Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Alaskastraße

Von Albert Camus stammt das Bekenntnis, seit jeher habe er mit allen seinen Kräften versucht, ein Niemand zu sein. Diese Lust an der Selbstannihilierung findet man in vielen Spielarten des Existenzialismus, woran auch österreichische Schriftsteller kräftig mitgewirkt haben. Nun hat der gerade mal 26jährige Wiener Autor Xaver Bayer mit seinem zweiten Buch einen rabenschwarzen, negativen Entwicklungsroman vorgelegt – eine Reise in die Abgründe des Ich, in die große Welt-Verweigerung, und schließlich in die Selbstvernichtung.

Michael Braun | 22.08.2003
    Man darf es als genuin österreichischen Existenzialismus interpretieren, wenn hier ein Romanheld aus seinem Lebensekel die Konsequenzen zieht und entschlossen daran arbeitet, das eigene Verschwinden zu organisieren. Die Todesverfallenheit hat dieser Protagonist von Thomas Bernhard geerbt, die Entfremdungs-Gefühle und die Traumata des Sprachverlusts vom jungen Peter Handke. Xaver Bayers Ich-Erzähler inszeniert wie weiland Handke einen langen Abschied, allerdings ohne einen kurzen Brief zu hinterlassen. Soeben hat er noch in einer Partnervermittlungsagentur erfolgreich die Liebeswünsche beziehungsunfähiger Singles befriedigt und mit Handy, schnittigem Mittelklassewagen, Freundin und moderatem Porno-Konsum sein Leben routiniert verwaltet. Aber plötzlich kommt ihm all diese luxuriöse Lebens-Selbstverständlichkeit abhanden – und er bricht alle Brücken zu seinem bisherigen Dasein ab. Er kündigt bei seiner Arbeitsstelle, animiert seine Freundin zu einem Inselurlaub, nur um sie angewidert im Stich zu lassen und zum letzten großen Abenteuer seines Lebens aufzubrechen: in die Einsamkeit.

    Am Ende fährt er mit dem Auto aus Wien hinaus, biegt irgendwo auf einen Feldweg ins Niemandsland ein. Ein rätselhaftes Holzschild mit der Aufschrift "Alaskastraße" verlockt den Sinnsucher zur Irrfahrt durch Felder und Wälder, bis er mit einem großen Tier kollidiert und das Fahrzeug an einen Baum prallt. In den letzten Szenen des Romans gelangt der solipsistisch eingekapselte Held in eine verfallene Hütte, wo er in einer Art Regressions-Rausch die gewaltsame Verschmelzung mit der Natur herbeizwingt, von Sprache und Bewusstsein befreit. Eine Robinsonade, wie sie zielloser kaum sein könnte.

    In seinem wütenden Nihilismus und seiner Radikalisierung des Ekels entwickelt Xaver Bayers Held weit mehr Weltbewusstsein als seine schnöseligen Generationsgenossen aus dem literarischen Pop-Sektor. Für diesen welt-verneinenden Nachfahren des jungen Peter Handke stellen sich keine Sekunden "wahrer Empfindung" mehr ein, sondern nur noch ein universell gewordener Ekel, ein alles überstrahlender Hass, der zum "großen muskulösen Freund" des Erzählers wird. Und doch gelingen diesem Erzähler Sätze von einer Intensität, wie sie in der jungen Literatur dieser Tage kaum anzutreffen sind. Mit der Zwanghaftigkeit seiner Wahrnehmungen und seiner fortschreitenden Panik, die Sprache zu verlieren, steigert sich auch die Aggressivität des Erzählers. Die Sexualität z.B. offenbart – wie übrigens auch in Handkes "kurzen Brief zum langen Abschied" – ihre hässlichste, gewalttätigste Seite: Sein erigiertes Glied empfindet der Mann als "eine auf sie zeigende Waffe"; später versucht er sein Genital mit Hakenkreuzen zu ornamentieren.

    Die Natur-Raserei am Ende repräsentiert schließlich die verzweifelte Suche des Helden nach Erlösung: "Mit der Zeit", so prognostiziert der Held seine Ich-Vernichtung, "werde ich mich in die Landschaft einkrümmen, mich mit der Landschaft verschränken, ....und dann werde ich nicht mehr nur von Blick zu Blick existieren, sondern vor Leben dampfen wie ein Böser." In seiner halluzinatorischen Wahrnehmung glaubt er am Ende tatsächlich, das "dampfende Leben" erreicht zu haben. Eingetaucht ist er aber nur in die irrlichternde Welt des Wahns.