Samstag, 20. April 2024

Archiv

Alessandro Baricco
"Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur"

Die kulturellen Auswirkungen der Globalisierung beleuchtet der internationale Bestsellerautor Alessandro Baricco. Die Akteure sind für ihn Barbaren, die Orte der klassischen, bürgerlichen Kultur plündern.

Von Wolfgang Stenke | 13.08.2018
    Buchcover: "Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur" von Alessandro Baricco, Hoffmann und Campe Verlag, Hintergrundfoto: Große Hand mit Binärcode greift nach kleinem Mann.
    Die sogenannten Barbaren sind die zentrale Textmetapher im neuen Buch des Bestseller-Autors Alessandro Baricco. (Buchcover: Hoffmann & Campe Verlag / Hintergrundbild: imago/Ikon Images)
    Wer Metaphern liebt und in der Hauptsache unterhalten werden möchte, wird bei Alessandro Baricco, einem in Turin geborenen internationalen Bestsellerautor, auf seine Kosten kommen. Wer Metaphern nicht liebt, wird schnell genervt sein von der unscharfen und vor allem auch entpolitisierenden Bildhaftigkeit seines Denkens.
    Der Autor hat sich in seinem Essay über die Kultur in Zeiten der Globalisierung den Kopf zerbrochen. Seine Hypothese: Wir befinden uns mitten in einem gemeinhin negativ konnotierten epochalen Wandel, der aber vergleichbar dem sei, was Aufklärung und Romantik für die Entstehung der bürgerlichen Kultur waren.
    "Alle spüren, dass eine unbegreifliche Apokalypse kurz bevorsteht. Und überall läuft dieses Gerücht um: Die Barbaren kommen."
    Was die Globalisierung mit der Kultur macht
    Die sogenannten Barbaren sind die zentrale Textmetapher. Deren Bezugsobjekt ist schillernd: die Globalisierung, das us-amerikanische Imperium, die Kulturindustrie, die entfesselten Märkte, eine bestimmte Logik. Anhand unterschiedlicher Beispiele untersucht Baricco, wie die Barbaren verschiedene Orte der westlichen, klassischen, bürgerlichen Kultur bereits geplündert hätten, nämlich den Wein, den Fußball und die Bücher, wobei er die ersten beiden zu "entlegenen Dörfern" zählt und letztere zur "Hauptstadt" erklärt.
    Bürgerliche Kultur versus kulturindustrielle Barbarei
    Den Sieg der Barbaren auf dem Feld der Literatur kommentiert der Autor so:
    "Die Weltsprache bildet sich heute zweifellos in den Massenmedien, im Kino, in der Werbung, in der Unterhaltungsmusik. Es ist eine Sprache des Imperiums, eine Art Latein, die überall in der westlichen Welt gesprochen wird. Die Barbaren nehmen sich der Bücher an [...], aber einen Wert besitzen für sie nur die Bücher, die in dieser Sprache geschrieben sind. Denn dann sind sie keine Bücher mehr, sondern Teile einer weiter reichenden, mit den Buchstaben des Imperiums geschriebenen Sequenz, die vielleicht im Kino anfing, durch ein Liedchen hindurchging, im Fernsehen ankam und sich dann im Internet ausbreitete. Das Buch an sich ist kein Wert: Der Wert ist die Sequenz."
    In Google, dem "Feldlager" der Barbaren, sieht Baricco dann deren Logik par excellence am Werk: eine Internet-Suchmaschine, die als beste Seite diejenige anzeigt, "die in einer Sprache, die der größte Teil der Menschheit verstehen kann, das sagt, was der Wahrheit am nächsten kommt."
    20.03.2018, Hamburg: Eine junge Frau schaut vor einer Pressekonferenz zur Google Zukunftswerkstatt Hamburg in eine VR-Brille von Google. Lehrer und Schüler, Berufstätige und Gründer sollen bei Google in Hamburg fitter für die Codes und Digitalisierung von Morgen werden.
    Google Zukunftswerkstatt Hamburg im März 2018 (dpa / Christian Charisius)
    Waren Erfahrung oder Wahrheit in der klassischen Kultur noch das Resultat einer mühsamen Durchdringung eines abgegrenzten Wirklichkeitssausschnitts, so sind Erfahrung oder Wahrheit heute, dem Autor zufolge, etwas ganz anderes, nämlich "eine Bewegung, die unterschiedliche Punkte im Raum der Wirklichkeit miteinander verkettet."
    Baricco sieht diese neue Form des Erfahrens im Surfen und Multitasking bestätigt, wobei der Clou seiner Erörterung schließlich der ist, dass wir alle längst von den Barbaren "angesteckt" worden seien.
    "Wir sind Mutanten, alle miteinander, manche weiter entwickelt, andere weniger."
    Baricco, Vordenker der Barbaren
    Dass als Gewährsmann für die so genannte "Mutation" immer wieder Walter Benjamin herhalten muss, tut weh.
    "Benjamin versuchte nicht zu verstehen, was die Welt war, sondern immer, was die Welt bald werden würde. Was ihn an der Gegenwart faszinierte, waren die Anzeichen für Mutationen, die diese Gegenwart auflösen würden [...] Von Baudelaire bis zur Reklame - alles, worüber er sich beugte, wurde zur Prophezeiung einer zukünftigen Welt und zur Ankündigung einer neuen Kultur."
    Walter Benjamin, der deutsche Philosoph, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einem materialistischen Geschichtsverständnis ausgehend u.a. Konstellationen in der Vergangenheit untersuchte, um in der Gegenwart zukünftige Möglichkeiten für das unvollendete Projekt der Emanzipation aufzuspüren, hat mit Baricco nichts zu tun. Von Benjamin als geschichtsphilosophischem Denker und seinem Projekt ist im vorliegenden Essay auch nirgendwo die Rede; dabei wäre es dringend nötig, darüber wieder nachzudenken. Baricco aber hat sich längst auf den Weg gemacht, zum massentauglichen Vordenker der Barbaren zu werden.
    "Jeder von uns ist dort, wo alle sind, am einzigen Ort, den es gibt, mitten im Strom der Mutation, wo wir das, was wir kennen, Kultur nennen, und das, was noch keinen Namen hat, Barbarei. Im Unterschied zu anderen denke ich, dass es ein wunderbarer Ort ist."
    Alessandro Baricco: "Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur",
    Hoffmann & Campe, 224 Seiten, 20 Euro.