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Albert Vigoleis Thelen

Einen "Freigeist, Schöngeist und Weltgeist" nennt der thüringische Dichter Ulrich Holbein Albert Vigoleis Thelen in seiner "Quastenflossen-Tomographie", einer liebevoll-kauzigen literarischen Annäherung, abgedruckt im 199. Band der Literaturzeitschrift "die horen", der dem Dichter und Übersetzer Albert Vigoleis Thelen gewidmet ist. Jürgen Pütz, ein ausgewiesener Thelen-Kenner, und Johann P.Tammen haben darin bisher unveröffentlichte Gedichte, Prosatexte und Briefe Thelens, Rezensionen und Erinnerungsberichte von Zeitgenossen, literarische Würdigungen und Essays, ergänzt durch eine große Anzahl bisher unveröffentlichter Fotos zu einem ansehnlichen Band zusammengestellt, der dem Geehrten zu voller Ehre gereicht.

Cornelia Staudacher | 16.05.2001
    Einen "Freigeist, Schöngeist und Weltgeist" nennt der thüringische Dichter Ulrich Holbein Albert Vigoleis Thelen in seiner "Quastenflossen-Tomographie", einer liebevoll-kauzigen literarischen Annäherung, abgedruckt im 199. Band der Literaturzeitschrift "die horen", der dem Dichter und Übersetzer Albert Vigoleis Thelen gewidmet ist. Jürgen Pütz, ein ausgewiesener Thelen-Kenner, und Johann P.Tammen haben darin bisher unveröffentlichte Gedichte, Prosatexte und Briefe Thelens, Rezensionen und Erinnerungsberichte von Zeitgenossen, literarische Würdigungen und Essays, ergänzt durch eine große Anzahl bisher unveröffentlichter Fotos zu einem ansehnlichen Band zusammengestellt, der dem Geehrten zu voller Ehre gereicht.

    An einen Quastenflosser erinnert sie in der Tat, die ausladende Kinnpartie des Dichters, die seinem Gesicht etwas Energisches gibt und zugleich Ausdruck seines zu grüblerischem Weltschmerz neigenden Wesens ist. Vigo, Vigolo, Don Vigoleis Thelen war ein widersprüchlicher, nicht leicht zu fassender Charakter: Ein Außenseiter und Sonderling, introvertiert und unzugänglich, ein skeptischer Humorist und pikaresker Moralist, ein glühender Pazifist und Streiter für Recht und Gerechtigkeit. Und ein manischer Vielschreiber, ein Magier der Sprache und Sammler versunkener Wörter, der sich vom offiziellen Literaturbetrieb geflissentlich fernhielt. "Fingerübungen eines Sehgestörten" nannte er in kauzigem understatement seine Schriftstellerei, die er am liebsten im kleinen Kreis vor einem ausgewählten Publikum vortrug.

    Sein überbordender, mäandernder Sprachduktus polarisierte die Leser. Der 1953 erschienene Roman "Die Insel des zweiten Gesichts" wurde von den einen in den Kanon der Weltliteratur eingereiht und mit Cervantes' "Don Quichote" verglichen, von den anderen als zu weitschweifig, blumig und altertümelig abgelehnt. Zu letzteren gehörte auch Hans Werner Richter, der Thelens Text bei der Herbsttagung der Gruppe 47 im Oktober 1953 in Bebenhausen mit dem Verdikt abkanzelte, hier handele es sich um "Emigrantendeutsch" - für Thelen eine unvergessliche Kränkung, Über die er noch Jahrzehnte später in geharnischte Wut geriet.

    Sein langes Emigrantendasein begann 1931, als er in weiser Voraussicht der bevorstehenden politischen Entwicklung in Deutschland mit seiner Frau Beatrice nach Mallorca ging, um der "Verherdung eines ganzen Volkes unter einem blökenden Leithammel" zu entkommen. Es folgten Jahre in Portugal, Holland und der Schweiz. Als Staatenloser kehrte er am Ende seines Lebens nach Deutschland zurück. Die letzten drei Jahre verbrachten er und Beatrice in einem Seniorenheim im nieder-rheinischen Dülken, wo er 1989 starb. Im ehrwürdigen Alter von 85 Jahren, obwohl er in seinem von Höhen und Tiefen gezeichneten Leben literarisch etliche Tode gestorben und sich mit sarkastischem Witz darüber auszulassen geübt war:

    An meinem Grabe will ich keine Tränen, die hab ich alle selber schon geweint, um gegen eine Welt mich aufzulehnen, die ich en gros, nicht en detail verneint.

    Ich bin nicht, was sie nennen lebensmüde, auch Schopenhauer ist nicht mehr mein Fall. Ich mach aus meiner Weltschmerzattitüde kein pessimistisch Lebensideal.

    Zwar hab ich dreimal mich entleiben wollen und ging dabei dreimal verflucht nicht drauf. Als Todverächter leb ich aus dem Vollen - ich war gefeit und gab es schließlich auf.

    Legt mich ins Grab, so wie der Tod mich antrifft, mit Schlips und Schluffen, wenn es ihm gefällt. Blutüberströmt, wenn mich der letzte Bann trifft im Autorasen einer Großstadtwelt.

    Kein Leichenhemd! Ich muss mich drauf versteifen, und dito Waschung: einfach abgeschmackt, noch an dem toten Fleisch herumzuseifen, bevor man's zünftig in die Kiste packt.

    Wenn ihr den Herzstich scheut, so schlagt doch eben den Kistendeckel doppelreihig zu, denn sollte ich den Scheintod noch erleben, dann gibt der Nägelmehrverbrauch die sichre Ruh.

    Mit Seelenmessen soll man mich verschonen. Wer Francos heiligen Krieg gesehen hat, sieht nicht mehr Gott in Gotteshäusern wohnen..... nun hat mein Stundenbuch ein leeres Blatt.

    Zu all den leeren mehr. Ach, Beatrice, auch du hast meine Seiten nicht gefüllt. Es füllt sie keiner, Buddha nicht noch Nietzsche, bevor das große Dunkel mich umhüllt.

    Das nackte Nichts der schwarzen Ewigkeiten, der vollen Schöpfung leere Gegenwelt, die allen göttlichen Gewordenheiten im Gegengöttlichen die Waage hält.

    In einer Mixtur aus Hohn, Spott und herausgeprustetem Sarkasmus hatte er vom fernen Spanien aus die Entwicklung im Deutschland der dreißiger Jahre kommentiert. Er rezensierte Exilliteratur für eine holländische Zeitung und nahm Exilanten auf, die nach 1933 aus Deutschland fliehen mussten. Dabei wurden er und Beatrice selbst beschattet und entgingen bei Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs nur knapp der Verhaftung durch die Falangisten. In einer Nacht- und Nebelaktion flüchteten sie Über Marseille in die Schweiz. 1939 flohen sie vor den Nachstellungen der Gestapo nach Portugal. Hier beginnt der Roman "Die Gottlosigkeit Gottes oder das Gesicht der zweiten Insel", der dritte Teil der "Angewandten Erinnerungen" Thelens, der von voreiligen Nachlaßverwaltern vernichtet worden ist. Erhalten geblieben sind die ersten Kapitel des Romans als Mitschnitt einer Lesung im November 1966 im Haus von Freunden in Neu-Isenburg. Darin schildert Thelen die Einreise nach Portugal in bewährt pikaresker, detailliert ausformulierter Manier:

    Unser Zug setzte sich in Bewegung.... er kroch zu Kreuz der Vigoleus.

    Bis 1947 lebten Vigoleis und Beatrice auf einem der Weingüter des portugiesischen Dichters und Mystikers Teixeira de Pascoaes - im "Schloß-Exil", wie er es schwelgerisch nannte, denn es war dank der Großzügigkeit de Pascoaes' eine wohltuende Zeit des stets am Existenzminimum lebenden Paares. Thelen Übersetzte mehrere Werke de Pascoaes' ins Deutsche und Holländische und bemühte sich in aufopferungsvoller Weise um Veröffentlichungsmöglichkeiten des von ihm hochverehrten Dichters. Darüber und Über die enge Seelenverwandtschaft der beiden gibt ein Band mit 116 Briefen Auskunft, die Thelen im Zeitraum zwischen 1935 und 1952, dem Todesjahr de Pascoaes', an diesen geschrieben hat. 1935 war er von seinem mallorquinischen Freund Pedro Sureda auf de Pascoaes' Biographie des Apostel Paulus, "Sao Paulo", aufmerksam gemacht worden, worin de Pascoaes das Idealbild eines an die Ursprünge aller Religiosität zurückführenden Christentums entwirft. Nach der Lektüre des Buches setzte er sich mit dem Dichter in Verbindung und bat um die Erlaubnis, seine Werke Übersetzen zu dürfen, die ihn in einzigartiger Weise anrührten: Es gibt wenige Dichter ,schreibt Thelen am 21.6.1937 aus Reinach, seinem vorübergehenden Schweizer Exil, an de Pascoaes, die ihren Leserfreunden eine solche inbrünstige und gerechte Apologie widmen können, die zugleich und schon an sich eine neue Schöpfung voller origineller Ideen und geistreicher Apercus darstellt! Ich habe es nachts im Bett gelesen, in einem Zug, und die Lektüre hat mir eine große Seelenfreude bereitet. Wehe den Rationalisten! Ihnen muss die teixeirinische Vorstellung vom Universalen Menschen nicht allzusehr gefallen! Bedeutsam ist, dass Sie als Dichter auf dichterische Art jene Entdeckungen im voraus erfasst haben, die die reine Philosophie mit kaltem Verfahren gefunden und formuliert hat - wehe den deutschen Philosophen! Mir tut leid, dass Sie so wenig Leuten in Europa bekannt sind.

    Und wenig später: Wenn doch die portugiesische Regierung sagte: Wir geben diesem Thelen einen Monatslohn, und er Übersetzt uns das gesamte Werk von Pascoaes zur größeren Ehre des Lusitanerlandes und zur höheren Bildung der Geister auf Erden...

    Dazu ist es, wie wir wissen, nicht gekommen. Wie Thelens Romane, Erzählungen und Gedichte sind auch die Werke Teixeira de Pascoaes' nur einem begrenzten Kreis von Lesern bekannt. Den Zauber und geheimnisvollen Reichtum, den Thelen im de Pascoaes'schen Werk fand, führte er nicht zuletzt auf die "Saudade" zurück, der in der Seele der Portugiesen tief verankerten Sehnsucht ins Unendliche, die, wie Thelen hinzufügt: auch in mir wirkt und mich melancholischer macht, als ich eigentlich bin.

    Aber das ist nur eine von vielen Übereinstimmungen. Wie de Pascoaes ist auch Thelen, der "Dichter der Weltliteratur von Übermorgen", wie Jürgen Pütz nicht müde wird, ihn zu nennen, mit seiner intuitiven, dem Leben nachempfundenen Mischung aus Sinn und Unsinn, Witz und Aberwitz, Erhabenem und Gemeinem, Lautem und Leisem nicht bereit, Leben und Literatur voneinander zu trennen, denn, so schreibt er, Pascoaes zitierend:

    ...es gibt keine Trennlinie zwischen Autor und Person. Wo sich der eine irrt, trifft auch der andere nicht das Richtige.

    Literatur:

    1. Lauter Vigoleisiaden oder der zweite Blick auf Albert Vigoleis Thelen. Band 199 der Literaturzeitschrift "die horen", zusammengestellt von Jürgen Pütz. Redaktion: Johann P.Tammen. Edition die horen im Wirtschaftsverlag für neue Wissenschaft, 440 Seiten, DM 28,-

    2. Albert Vigoleis Thelen liest "Die Gottlosigkeit Gottes oder Das Gesicht der zweiten Insel". Originalaufnahme von 1966. Edition die horen im Wirtschaftsverlag für neue Wissenschaft, 2. CDs, DM 49,90

    3. Albert Vigoleis Thelen, Briefe an Teixeira de Pascoaes. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Antonio Candido Franco. Aus dem Spanischen und Portugiesischen übersetzt von Ulrich Kunzmann. Weidle Verlag, Bonn 2000. 158 Seiten, DM 38,-