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Alessandro Gallenzi: "Irgendwohin"
Das Leben, eine Netzkarte

In seinem Roman "Irgendwohin" taucht der Autor und Verleger Alessandro Gallenzi in die handylose Vergangenheit ein, als das InterRail-Ticket Westeuropas Jugend grenzenlose Freiheit versprach. Als Verleger ist Gallenzi eher für sperrige Kost bekannt - sein Roman beweist aber: Mit dem Unterhaltungsfach hat er auch kein Problem.

Von Nils Kahlefendt | 26.02.2016
    Ein junger Mann mit Zigarette schaut aus einem Zugfenster
    Ein junger Mann mit Zigarette schaut aus einem Zugfenster (imago / UIG)
    Der Typus des bienenfleißigen schreibenden Verlegers, hierzulande verkörpert etwa von Michael Krüger oder seinem Nachfolger Jo Lendle, ist auch auf der britischen Insel anzutreffen: Während eben der erste Roman des aus Italien stammenden Autors und Übersetzers Alessandro Gallenzi auf Deutsch erschienen ist, erlebte der Verleger Gallenzi gerade sein bislang erfolgreichstes Jahr: Alma Books, 2005 gemeinsam mit seiner Ehefrau Elisabetta Minervini gegründet, wurde 2013 zum "Independent Publisher of the Year" gekürt.
    "In Großbritannien wird man als schreibender Verleger nicht sonderlich ernst genommen; im restlichen Europa ist es eher akzeptiert. Denken Sie an Leute wie Roberto Calasso, ein fantastischer Verleger und ein ebenso begnadeter Autor. Oder gar an Dickens, an Dostojewski ... Ich weiß nicht, wie gut ich als Schriftsteller bin. Aber es ist das, was mich dazu brachte, Verleger zu werden: Ich liebe es, zu schreiben, ich liebe es, Bücher um mich zu haben."
    In Konflikte mit dem Verlegerjob gerät Gallenzi durch seine Schreibleidenschaft kaum; zumindest weicht er ihnen elegant aus.
    "Ich versuche, fatalistisch an die Sache ranzugehen. Ich will eigentlich nur schreiben, wenn ich Freude dabei habe. Ich muss nicht 500 oder 1000 Wörter am Tag schreiben, diese Art von Druck habe ich nicht. Auch Virginia Woolf, die Gründerin der Hogarth Press, hat so begonnen - und dann tippte sie ihre Bücher, Buchstabe für Buchstabe; für sie eine kathartische Erfahrung. So versuche ich's auch zu halten. Ich kann allerdings nicht schreiben, wenn ich gerade andere Bücher lektoriere. Aber ich kann die Wochenenden und Abende nutzen, um Zeit für diese Passion zu finden, die mich seit Teenager-Zeiten umtreibt."
    Als InterRail die Europäer Europa entdecken ließ
    Die Arbeit an seinem ersten Roman "InterRail", der nun auf Deutsch unter dem Allerweltstitel "Irgendwohin" vorliegt, glich dabei selbst einer Reise. Die Urfassung schrieb Gallenzi bereits Ende der 90er-Jahre in seiner Muttersprache; für die englische Fassung überarbeitete er die Geschichte komplett. Obwohl sie Anfang der 1990er-Jahre spielt, führt sie in eine Epoche, die im Zeitalter von Billigflügen und Google Earth halbe Ewigkeiten her zu sein scheint. Der 1972 eingeführte InterRail-Pass sollte jungen Leuten im Zuge des aufkommenden Rucksacktourismus eine preisgünstige Möglichkeit bieten, Europa kennenzulernen. Millionen junger Backpacker quer durch alle sozialen Schichten kosteten so zum ersten Mal das süße Gefühl grenzenloser Freiheit - eine Erfahrung, die im 18. und 19. Jahrhundert noch Adels-Sprösslingen und den Söhnen des wohlhabenden Bürgertums auf ihrer "Grand Tour" vorbehalten war. Gallenzi:
    "Für jemanden, der nie aus seinem Land herausgekommen war, bot InterRail eine ähnliche Erfahrung - zu einer Zeit, in den frühen Neunzigern, als wir noch nicht von der modernen Technologie erdrückt worden sind. Damals mit 20, 21 Jahren allein unterwegs zu sein - das war vermutlich so, als wenn man heute durch den Urwald des Amazonas oder durch Afrika reist."
    Raus aus der Provinz
    Auch der Student Francesco will der engen elterlichen Wohnung in einem Provinzkaff nahe Rom entkommen. Ein festes Ziel hat er nicht. Beim ersten Halt auf dem Münchner Hauptbahnhof schubst ihn das Schicksal in Gestalt einer ungeduldigen Mitreisenden in die Arme von Pierre Cordiere - einem, wie sich herausstellt, brauseköpfigen Hochstapler, der in seinem Maserati vor gleich drei wütenden Frauen auf der Flucht ist. Zwischen haarsträubenden Abenteuern mit dem trotz gesperrter Kreditkarten auf der Überholspur des Lebens dahinrasenden Pierre schießt Francesco wie eine verrückt gewordene Billard-Kugel kreuz und quer durch Europa: Freundschaften mit Wildfremden, One-Night-Stands, reichlich Alkohol - heute hier, morgen fort. Wenn Alessandro Gallenzi seinen Helden atemlos zwischen den Zügen wechseln lässt, ist dies auch eine Metapher für ein Leben, in dem alles offen zu sein scheint:
    "Gleich am Anfang heißt es, dass, wenn Kleopatras Nase nur ein paar Zentimeter kürzer gewesen wäre, die Welt eine ganz andere geworden wäre. Blaise Pascal schrieb das in seinen 'Pensées' - und es stimmt in der Tat! Jeder Abzweig auf seiner Reise kann das Leben des Helden ändern, kann ihm eine komplett neue Richtung oder Gestalt geben. Ich glaube, es gibt eine Zeit in unserem Leben, in der wir noch offen für alles, noch nicht geformt sind. Wo jede kleine Entscheidung, die wir treffen, dramatische Effekte auslösen kann. Ohne dass wir das gleich mitkriegen. Aber es kommen andere Zeiten, in denen man in seinem eigenen Leben feststeckt, das sich wie von selbst um eine herum aufgebaut hat. [...] 'Irgendwohin' ist also auch ein Bild für die Lebensreise, für das, was in dieser besonderen Zeitspanne passiert, die wir 'Jugend' nennen - die nur dummerweise zu schnell vorbei geht."
    Lesespaß ohne große Nebenwirkungen
    Das Europa der frühen Neunziger bleibt in der an slapstikhaften Wendungen reichen Geschichte pure Kulisse: Stockholm wirkt "nüchtern und kalt", im morgendlichen Paris duftet es "nach starkem Kaffee und Croissants". Erst als Gallenzi seinen modernen Christoph Kolumbus nach gefühlten 500 Jahren wieder nach Genzano, in die elterliche Sozialwohnung, zurückkehren lässt, gelingen ihm atmosphärisch dichte Familienszenen: der ewig grantelnde Vater im Feinripp-Unterhemd, die gluckenhafte Mutter, im Schwarz-weiß-Empfänger die Lieblingsserie der Eltern: "Derrick". Gut möglich, dass Francesco selbst so ein Leben blüht. Gallenzi blendet vorher ab und beschert dem Leser ein märchenhaftes Happy End, das wir hier nicht verraten wollen. Alles in allem bleibt Alessandro Gallenzis Erstling hinter seinem zweiten Roman, der bereits 2010 erschienenen bitter-bösen Literaturbetriebssatire "Bestseller", zurück: ein Lesespaß ohne größere Risiken und Nebenwirkungen. Für den Autor, der sich als Verleger an eher sperrige Kost wagt, ist der Ausflug ins Unterhaltungsfach kein Problem. Im Gegenteil:
    "Ich liebe Highbrow-Literatur, das zeigen die Bücher, die wir in unserem Verlag herausbringen. Das ist anspruchsvolle Belletristik in allen Spielarten. Aber ich war immer der Überzeugung, dass Literatur schlussendlich auch unterhalten, nicht langweilen sollte. Ich sitze gerade an meinem dritten Roman, der sehr ernsthaft wird ... [Dabei lacht er]. Es macht Spaß. Aber es ist ein ziemlicher Sprung für mich: Das zweite Buch war eine Satire, 'Irgendwohin' ist eine Art 'Bildungsroman' mit einer Prise Humor. So versuche ich, mich in unterschiedlichen Stilen auszuprobieren und meinen Weg als Autor zu finden. Und dabei möglichst zu genießen, was ich tue; egal ob Schreiben, Übersetzen oder Verleger zu sein."
    Alessandro Gallenzi: "Irgendwohin"
    Übersetzt von Karl-Heinz Ebnet. Piper Verlag, München