecq einen Absturz in autoritäre Verhältnisse bedeutet, ist bei Louatah ganz im Gegenteil die Hoffnung vor allem vieler liberaler Franzosen, die die immer selben politischen Gesichter und nicht selten korrupten Eliten leid sind. Und natürlich die Hoffnung vieler muslimischer Einwanderer.
    "Denk dran, morgen ist Wahl. Freut dich das nicht, dass Chaouch Präsident wird, inch'Allah? Ein arabischer Präsident, wallah, und wenn's auch nur ist, um die Gesichter der Franzosen auf der Arbeit zu sehen. Ich freu mich schon drauf, dass er gewählt wird."
    Eine "Jahrhundertwahl", wie die Zeitungen titeln. Bei Louatah taumelt Frankreich, anders als bei Houellebecq, ins Chaos, nicht weil ein Moslem Präsident wird, sondern weil er es nicht wird. Denn bevor Chaouch seine Wahl antreten kann, wird er Opfer eines Attentats. Aber so weit sind wir noch nicht.
    Hochzeit unter ungünstigen Umständen
    Zunächst feiert die Familie Nerrouche Hochzeit. Die Nerrouches sind algerische Einwanderer, die jüngste Generation ist in Frankreich geboren und hat mit Algerien nichts zu schaffen. Die Erfolgreichen leben in London oder Paris, die Kernfamilie ist im Städtchen Saint-Etienne geblieben. Und dort feiert Slim seine Hochzeit – allerdings auch das schon unter ungünstigen Vorzeichen.
    Der Zug des Trauzeugen verspätet sich, und dem Bräutigam stellt während der Feier ein schwuler Liebhaber nach. Die Nerrouches sind eine typische Großfamilie, denn nichts läuft ganz so, wie es sein sollte, trotzdem halten alle irgendwie zusammen.
    Bis zum nächsten Tag. Da verübt Krim, der Cousin des Bräutigams, ein Attentat auf den Präsidentschaftskandidaten Idder Chaouch. Die Familie fällt aus allen Wolken, denn Krim war zwar als Kleinkrimineller, aber weder als Gewalttäter noch als politischer Extremist aufgefallen. Wie sich herausstellt, ist er von Slims Bruder Nazir manipuliert worden.
    Zwischen Familien- und Staatskrise
    Die familiäre Tragödie verbindet sich mit der Staatskrise. Es kommt zu Aufständen, weil viele Unterprivilegierte, die Chaouch gewählt haben, einen politischen Hintergrund für das Attentat vermuten.
    "Paris bestand nur noch aus Sirenen, Autos und brennenden Mülltonnen, aus Einheiten der Bereitschaftspolizei und willkürlichen, bisweilen durch die Missachtung einer Ausgangssperre gerechtfertigten Festnahmen, die das Polizeipräsidium entweder nicht deutlich genug oder zu spät bekannt gegeben hatte.
    Während die Kasernen im Großraum Paris sich zeitgleich mit den Straßen leerten, versammelten sich überall vermummte Gestalten und steckten in Gruppen von acht bis zehn Leuten alles, was an ihrem Weg lag, in Brand."
    Hoffnungslos verloren im Figurendickicht
    Sabri Louatah hat dem Buch einen Stammbaum der Familie Nerrouche voran- und Kurzporträts aller Figuren nachgestellt. Selbst mit dieser Hilfe verläuft man sich allerdings ziemlich hoffnungslos im Figuren-Dickicht vor allem aufseiten der Ermittlungsbehörden.
    Trotzdem folgt man gebannt Louatahs weitschweifiger, in einfacher, dialogischer Sprache geschriebener Geschichte, denn er zeichnet alle Figuren sehr detailgenau und hält die Spannung über 700 Seiten. Er beschreibt zugleich packend die kriminalistische Aufarbeitung eines nahezu perfekten Verbrechens auf höchster Staatsebene und ein von ethnischen und sozialen Spannungen zerrissenes Frankreich.
    Dort hat Sabri Louatah mit "Eine französische Hochzeit" einen Nerv getroffen und schon zwei Fortsetzungen veröffentlicht, Sammeltitel der Trilogie: "Die Wilden". Der Autor arbeitet gerade an der Verfilmung. Nur dass "Eine französische Hochzeit" ohne Schlusspunkt endet, ist ziemlich unbefriedigend. Denn auf die Übersetzung der beiden Fortsetzungen seiner "Wilden"-Trilogie hätte man auch so neugierig gewartet.
    In diesem Roman tritt auch ein Richter auf, der früher einmal "von korsischen Nationalisten Morddrohungen erhalten hatte". Damit wirft Sabri Louatah einen Seitenblick auf einen Konfliktherd der französischen Gesellschaft, der im Moment etwas aus dem Focus geraten ist.
    Michel Bussi rückt ihn in "Fremde Tochter" wieder in den Mittelpunkt. Bussi lässt seine Protagonistin Clothilde nach 27 Jahren noch einmal ihre korsische Heimat besuchen. Damals war ihre gesamte Familie bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Clothilde, die mit im Auto saß, hatte nur wie durch ein Wunder überlebt. Nun kehrt sie mit Mann und Tochter an den Ort des Geschehens zurück und beginnt Fragen zu stellen. Nicht zuletzt, weil sie einen Brief erhält, der eigentlich nur von ihrer Mutter kommen kann.
    Korsikas Potenzial wird voll ausgeschöpft
    Bussi, der in Frankreich ein etablierter Krimi-Autor ist, schöpft Korsikas Potenzial voll aus: Er wird nicht müde, die atemberaubend schroff-schöne Kulisse zu beschreiben sowie alle auf der Insel schwelenden Konflikte einzubauen: Unabhängigkeitsbestrebungen, Bodenspekulation, Umweltschutzfragen. Und die sehr speziellen korsischen Gepflogenheiten spielen auch eine Rolle:
    "Mein Großvater hat deinen Großvater Cassanu aufgesucht. Alle Welt weiß, dass er den Hotelkomplex hat in die Luft sprengen lassen."
    "Wie bitte?"
    "Aber natürlich wird keiner was sagen. Der Ehrenkodex der Schweigepflicht. Die Omertà, sagt mein Vater. Jeder hier verdankt deinem Großvater etwas. Als erster Basile, der den Campingplatz leitet. Sie sind zusammen zur Schule gegangen. Verstehst du das? Es wird eine Bombe deponiert, jeder weiß Bescheid, dass er es war, aber niemand sagt etwas."
    Süffige Unterhaltung vor politischer Kulisse
    Mit dem starken korsischen Zusammengehörigkeitsgefühl, das keinen Eindringling von außen duldet, hängt auch Clothildes Familienkatastrophe zusammen.
    Wo Sabri Louatah mit scharfem politischem Bewusstsein gehobene Unterhaltungsliteratur geschrieben hat, liefert Michel Bussi süffige Unterhaltung vor politischer Kulisse. Nur leider ist die eigentliche Krimihandlung in "Fremde Tochter" einigermaßen abstrus, da hilft auch der spannungsgeladene Schauplatz wenig.
    Beide Romane haben eine Gemeinsamkeit
    Eins haben die beiden besprochenen Bücher gemein: Sie beschreiben von Männern dominierte Gesellschaften und Strukturen, in denen Frauen trotzdem wichtige Rollen spielen, bei Bussi sogar die Hauptrollen.
    Sabri Louatah: "Die Wilden. Eine französische Hochzeit". Aus dem Französischen von Bernd Stratthaus, Heyne Verlag, München 2017, 704 Seiten, 18 Euro

    Michel Bussi: "Fremde Tochter". Roman. Aus dem Französischen von Eliane Hagedorn und Barbara Reitz, Verlag Rütten & Löning, Berlin 2017, 544 Seiten, 14,99 Euro
    Im Debütroman von Louise Mey "Das Spiel mit der Angst" ist die Rolle der Frauen in der französischen Gesellschaft gleich das Thema. Meys Protagonistin ist eine Inspektorin, Alex, was per se schon ungewöhnlich ist, die außerdem an allerlei Stellen auf Fragen von Gender und Gerechtigkeit stößt, nicht zuletzt in ihrem aktuellen Fall. Da werden Männer reihenweise Opfer von Vergewaltigungen – alle sind überrascht, denn statistisch gesehen sind nur ein Prozent der Vergewaltigungsopfer Männer. Der Druck auf die Ermittler hingegen ist antiproportional hoch – die Vorgesetzten sind halt Männer.
    "Blondeau schien zusehends mit den Nerven am Ende zu sein. Sie wusste, dass er einen Großteil des Drucks auf sich nahm. Der Präfekt war nicht der Einzige, der ein Wörtchen mitredete. Es ging das Gerücht, der Kommissar hätte einen Anruf vom Innenminister erhalten. Wenn man dem Flurfunk Glauben schenkte, hatte der oberste Polizist Frankreichs nicht ungereizt gefragt, ob Blondeaus Leute sich die Fingernägel feilten."
    Weitläufige Erzählweise
    Die stockenden Ermittlungen erlauben Louise Mey, ihre Geschichte ziemlich weitläufig zu erzählen. Sie sammelt am Wegrand immer mehr Beispiele für Diskriminierung von oder Gewalt gegen Frauen. Zum Beispiel erstatten zwei junge Frauen Anzeige wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, aber den Polizisten sind wegen einer komplizierten Gesetzeslage die Hände gebunden:
    "Es wurde still. Jennifer räusperte sich.
    'Entschuldigen Sie. Ich weiß, Sie suchen nach einer Lösung für uns, aber wir hatten auf Sie gezählt. Damit Sie das ... regeln. Uns helfen. Das ist doch nicht normal, dass wir in dieser Stadt, in diesem Land so etwas mitmachen müssen, wo wir bloß arbeiten wollen. Und dass wir hier sitzen und Sie uns sagen, dass Sie nichts tun können.'
    Marco und Alex schauten sich ohnmächtig an."
    Die Ermittler haben angesichts solcher Geschichten ihre Schwierigkeiten damit, ihre Energie ausgerechnet in die Suche nach Männer-Schändern zu stecken.
    Geschichte tritt zeitweise auf der Stelle
    Durch die vielen Abschweifungen, die thematisch, aber nicht dramaturgisch mit dem Kriminalfall zu tun haben, tritt Louise Meys Geschichte manchmal genauso auf der Stelle wie die Ermittlungen. Dann kommt zum Glück doch immer wieder ein Fax, das neuen Schwung in die Sache bringt. Insgesamt hat "Das Spiel mit der Angst" das löbliche Anliegen, auf die immer noch alltägliche Frauen-Diskriminierung in der französischen Gesellschaft hinzuweisen. Louise Mey tut das ein bisschen zu sehr mit dem Holzhammer – trotzdem ist "Das Spiel mit der Angst" ein vielversprechendes Debüt.
    Louise Mey: "Das Spiel mit der Angst". Thriller. Aus dem Französischen von Thomas Brovot, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 428 Seiten, 10,90 Euro
    Ein anderes Debüt war in Frankreich ein spektakulärer Erfolg: Die Suche nach den Wurzeln des Bösen ist der Motor der Geschichten von Jérémy Fel. In seinem Thriller "Die Wölfe" erzählt er von zwölf Personen in Frankreich und den USA, die zunächst nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, deren Schicksale aber doch auf subtile Weise miteinander verknüpft sind.
    Die zentrale Figur ist Daryl, der als junger Mann das Haus seiner Eltern inklusive Eltern in Brand steckt und später in den USA ein ganzes Gewalt-Imperium aus Drogen- und Prostituierten-Geschäften leitet. Nun wird nicht Jeder, der von seinen Eltern misshandelt wird, später zum Mörder. Doch bei Daryl sind offenbar in seiner Kindheit die Sicherungen durchgebrannt, als sein Vater ihn verprügelte und seine Mutter zusah:
    "Gegen Abend war George vom Feld zurückgekommen. Ohne nach seinem Sohn zu fragen, verputzte er sein halbes Grillhähnchen und streckte sich danach vor dem Fernseher aus. Und was hatte sie getan? Sie hatte sich an den Küchentisch gesetzt, um Radio zu hören, dann aber den ganzen Abend darüber nachgegrübelt, was Daryl wohl gerade machte und wie er sie angesehen hatte, als sein Vater mit dem Gürtel auf ihn eindrosch. Am Boden kauernd, seine Wut unterdrückend, hatte er ihr einen Blick zugeworfen, der ihr allein gegolten hatte, einen Blick voller Verzweiflung und flammendem Zorn."
    Ein Junge wird zum Monster
    Das Monster, das aus Daryl wird, tritt wie ein Leitmotiv immer wieder im Buch auf. Es gibt aber auch andere Geschichten, die die Ursprünge von Gewalt nicht in Gewalt finden, sondern in Ängsten. Ein Mädchen bringt zum Beispiel versehentlich seine Mutter um, weil es sie, als die Mutter nachts ihr Kinderzimmer betritt, für eine gruselige Märchenfigur hält. In einer anderen Geschichte heißt es:
    "Am Ende würden nur noch die Krokodile übrig bleiben."
    Mit genau dieser Geschichte zeigt Fel, dass er das Gegenteil hofft und auf der Seite des Guten steht. Darin rettet ein Mann, der selbst nicht gerade vom Leben begünstigt ist, einen kleinen Jungen vor dessen gewalttätiger Mutter. Obwohl Fel seine Figuren zum Teil dem Schlimmsten aussetzt, hofft er also doch auf das Beste. Und diese Haltung, die immer wieder durchschimmert, macht, dass man die Lektüre trotz aller Gräuel mit gespannter Erwartung und Interesse durchhält. Auch wenn der Motor von Fels Geschichten fast ein bisschen zu geschmiert läuft, sie ein bisschen sehr flott weggeschrieben wirken.
    Nichts, was man nicht schon wüsste
    Und was erfährt man am Ende aus all diesen Büchern über Frankreich? Über die Welt? Oder über den Menschen? Nichts, was man nicht schon wüsste. Frankreich steht am Abgrund, und das Böse kann in der Welt nur schwer vom Guten aufgehalten werden. Daran kann auch die Literatur wenig ändern. Aber sie kann spannend und klug davon erzählen.
    Jérémy Fel: "Die Wölfe kommen". Thriller. Aus dem Französischen von Anja Nattefort, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2017, 398 Seiten, 16,90 Euro