Donnerstag, 28. März 2024

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Alain Platel auf der Ruhrtriennale
Schlafes Ungeheuer

Bereits zum vierten Mal ist Alain Platel zu Gast bei der Ruhrtriennale. Diesmal mit seiner Choreografie "nicht schlafen". Zu Kompositionen von Gustav Mahler geht es ihm dabei um Parallelen zwischen dem psychosozialen Zustand der vor dem Ersten Weltkrieg und unserer heutigen Zeit. "Nicht schlafen" ist dabei durchaus politisch gemeint.

Von Nicole Strecker | 02.09.2016
    Der Theaterregisseur Alain Platel 2015 in der französischen Botschaft in Brüssel, wo er mit dem Orden Commander in the Order of Arts and Literature ausgezeichnet wurde.
    Der Theaterregisseur und Choreograf Alain Platel. (Imago / Belga)
    Was mag es wohl sein, das Alain Platel so vergrätzt hat? Platel, den großen Philanthropen unter den Choreografen, der in seinen Stücken Glanz noch in die schäbigste Wellblech-Hütte zauberte und seine Menschen – die armselig-beladenen Erdenwürmer und Abgehängten der Gesellschaft – durch die Kraft der Kunst, vor allem der Musik verschönte. Seine bisherigen Abende zu Bach, Mozart, Monteverdi, zuletzt auch für Laienblasorchester waren traurig-zärtliche Mitleidsbekundungen mit den armen Sündern.
    Diesmal aber bekommen sie kaum mal Gelegenheit, sich aufzurichten, Hoffnung zu schöpfen. Das mag vielleicht daran liegen, dass die belgische Künstlerin Berlinde De Bruyckere ihnen eine drastische Skulptur auf die Tanzfläche gelegt hat: Drei tote Pferdekörper, übereinander geworfen zu einem Kadaverhaufen. Die Totenstarre spreizt ihnen obszön die Beine weg. Wie ein Mahnmal, moralisierend und beschämend. Denn wer, wenn nicht der Mensch, könnte die Tierleichen so würdelos aufgestapelt haben. Künstlerisch sind die superrealistisch aussehenden Tierimitationen also ein starkes Zeichen, da bleibt kein Raum mehr für den liebenswerten Kern im schändlichen Menschlein. Stattdessen zeigt Platel – offenbar auf Sigmund Freuds Spuren – was im Unterbewusstsein so alles gärt und giert, wo die Triebe wüten und der Schlaf der Vernunft Ungeheuer gebiert. Erst mal muss dafür die Kreatur aus der Hülle.
    Platels Tänzer, acht Männer und eine Frau, fallen übereinander her, zerren sich gegenseitig so lange an Hosen, T-Shirts, Hemden herum, bis die Kleidungsstücke zerreißen. Nackte, schweißglänzende Haut wird sichtbar, die Zivilisationshüllen bleiben als Fetzen auf der Bühne zurück. Ein Gewaltakt und zugleich ein ziemlich komischer Kampf mit Klamotte. Der Bühnenraum ist mikrofonverstärkt, was dafür sorgt, dass es ordentlich poltert und patscht, wenn die Körper kollidieren. Und was für Körper, was für ein bizarres Team hat Platel wieder mal zusammengewürfelt! Unterschiedliche Herkunftsländer, jeder mit einer Vielzahl von Körpertechniken im Leib. Etwa zwei muskelbepackt-gedrungene Athleten, die in einer Minisequenz eine aberwitzige Ballett-Breakdance-Fusion auf die Bühne schmeißen. Zwei spirrelige blonde Jünglinge, die sich zu einer Körperskulptur auf dem Boden drapieren, mit ihren skelettös-aufgebogenen Brustkörben sehen sie aus wie auf den männlichen Aktbildern von Egon Schiele. Immer wieder Bilder von naiv-gewissenloser Grausamkeit, animalisch-erotikfreies gegenseitiges Betatschen, lächerliche Männlichkeit.
    Und wie immer bei seinen Tanzstücken zur Musik aus dem Klassik-Kanon sucht Choreograf Platel die eigenwillige Abgrenzung. Diesmal begleiten etwa Sounds von schlafenden Schweinen Gustav Mahlers Naturidylle, ein friedvolles Schnorcheln und Schmatzen. Und statt Mahlers folkloristischen Zitaten, toben sich zwei kongolesische Tänzer-Sänger mit einem Pygmäen-Song auf der Bühne aus.
    Das alles ist natürlich erfreulich merkwürdig, aber doch kaum mehr als Attitüde. Denn seine freudianisch Trieb-Brutalisierten taumeln auf Dauer ziemlich auf der Stelle, ihre amoralische Einfalt verweist auf nichts. Will man Platels Interpretationsvorgabe folgen, so war es vor allem die Vorkriegsepoche, Gustav Mahlers Ära und die Zeit von Freud, Schiele, Nietzsche, die ihn für seine Auseinandersetzung mit dem Wiener Komponisten inspiriert hat. Aber auf eine greifbare historische Einordnung verzichtet Platel dann doch lieber im Stück. Wo Mahler in Erlösungshoffnungen schwelgt, hält Platel dagegen mit seinen grotesk-verzerrten, verrohten Körpern, die nicht zu wissen scheinen, was sie tun. Als wollte er Mahler zeigen, dass auch seine Utopie letztlich nur in Zerstörung enden konnte - die Weltkriege haben die Kunst desillusioniert. Platel also mal nicht als Mitleidpriester und Schmerzensmann, sondern gallig und sarkastisch. Steht ihm nicht so richtig gut.