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Alexander Goldstein: "Denk an Famagusta"
In der Wunderkammer der Erinnerungen

Die aserbaidschanische Hauptstadt Baku zu Zeiten der Sowjetunion liefert den Hintergrund für den Roman "Denk an Famagusta" von Alexander Goldstein. Es ist ein lebenspralles Buch, das sich aber auch nicht für die tristen und deftigen Niederungen der sowjetischen Zivilisation zu schade ist.

Von Brigitte van Kann | 03.10.2016
    Die Altstadt der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku mit Minaretten liegt vor dichtbebauten neuen Hochhäusern.
    Das Zentrum von Baku: Im Vordergrund die Altstadt der Kaukasusmetropole. Sie ist Schauplatz des Romans "Denk an Famagusta". (Deutschlandradio / Sven Töniges)
    Was für ein ozeanisches Buch! Oder sollte man es besser "mäandernd" oder "labyrinthisch" nennen? Ohne die Anmerkungen der Übersetzerin wäre der Leser hier wohl verloren. Aber der Reihe nach: "Denk an Famagusta", so erfährt der Leser in einer Vorbemerkung des Autors, sagen die zypriotischen Griechen, seit die Türkei Anfang der 1970er-Jahre fast die Hälfte der Insel und damit auch die legendäre Hafenstadt Famagusta eroberte. Sie sagen es, um die Tatsache der Besatzung und Teilung ihrer Insel nicht zu vergessen. "Für die Literatur" findet Alexander Goldstein, sei das Nicht-Vergessen eine, wie er schreibt, "außerordentlich wichtige Idee". Sein Romantitel "Denk an Famagusta" ist Motto und Konzept seines Erzählens.
    Goldsteins Roman ruft die Erinnerung an das untergegangene Sowjetimperium auf, jenen gewaltigen Raum – ein Sechstel der Erde – mit seinen zahllosen Völkerschaften, Kulturen und Religionen und dem spezifisch Sowjetischen, das sie alle – oft gewaltsam – verband. Bewusst nimmt der Autor das Riesenland nicht vom Zentrum aus in den Blick, sondern vom Rand – von Baku, der Hafenstadt am Kaspischen Meer, die reich wurde durch das vor ihren Toren sprudelnde Erdöl und die einem bunten Gemisch von Völkern, ihren Göttern und Dichtern freimütig Obdach und Brot bescherte. Tief taucht Alexander Goldstein in die historischen Sedimente ein, wirbelt sie auf und macht sie erzählbar, indem er sie in verschwenderische Prosa verwandelt:
    "Die berühmt-berüchtigte Kommune, die die Umgestaltung ernsthaft anging, hatte Schwung, Überzeugungen, organisatorisches Pathos, sie usurpierte rasch – so schnell, wie man Losungen ausgibt – die zentralen Gebäude der Stadt und setzte dort Leute mit akkuratem Haarschnitt, Scheitel und Schnurrbart hin, Schreiber, Fräuleins in Blusen und Plisseeröcken, Stenografinnen, Telefonistinnen (...), junge Vermittlerinnen der roten Vorherrschaft, und nur dem Erdöl, das sich als fette Beute in den großen Topf der Expropriation ergoss, war erlaubt, seine Farbe nicht zu wechseln."
    Goldstein nimmt die Zuhörer in die Pflicht
    Hier ist die Rede vom Beginn der Revolution in Aserbaidschan, bis die Sowjets das Land 1920 in ihre Gewalt brachten und 1922 in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken eingliederten. Nur selten zieht Alexander Goldstein zur Orientierung des Lesers eine Jahreszahl ein – wer es genau wissen will, muss in die Anmerkungen schauen. Unmissverständlich macht der Autor klar, was er von einer "ordentlichen" Geschichtsschreibung in der Literatur hält:
    "Ich bin absolut kein Historiker, vielleicht bringe ich etwas durcheinander, in meinem löchrigen Kopf geht alles drunter und drüber, löffeln Sie den Brei der Chronologie doch selber aus."
    Welches der verschiedenen "Ichs" des Romans gerade am Zug ist, lässt sich nicht immer leicht erkennen – eine kleine Unaufmerksamkeit, und man hat den Spurwechsel zum nächsten Erzähler verpasst. Alexander Goldstein nimmt die Zuhörer seiner Personen und damit auch uns Leser in die Pflicht: Lauschen und Lesen sind hier nicht zu trennen, beides ist integraler Bestandteil dieses vielstimmigen Gefüges aus Lebensberichten und Erinnerungen Einzelner. "Denk an Famagusta" ist eine große, multiperspektivische Erzählung erlebter Sowjetgeschichte mit ihrer Gewalt, ihren grandiosen Momenten, ihren Nischen und nicht zuletzt ist das Buch ein Archiv sowjetischer Alltagskultur.
    Von Nikolaj Gogol hat Alexander Goldstein den virtuosen Trick übernommen, aus Wörtern lebendige Figuren zu generieren. Er erlaubt seinen Erzählern die tollsten Abschweifungen, gern kommen sie vom Hundertsten ins Tausendste. Auch das ist eine Anleihe bei Gogol, aber auch eine Verneigung vor der reichen Tradition des mündlichen Erzählens, das schon immer einen Ehrenplatz in der russischen Literatur hatte.
    Hin und wieder bietet Alexander Goldstein einen Happen seiner ornamentalen Roman-Poetik, gewürzt mit einer Prise Ironie:
    "Ich aß Brot mit Butter, kostete Honig und Datteln zum Tee, das Leben, wenn man es in Prosa aufschreibt, wie es grad kommt, leuchtet trotz allem. In ihm sind blauschwarze Drosseln, die Katze, die ihre Krallen an der Baumrinde schärft, sorgenvoll brummende Flügeltiere, Krümeliges, Kotiges, Trügerisch-Unsinniges. Wie der Tag hochsteigt, an Wärme und Licht gewinnt, so kommt alles, was uns lieb war, näher und näher, erglüht und erblüht, das Leben wird vielliebend und vielgeliebt (ist ein Unterschied, oder?), man muss nur hellhörig sein, damit der Stil gefällig rinnt in seiner Bahn ..."
    Ein hochgelehrtes, aber auch ein lebenspralles Buch
    Der Autor bringt sich auch selbst im Hier und Jetzt seines Schreibens ins Spiel, auch er ist einer der Ich-Erzähler in "Denk an Famagusta": Als Bürger Israels hält er eine Brandrede gegen Europa und empört sich über die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und israelischer Besatzungspolitik, als Autor sitzt er schreibend in einem Tel Aviver Strandcafé, die Füße im Sand, und sinniert, ob europäische Schriftsteller wohl auch in Cafés arbeiten. Am Schluss reist Goldstein als Tourist nach Zypern und lernt eine ukrainische Kellnerin kennen, die sich prostituiert, um ihre Mutter und ihr Kind zu ernähren. Beim bloßen Kennenlernen bleibt es nicht – hier wie bei der Schilderung anderer sexueller Abenteuer nimmt Goldstein kein Blatt vor den Mund.
    Bemerkungen, gern in Klammern gesetzt und wie nebenbei fallengelassen, bezeugen Beobachtungsgabe und Sinn für Humor. Von der sowjetischen Sitte, Esswaren in Zeitungspapier zu wickeln, zu den Anfängen der abstrakten Kunst zu kommen – dass muss dem Autor mal einer nachmachen:
    "(...) den ramponierten Teekessel füllen, mit einem Stück Kernseife die Socken im Waschbecken schrubben, auf dem mit Zwiebel gewürzten Hering – die Kubisten waren nichts dagegen – die Buchstaben des Parteiplenums (...)"
    Alexander Goldstein inszeniert sich als sein eigener "erster Leser" und spart nicht mit kritischen Einwürfen zu seinem Stil – so viel Zeit muss sein, auch wenn gerade ein liebestolles Mädchen dabei ist, dem auf der Straße aufgegabelten Erzähler "mit einem Ruck" die Hosen auszuziehen:
    "Und jetzt war ich im dunklen Haus, in der Hütte in der Stille am Rande der kleinstädtischen Siedlung in den schneebedeckten transkaukasischen Bergen aufs Neue berufen, auszuführen, was sich in meiner Lage gehört (in-in-in, drei, vier (...)Wiederholungen für den einen Satz)."
    Alexander Goldstein, 1957 als Sohn eines sowjetischen Schriftstellers in Estland, in Tallinn geboren, wuchs nach dem Umzug der Eltern in Baku auf, wo er schließlich auch Literatur studierte. Wie viele Juden emigrierte er Anfang der 1990er Jahre aus der zerfallenen Sowjetunion und ging nach Israel. Tel Aviv wurde seine dritte Heimatstadt am Meer. Universal gebildet, gehörte Goldstein bald zu einem elitären Kreis intellektueller Einwanderer aus der Sowjetunion. "Er lebte in der russischen Hochkultur", schrieb ein amerikanischer Literaturwissenschaftler, "und hauste in schäbigen Zimmern hinter dem Tel Aviver Busbahnhof." "Denk an Famagusta" ist Alexander Goldsteins erster Roman, geschrieben 2002/2003 und erschienen 2004. 2006 ist der Autor nach langem Kampf gegen den Lungenkrebs in Tel Aviv gestorben.
    Sein Erstling ist ein Meisterwerk, in seiner ganzen Fülle von Exkursen, Anspielungen und Zitaten ein hochgelehrtes, aber auch ein lebenspralles Buch, das sich weder für die tristen und noch für die deftigen Niederungen der sowjetischen Zivilisation zu schade ist. "Denk an Famagusta" ist nichts für den schnellen Genuss und Konsum. Die Lektüre erfordert Geduld, Ausdauer und, ja, Liebe zur russischen Kultur. Auch Sinn für Humor sowie Literatur- und Geschichtskenntnisse schaden nicht. Wer sich auf den Roman einlassen kann, wird reich belohnt und erhält Zutritt zu Alexander Goldsteins Wunderkammern der Erinnerung: Denn wie sagte der Autor: "Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass Erinnerung und Fantasie untrennbar miteinander verbunden sind." Der Übersetzerin Regine Kühn hat das weit in alle Richtungen ausgreifende Riesenwerk Einiges abverlangt – zum Ergebnis kann man sie nur beglückwünschen.
    Alexander Goldstein: "Denk an Famagusta", Roman, aus dem Russischen und mit Anmerkungen von Regine Kühn, Matthes & Seitz, Berlin 2016, 540 Seiten