Italien unter Lega und Fünf-Sterne

Steigende Schulden, große Unsicherheit

27:49 Minuten
Luigi Di Maio (l-r), stellvertretender Ministerpräsident von Italien, Giuseppe Conte, Ministerpräsident von Italien, und Matteo Salvini, Innenminister von Italien, bei einer Pressekonferenz im Palazzo Chigi in Rom.
Noch hat die Regierung Italiens gut Lachen: Luigi Di Maio (l-r), Giuseppe Conte und Matteo Salvini. © ANSA/AP/dpa/Angelo Carconi
Von Tassilo Forchheimer · 29.11.2018
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Italien hat viele Baustellen: Korruption, ineffiziente Bürokratie, hohe Jugendarbeitslosigkeit, marode Infrastruktur. Vor einem halben Jahr trat die Regierungskoalition mit dem Versprechen an, alles besser zu machen. Bislang ohne Erfolg.
Dunkle Wolken hängen über der Stadt. Regen prasselt auf die Straßen von Rom. Es blitzt und donnert. Spannung liegt in der Luft – vor allem hier in San Lorenzo, dem Studentenviertel von Rom, das in den vergangenen Wochen viele Schlagzeilen gemacht hat in Italien.
Desirée Mariottini, ein 16-jähriges Mädchen wurde hier vergewaltigt. Anschließend war sie tot – gestorben an einer Überdosis. Ihre Peiniger waren Drogen-Dealer. Der Tatort, ein Ruinengrundstück, galt als rechtsfreier Raum. Hier war nur selten Polizei zu sehen. Dafür tummelten sich Kriminelle, oft selbst drogensüchtig.
In der kleinen Bäckerei nebenan machen sie sich nun Sorgen um die Zukunft.
"Wir wollen nur Sicherheit und Ruhe. Mehr wollen wir nicht. Denn, wenn die Kunden sich hier nicht sicher fühlen, dann kommt keiner."
Tatsächlich verirrt sich kaum noch Kundschaft in den kleinen Laden. Sie komme aus Tunesien, erzählt die Verkäuferin.
"Wir leben schon lange hier. Ich seit 18 Jahren, mein Mann seit 30. Es gibt auch andere Ausländer, die ehrlich und unbeschwert arbeiten und ihre Steuern zahlen."
Und das betont sie nicht ohne Grund. An der brutalen Vergewaltigung gleich nebenan waren Migranten beteiligt. Einem Politiker wie dem italienischen Innenminister Matteo Salvini passt das gut ins Bild. Seit seinem Amtsantritt vor einem halben Jahr verkauft er sich als oberster Sheriff des Landes. Sogar in Polizeiuniform hat er sich schon fotografieren lassen.
Aufschrift an einer Mauer: Gedenken an das 16-jährige Mädchen, das hier - im Viertel San Lorenzo in Rom - von einer Gruppe Männer vergewaltigt und hilflos dem Tod überlassen wurde.
Gedenken an das 16-jährige Mädchen, das hier - im Viertel San Lorenzo in Rom - von einer Gruppe Männer vergewaltigt und hilflos dem Tod überlassen wurde.© Tassilo Forchheimer
Matteo Salvini: "Ich bin Innenminister und ich habe es satt, Zehntausende von angeblichen Flüchtlingen durch unsere Städte streifen zu sehen, die von morgens bis abends nichts tun und die die Italiener fünf Milliarden Euro kosten."
Salvini ist ein Meister der Vereinfachung. Er brüstet sich damit, die Zahl der nach Italien kommenden Migranten deutlich gesenkt zu haben. Dabei verschweigt er gerne, dass der Zustrom schon unter seinem sozialdemokratischen Vorgänger deutlich zurückgegangen war. Viele von Salvinis Behauptungen halten einer näheren Überprüfung nicht stand. In der Welt sind sie dann aber trotzdem.

"Zuerst die Italiener"

Der Minister hat einen persönlichen Draht zu Steve Bannon, der auch den amtierenden US-Präsidenten beraten hat. Salvinis Leitspruch lautet: "Prima gli italiani!" - also: "Zuerst die Italiener." Das erinnert an die USA.
Gleich nach dem brutalen Tod der jungen Frau – ein gezielter Mord scheint es nicht gewesen zu sein – ließ sich auch Salvini in San Lorenzo blicken. Jetzt steht das ganze Viertel, das immer offen war für multikulturelles Miteinander, unter Pauschalverdacht, beklagt Mariano Aloisio, einer der Trainer in der Palestra Popolare. Der Sport-Club des Viertels, eine bürgerschaftliche Initiative, hält in San Lorenzo Generationen und Nationalitäten zusammen. Wer kein Geld hat, darf hier kostenlos trainieren.
"San Lorenzo ist seit einiger Zeit im Fokus der Medien. Meiner Meinung nach alles sehr konstruiert, um eines der wenigen Viertel schlecht zu reden, das noch eine soziale Alternative bietet zur allgegenwärtigen Kommerzialisierung."
Wäsche trocknet auf Wäscheleinen, die über Gassen gespannt sind - im römischen Viertel San Lorenzo.
Vor der Vergewaltigung ein normales Viertel: das römische San Lorenzo.© picture alliance / Photoshot / Anna Retico/ Sintesi
Ein Stadtteil am Scheideweg. San Lorenzo ist in der Krise. Die früher gut gefüllten Bars und Restaurants stehen abends nun oft leer. Menschen von außerhalb kommen nicht mehr und den Bewohnern des Viertels fehlt das Geld, um abends auszugehen, sagt Marina, Wirtin des "Cappellaio Matto", des "Verrückten Hutmachers".

"Wir stehen im Vorzimmer einer Diktatur"

Vor wenigen Tagen hat sie zum letzten Mal in ihrer kleinen Trattoria gekocht. Sie muss verkaufen, sagt sie.
"Ich hatte nie Kundschaft aus den höheren Kreisen. Nur normale Leute, die im Viertel lebten. Meine Gäste waren Handwerker, Künstler, Musiker. Und die sind jetzt natürlich alle arbeitslos und haben große Probleme. Die meisten Leute, die ich kenne, sind über 50 und ins Ausland gezogen, um überleben zu können."
Lega-Chef Matteo Salvini besucht das römische Viertel San Lorenzo, in dem ein 16-jähriges Mädchen vergewaltigt wurde und verstarb.
Lega-Chef Matteo Salvini besucht das römische Viertel San Lorenzo, in dem ein 16-jähriges Mädchen vergewaltigt wurde und verstarb.© Matteo Nardone / Pacific Press
Schaut man genauer hin, spiegelt sich in der Krise von San Lorenzo die Krise des ganzen Landes.
Über Italien haben sich dunkle Wolken zusammengebraut. Inzwischen macht sich sogar Silvio Berlusconi Sorgen. "Wir stehen im Vorzimmer einer Diktatur, wenn alles so weiterläuft. Ich bin sehr besorgt", sagt der frühere Ministerpräsident. Was ist passiert?

Zwei Parteien "wie Öl und Wasser"

Nach monatelangen Verhandlungen beginnt am 1. Juni 2018 die Regierungszeit von Giuseppe Conte. Der neue italienische Ministerpräsident gilt – bei allem Respekt – als Verlegenheitslösung, weil sich die zwei Koalitionspartner – die rechte Lega und die populistische Fünf-Sterne-Bewegung – auf keinen profilierteren Kandidaten einigen können. Und so wird ein weitgehend unbekannter Juraprofessor und Rechtsanwalt über Nacht zum Regierungschef.
Giuseppe Conte: "Ich möchte der Anwalt des italienischen Volkes sein. Ich bin bereit, alles zu geben - mit höchstem Engagement und höchster Verantwortung."
So Giuseppe Conte zum Amtsantritt. Karikaturisten sehen ihn als Marionette zweier Parteien, die eigentlich überhaupt nicht zusammenpassen, sagt im Sommer der erstaunte Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher.
"Wie Öl und Wasser. Die einen sind im Norden gewählt worden, die anderen im Süden. Die einen sind wirtschaftsliberal, sezessionistisch und auch fremdenfeindlich. Die anderen sind eher für einen ausgebauten Fürsorgestaat mit bedingungslosem Grundeinkommen und ähnlichen Modellen. Da versteht man auch relativ wenig, was genau die Orientierung der Regierung jetzt ist."
Der italienische Ministerpräsident Conte bei der Ankunft in Brüssel
"Anwalt des Volkes" oder "Marionette zweier Parteien"? - Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte© BELGA
Immerhin einigen sich die Koalitionspartner auf ein gemeinsames Regierungsprogramm. Luigi di Maio von der Fünf-Sterne-Bewegung:
"Wir schlagen einen Regierungsvertrag für ein anderes Italien vor. Es ist ein Koalitionsvertrag nach dem deutschen Modell, denn wir wollen, dass die politischen Kräfte sich zu den Punkten bekennen, die verwirklicht werden müssen."
Dass Regierungsparteien einen Koalistionsvertrag abschließen ist neu für Italien. Verglichen mit dem deutschen Koalitionsvertrag ist die italienische Variante allerdings ein eher schlankes Dokument – mit den wichtigsten Wahlversprechen: eine Grundsicherung für arme Italiener, die Absenkung des Rentenalters und Steuersenkungen. Vieles bleibt unklar. Interessant ist, was – zumindest vorläufig – nicht verwirklicht werden soll. Matteo Salvini von der rechten Lega.
"Das Regierungsprogramm sieht weder morgen früh noch in 14 Tagen einen Ausstieg aus dem Euro oder der Europäischen Union vor. Wir wollen die europäischen Regeln und Auflagen neu diskutieren, damit es den italienischen Bürgern besser geht."

Das "Basta Euro" ist verschwunden

In Sache Europa heißt die Linie also bis auf Weiteres: Ja, aber... Das ist für Salvini schon ein Zugeständnis. Jahrelang hatte seine Partei mit dem Slogan "Basta Euro" geworben. Auf T-Shirts, Wahlplakaten und auf der Grundstücksmauer der Parteizentrale in Mailand. Nur wenige Stunden vor seiner Vereidigung zum Minister ließ Salvini diese Mauer neu streichen.
Das "Basta Euro" verschwand hinter weißer Farbe. Staatspräsident Sergio Mattarella hatte Salvini zuvor im persönlichen Gespräch klargemacht, dass Europa zur italienischen Staatsräson gehört. Und ohne den Staatspräsidenten gibt es in Italien nun einmal keine Regierungsbildung.
Auf den blauen Zetteln, die auf einer grünen Unterlage liegen, steht "Euro basta".
Nicht mehr aktuell, seit die Lega regiert: Protestzettel gegen den Euro© Riccardo Antimiani / EIDON / MAXPPP / dpa
Was nicht bedeutet, dass Salvini deshalb Kreide gefressen hat. Viele seiner Anhänger lieben ihn dafür, dass er sich auch in offizieller Mission wie der Kumpel von nebenan benimmt, der auch vor Kraftausdrücken nicht zurückscheut. Vor allem gegenüber Frankreich und Deutschland verzichtet der Minister bei öffentlichen Auftritten gerne auf diplomatische Zurückhaltung.
"Diese deutsche Herrschsucht, diese deutsche Lust zu kontrollieren, hat etwas von einer Bedrohung."

Sympathiewerte für Salvini steigen

Und weil viele Menschen in Italien inzwischen wirklich denken, dass Deutschland den europäischen Kontinent beherrschen möchte, kommen Salvinis Schimpftiraden gut an beim Publikum. Seit der Wahl hat er seine Sympathiewerte annährend verdoppelt und er legt weiter zu. Fragt man die Menschen auf der Straße nach ihrer Meinung, kommen oft solche Antworten.
Alessandro Carboni: "Das ist ein in jedem Fall eine Haltung, die eine klare Botschaft sendet: Wir sind ein souveränes Volk, Italien ist ein starkes Land und muss seine Entscheidungen und Ideen geltend machen. Damit bin ich voll einverstanden."
Isidoro Toscano: "Wir haben Jahre durchlebt, in denen die Europäische Union uns wirklich unerträgliche Opfer auferlegt hat, dem ganzen Volk. Ich kann daher den Kurswechsel der Regierung absolut nachvollziehen."
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Ein Social-Media-Team ist immer dabei...© Screenshot Instagram | @matteosalviniofficial
In Deutschland mögen solche Stimmen ungläubiges Kopfschütteln auslösen. Im heutigen Italien ist europakritisches Denken aber weit verbreitet. Das hat auch damit zu tun, dass sich einer wie Salvini gezielt der sozialen Medien bedient, um das breite Publikum zu beeinflussen. Ein Social-Media-Team begleitet den Minister auf Schritt und Tritt. Über Facebook spricht er direkt zu seinen Anhängern.
Manchmal übertragen große Fernseh-Sender seine Ansprachen auch direkt on air. Salvini amüsiert das. Jetzt bin ich Kameramann für Sky, sagte er letztens, als ihn seine Mitarbeiter über eine solche Live-Schalte ins reguläre Fernsehen informierten. Und so dominiert der Minister immer mehr die politische Agenda.

"Da ist eine Spaltung der Gesellschaft"

Marina aus dem "Verrückten Hutmacher" beobachtet den gesellschaftlichen Wandel mit Sorge.
"In den vergangenen Monaten haben sich die Dinge in Italien verschlechtert. Da ist eine Spaltung der Gesellschaft – durch viel Desinformation und durch eine große Geschichtsvergessenheit."
In San Lorenzo haben sie nicht vergessen, wohin nationale Egoismen führen können. Das Viertel wurde im Zweiten Weltkrieg schwer zerstört.
Wie Schnee seien die Bomben damals vom Himmel gefallen, heißt es in einem Lied, das in San Lorenzo bis heute oft zu hören ist.
Auch der Mittzwanziger Paolo arbeitet in San Lorenzo, als Video-Editor. Das ist nicht selbstverständlich. Italien hat eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Mit der neuen Regierung kann er nichts anfangen.
Paolo: "Sie sind ständig auf der Suche nach Feindbildern. Erst war der Feind die alte Regierung, jetzt, wo sie die platt gemacht haben, suchen sie einen neuen Feind und Europa scheint dafür genau richtig zu sein."
Tausende Demonstranten protestieren in Rom gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, November 2018.
Tausende Demonstranten protestieren in Rom gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit - und den Regierungskurs, November 2018.© ZUMA Wire
Ähnliche Beobachtungen hat Stefan Pollak gemacht. Er ist in den 90er-Jahren als Student aus Baden-Württemberg nach Italien eingewandert, hat die italienische Staatsbürgerschaft und arbeitet als Architekt in San Lorenzo, wo er den Fußballverein "Atletico San Lorenzo" mitgegründet hat.
Stefan Pollack: "Ich find's irgendwie erstaunlich in der italienisch-politischen Lage, wie sehr die Inhalte auf die Seite geschoben worden sind, also wie sehr es diesen Leuten, die jetzt regieren, gelungen ist, übers Nichts zu diskutieren. Und ich denke, dass das auch der Grund ist, warum dann einer, der einfach der starke Mann ist, für was stark auch immer. Dann steht so einer halt gut da, wenn sonst nichts zu bieten ist."
Das sieht die Regierung natürlich ganz anders. Luigi Di Maio, stellvertretender Ministerpräsident und politischer Chef der Fünf-Sterne-Bewegung, sagt, im Mittelpunkt der Reformagenda stünden vor allem drei große Probleme, unter denen die Italiener zu leiden hätten.
Luigi Di Maio: "Die Menschen, die in Pension gehen müssten, aber nicht gehen können, die Notsituation durch die Besteuerung der Unternehmen, der Selbstständigen und der Familien und der Armutsnotstand mit acht Millionen Menschen unter der Armutsgrenze. Es geht hier um strukturelle Maßnahmen, die die Probleme der Italiener lösen müssen. Wir wollen das tun, in dem wir die Haushaltsgrenzen respektieren, aber diese Grenzen müssen flexibel sein."
In klaren Worten heißt das: Die Regierung will zumindest vorübergehend mehr Schulden machen als von der Vorgänger-Regierung geplant, um die lahmende Wirtschaft des Landes wieder in Schwung zu bringen.

Jubel für die Neuverschuldung

Kaum war das entsprechende Haushaltsgesetz im August beschlossen, brach vor dem Amtssitz des Ministerpräsidenten – nur wenige Kilometer von San Lorenzo entfernt – großer Jubel aus. Oben auf dem Balkon von Palazzo Chigi feierte Di Maio mit seinen Anhängern die soeben beschlossene höhere Neuverschuldung.
"Heute gewinnt nicht die Regierung, sondern die Italiener, die uns am 4. März gewählt haben. Und das ist nur der Beginn – das Haushaltsgesetz öffnet die Türen zum 'Manöver des Volkes'. Es löscht die Armut aus. Es gibt viele Bürger, Unternehmer, Menschen die arbeiten und unter der Armutsgrenze leben. Viele Steuerzahler werden weniger zahlen. 2,4 Prozent Neuverschuldung bedeutet viel – für die Würde der Personen und für den Reichtum der italienischen Familien."
Dass die Italiener diese neuen Schulden irgendwann wieder zurückzahlen müssen, spielt keine Rolle.

"Sie sind Brandstifter"

Schuldenmachen gehört in Italien schon lange zur politischen Tradition. Kritische Stimmen, wie die von Maurizio Martina, vom oppositionellen Partito Democratico bleiben weitgehend ungehört.
"Sie sind Brandstifter. Sie zünden alles an, anstatt das Problem zu lösen. Und schaut euch an, was sie im Einzelnen planen, nach allem was man bisher in ökonomischer Hinsicht gehört hat: das ist kein Haushalt für das Volk, das ist ein Betrug am Volk."
Tatsächlich ist die Regierung dabei, sich in die eigene Tasche zu lügen. Auch Fachleute wie der Wirtschaftsprofessor Carlo Cottarelli warnen vor zu vielen neuen Schulden. Am Ende könne sich der erhoffte Aufschwung ins Gegenteil verkehren.
Carlo Cottarelli: "Der Staat muss höhere Zinsen für seine Schulden bezahlen, die Banken nehmen höhere Zinsen für Privatkredite, von den Familien, von den Firmen und das bremst die Wirtschaft, sodass das höhere Wachstum gar nicht mehr spürbar wäre. Die Regierung setzt trotzdem auf einen neuen Weg: auf mehr Ausgaben. Warten wir ab, ob das klappt."

EU-Kommission für Defizit-Verfahren gegen Italien

Das große Problem Italiens sind die vielen Altschulden. Über 130 Prozent, gemessen an der der jährlichen Wirtschaftsleistung. In der Euro-Zone kommt nur Griechenland auf einen höheren Wert.
Schuld daran seien die früheren Regierungen, betont Matteo Salvini.
"Wenn die Staatsschulden, die wir unseren Kindern hinterlassen, auf einem historischen Höchstpunkt sind, dann hat jemand, der vor uns dran war, seine Arbeit nicht gut gemacht."
Womit er sicher Recht hat. Nur ob es richtig ist, in der aktuellen Situation noch weitere Schulden draufzusatteln, das ist die Frage, die inzwischen die gesamte Euro-Zone beunruhigt.
Die EU-Kommission hat sich für ein Defizit-Verfahren gegen Italien ausgesprochen. Jetzt geht es vor und hinter den Kulissen darum, die Kuh wieder vom Eis zu bekommen.
Denn trotz aller Warnungen vor neuen Schulden kann niemand abstreiten, dass in Italien etwas passieren muss. Das Land ist tief gespalten, nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Im Norden herrschen vielerorts Verhältnisse, die an die wohlhabenden Regionen Deutschlands erinnern. Der Süden dagegen kommt nicht auf die Beine. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt hier teilweise bei über 50 Prozent.

"Es werden keine Perspektiven aufgezeigt"

Paolo, der Video-Editor aus San Lorenzo, hat wenig Hoffnung für sein Land.
"Ich '92 geboren, bin also 25 Jahre alt und bisher habe ich noch keine Regierung erlebt, die irgendetwas geändert hätte - weder von links noch von rechts. Und Ihr in Deutschland und in Frankreich helft uns auch nicht wirklich, das Land voranzubringen. Nein, ich glaube also nicht, dass sich irgendetwas verändern wird."
Er selbst habe Glück gehabt, sagt er. Seine Eltern seien wohlhabend und hätten ihm eine teure Privat-Universität bezahlt. Das staatliche Bildungssystem habe dagegen große Defizite, bestätigen auch die Studentinnen Chiara und Giulia, die am Portal des Uni-Gebäudes in San Lorenzo zusammenstehen.
Chiara: "Wir sind auf einem eher altmodischen Stand geblieben. Kaum Didaktik. Alles sehr theoretisch. Es werden keine Perspektiven aufgezeigt. Alles steht in Büchern, keine Praxis. Nur Theorie, sonst nichts."
Giulia: "Die meisten Fakultäten bereiten die Leute nicht auf die Arbeit vor. Wir studieren Dinge, die uns nur auf eine weitere Ausbildung vorbereiten. Wir werden nicht für den Arbeitsmarkt qualifiziert.

Überbordende Bürokratie, marode Infrastruktur

Und so entsteht die paradoxe Situation, dass im Norden des Landes Tausende Facharbeiter gesucht werden, während in Rom fertig ausgebildete Ingenieure Taxi fahren. Das in Deutschland so erfolgreiche Duale Bildungssystem steckt in Italien bestenfalls in den Kinderschuhen. Und auch praxisnahe Studiengänge nach dem Muster von Fachhochschulen sind eine Seltenheit.
Zusätzlich leidet das ganze Land unter strukturellen Problemen. Viele Straßen, Brücken und Gebäude sind in desolatem Zustand. Gerichtsentscheidungen brauchen oft Jahre. Fast überall herrscht eine überbordende Bürokratie.
Italien ist das Land der Formulare, in dem man mit Gefälligkeiten leichter durchs Leben kommt, klagt auch Stefan Pollak, der Architekt aus San Lorenzo.
"Manchmal bekommt man schon sehr stark den Eindruck, dass das einfach Schikane ist, und dass, wenn man mit dem neuen iPhone antanzen würde und das auf dem Tisch liegenlassen würde, die Sache dann vielleicht doch ganz schnell klappen würde. Ich weiß es nicht ganz genau, weil ich mich nie dazu entschieden habe, das so zu machen. Ich habe dann immer auf die Zähne gebissen und manche Bauanträge sind dann sechs oder sieben Jahre da gelegen. Am Ende bekommt man die Unterlagen dann, wenn man auf der Seite des Rechts ist, aber man braucht viel Geduld."

"Die Politiker in Italien sind zum Kotzen"

Deutlich deftiger in seiner Einschätzung ist Franco Minotti, der regelmäßig im Altenzentrum von San Lorenzo Karten spielt. Die Rentner in Italien werden seit Jahren, beschissen, meint er.
Franco Minotti: "Die behandeln uns nicht gut. Die Politiker in Italien sind zum Kotzen, so wie in der ganzen Welt. Die Politik wird sich nie ändern. Denn die, die an der Macht sind, sind Schweine."
Stefan Pollak, der sein Viertel und die Italiener schon lange kennt, wundert sich über gar nichts mehr. Das Wahlergebnis sei absehbar gewesen.
"Irgendwann ging es nur darum, das alte System irgendwie abzuschalten und mit irgendwas Neuem zu ersetzen. Egal, mit was. Und in dieser kompletten Orientierungslosigkeit gab es schon auch viele, die sagten, okay, jetzt probieren wir mal was ganz anderes. Und dieses Was-ganz-anderes wurde eben von Leuten wie Salvini und der Fünf-Sterne-Bewegung angeboten. Ich kann es nachvollziehen, dass viele auf diesen Zug gesprungen sind."
So wird Italien jetzt von Politikern regiert, die gerne von sich behaupten, mit gesundem Menschenverstand an die Dinge heranzugehen. Das gilt vor allem für die Fünf-Sterne-Bewegung, die mit vielen jungen Abgeordneten im Parlament vertreten ist. Verbunden durch einen spürbaren Willen zur Veränderung.
Das Bild zeigt den milde lächelnden Di Maio vor einer kaminroten Wand.
Vom Gelegenheitsjobber zum Superminister: Luigi Di Maio.© abio Frustaci / Eidon/MAXPPP/dpa
Ihr Frontmann ist Luigi Di Maio, abgebrochenes Hochschulstudium. Lange Zeit hat er sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen, jetzt ist der 32-jährige italienischer Super-Minister für wirtschaftliche Entwicklung. Auf ihm ruhen die Hoffnungen von Millionen von Italienern. Sein Selbstbewusstsein ist riesig. Und wenn er Politik erklärt, klingt alles ganz einfach.
Luigi Di Maio: "Im kommenden Jahr schicken wir 500.000 Menschen früher in Rente. Dadurch bekommen wir 500.000 neue Arbeitsplätze für junge Italiener."
Das ist einer der Kernpunkte des Regierungsprogramms. Wirtschafts- und Finanzexperten wie Veronica De Romanis halten das für eine Milch-Mädchen-Rechnung.
"Wer meint, dass eine Staffelübergabe stattfindet, glaubt, dass der Kuchen immer gleich groß bleibt. Wenn einer ausscheidet, kommt der nächste. Tatsächlich müsste die Politik den Kuchen größer machen. Der Arbeitsmarkt muss wachsen. Wir brauchen mehr Leute, die in diesem Land produzieren. Mehr Junge, mehr Ältere und und vor allem mehr Frauen."

Befreiungsschlag lässt auf sich warten

Verglichen mit anderen europäischen Ländern sei die Beschäftigungsquote in Italien viel zu niedrig. Um die Lage wirklich zu verbessern, bräuchte das Land grundlegende Reformen: Entbürokratisierung, schnellere Justiz, ein moderneres Ausbildungssystem, die gezielte Förderung von Zukunftsindustrien und sinnvolle Infrastruktur-Investitionen. Nur dann hätte die gedrosselte Wirtschaft eine Chance, sich von der Banken- und Finanzkrise von vor zehn Jahren zu erholen.
Mit Baggern und Kränen werden Trümmerteile der teilweise eingestürzten Brücke in Genua weggeräumt.
Marode Infrastruktur: Mit Baggern und Kränen werden Trümmerteile der teilweise eingestürzten Brücke in Genua weggeräumt.© dpa-Bildfunk/ Xinhua / Zheng Huansong
Doch der nötige Befreiungsschlag lässt auf sich warten. Weil beispielsweise eine Justiz-Reform nicht über Nacht zu haben ist, werden Verjährungsfristen erst einmal verlängert.
Ähnlich die Situation beim geplanten Grundeinkommen, das durchaus sinnvoll sein könnte, wenn es mit Maßnahmen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt verknüpft wird. Wie das allerdings bei geschätzt fünf Millionen potenziellen Empfängern funktionieren soll, bleibt unklar. Auch, weil die Arbeitslosen vor allem in jenen Regionen sitzen, wo kaum Unternehmer investieren wollen.
All das ist in Italien kaum ein Thema. Stattdessen verbreitet die Regierung Hoffnung auf bessere Zeiten: Luigi Di Maio:
"Wir setzen auf 2019, da werden sich die Veränderungen der Reformen bemerkbar machen, die wir in den ersten fünf Monaten der Regierung angeschoben haben. Natürlich ist eine der wichtigsten Maßnahmen, die wir im Haushaltsplan vorgesehen haben, das Grundeinkommen."

"Wir werden von inkompetenten Menschen regiert"

San Lorenzo wäre nicht San Lorenzo, wenn sie dort großes Vertrauen in die Versprechungen der Politiker hätten. Renato Cimarelli hat hier als Wirt viel Geld verdient. Mit harter Arbeit, sagt er. 18 Stunden am Tag.
Renato Cimarelli: "Wir werden von inkompetenten Menschen regiert. Wer den Ton angibt, sollte vorher gearbeitet haben, um zu verstehen, was Arbeit bedeutet."
Die Mehrheit der Italiener will im Moment allerdings noch daran glauben, dass bald alles besser wird. Vor allem der starke Mann der Regierung, Innenminister Matteo Salvini, ist auf dem besten Weg, sich eine eigene Mehrheit zu erarbeiten.
Und so meinen viele politische Beobachter, dass er über das Ende dieser Regierung entscheiden wird. Dann nämlich, wenn er halbwegs sicher sein kann, die nächsten Wahlen alleine zu gewinnen.
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