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Alevitische Bestattung
Sehnsucht nach der reifen Seele

Aleviten sind zwar in Deutschland als eigenständige Glaubensgemeinschaft anerkannt, aber eigene Friedhöfe dürfen sie nicht unterhalten. Möglich sind jedoch Gräberfelder. Das erste wurde vor einem halben Jahr in Hamburg eröffnet, seit wenigen Tagen gibt es auch eines in Berlin.

Von Kemal Hür | 05.10.2016
    In einer evangelischen Friedhofskapelle in Berlin-Neukölln spielt ein Mann auf der türkischen Langhalslaute Bağlama ein alevitisches Lied. Im Anschluss spricht ein Geistlicher ein Bittgebet, in dem er die alevitischen Heiligen anruft, alle Menschen zu beschützen. Auf dem Sankt Thomas Friedhof eröffnet die Alevitische Gemeinde nach Hamburg bundesweit ihr zweites Gräberfeld. Auf einem 3000 Quadratmeter großen Grundstück gibt es Platz für 400 Gräber. Für den Generalsekretär der Berliner Aleviten, Kadir Şahin, ist es ein historisches und symbolträchtiges Ereignis.
    "Da wir noch nicht Körperschaft des öffentlichen Rechts sind, können wir noch keinen Friedhof selbständig betreiben. Aber ich denke, dass es ein schönes Zeichen ist an die Gesellschaft, und zwar dahingehend, dass die Aleviten Teil der hiesigen Gesellschaft sind, dass sie hier Wurzeln geschlagen haben und dass sie auch möchten, dass sie, ihre kommenden Generationen, ihre Kinder, Enkelkinder hier in ihrer neuen Heimat trauern können."
    Das Gräberfeld auf dem evangelischen Friedhof soll aber als alevitisch klar erkennbar sein. Dafür wird das Feld mit Symbolen des alevitischen Glaubens gestaltet werden. Am Eingang des langen rechteckigen Grundstücks wird ein Tor errichtet werden, sagt Kadir Şahin:
    "Man muss bedenken, im Alevitentum geht es nicht darum, sich vor der Hölle zu retten, oder ins Paradies zu kommen. Viel eher geht es darum, eine reife Seele zu entwickeln; eine Seele, die sich von allen negativen Trieben, wie Wut, Zorn, Eifersucht, Hass befreit hat und mit dem göttlichen Kern, das jedem Menschen innewohnt, eins wird. Das ist der Hauptbestand des alevitischen Glaubens. Genau das wollten wir dort darstellen"
    Die alevitische Glaubenslehre ist ein Weg zur Vervollkommnung des Menschen. Auf diesem Weg muss jedes Individuum vier Tore und vierzig Pforten durchschreiten. Hölle oder Paradies existieren nicht. Alevitische Friedhöfe in der Türkei sind als solche kaum zu erkennen. Denn der türkische Staat lehnt die Aleviten als eigenständige Glaubensgemeinschaft ab. Die Gestaltung eines alevitischen Friedhofs ist für die Gemeinden in Deutschland ein Novum. Im Unterschied zu den Friedhöfen in der Türkei soll das Gräberfeld in Berlin eigene Symbole bekommen. Neben einem Tor und vier Säulen sollen im Eingangsbereich, unmittelbar hinter dem Tor, je zwölf Gräber zwei Kreise bilden, sagt der 29-jährige Lehrer und Generalsekretär Kadir Şahin. Die Gräber sollen nicht Richtung Kaba ausgerichtet sein wie bei den Muslimen.
    "Bei uns Aleviten ist es so, beim Gebet richten wir uns nicht Richtung Kaba, sondern die Menschen sitzen im Kreis und verbeugen sich vor dem Menschen. Denn wir sagen, wenn der Mensch den göttlichen Kern in sich trägt, dann ist es nur fair, wenn die Menschen sich voreinander verbeugen und nicht Richtung Kaba. Und da haben wir zu Beginn – leider können wir das nur am Anfang des Gräberfeldes machen, weil wir sonst viel Platz verlieren – die Grabfelder im Kreis angeordnet, so wie wir auch beten."
    Das Alevitentum erlebt in Deutschland und Europa eine Renaissance. In der Türkei, der Heimat der Aleviten, wurde der Glaube jahrhundertelang bekämpft. Zehntausende Aleviten wurden von der Osmanischen Herrschaft bis heute mehrfach Opfer von Pogromen. In Deutschland wurden sie in einigen Bundesländern als Glaubensgemeinschaft anerkannt und dürfen erstmals in ihrer Geschichte seit 2002 alevitischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen anbieten. Endlich können die Aleviten auch ihre Toten entsprechend den Riten ihres Glaubens beisetzen, sagt der Vorsitzende des Geistlichen Rates in Berlin, Ercan Yıldız.
    "Noch vor etwa zehn Jahren wurden für unsere Beisetzungszeremonien islamische Begriffe verwendet. Jetzt benutzen wir selbstverständlich die richtigen alevitischen Bezeichnungen. Wenn Sie sich die Geschichte anschauen, stellen Sie fest, alle Herrscher haben versucht, die Aleviten muslimisch zu assimilieren. Wir arbeiten hier daran, dass wir uns auf unsere eigenen Riten und Gebräuche zurückbesinnen und sie wiederbeleben."
    Die islamischen Begriffe haben sich im alltäglichen Sprachgebrauch der Aleviten festgesetzt, weil sie Teil der türkischen Sprache sind. Daher kommt den geistlichen Oberhäuptern der Aleviten eine große Verantwortung zu. Sie müssen der Trauergemeinde die Bedeutung des Todes richtig erklären, sagt der oberste Geistliche der Alevitischen Gemeinde in Berlin. Die Aleviten glauben an die Seelenwanderung, sagt Ercan Yıldız.
    "Im alevitischen Glauben spricht man nicht vom Tod, sondern von der Wanderung zur göttlichen Wahrheit. Wir sprechen von der Erneuerung der Hülle. Der Körper geht zur Erde. Die Seele gelangt zur göttlichen Wahrheit."