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Alexander Mitscherlich
Kritiker der Betonwüsten

Die Euphorie der Stadtplaner war Anfang der 60er-Jahre groß, die Ergebnisse ihrer Konzeptionen modernen Bauens aber eher deprimierend: monotone Wohnblocks und die Tristesse von Eigenheim-Siedlungen. Dagegen richtete sich vor 50 Jahren die Streitschrift "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich.

Von Jochen Stöckmann | 03.01.2015
    Balkone eines alten Wohnblocks
    Alexander Mitscherlich warf der Bauwirtschaft vor, den Bürger zum "Wohnraumverbraucher" zu degradieren. (picture alliance/dpa/Uwe Zucchi)
    "Ob verdichtetes Wohnen oder Wohnen in Hochhäusern, oder Wohnen in Terrassen- oder Reihenhaus et cetera, et cetera ... das alles ist gewiss interessant zu wissen, aber es bringt uns in den entscheidenden Fragen nicht weiter, wie man überhaupt ein Bewusstsein für die Notlage der Städte und ihre Gründe erwecken könnte."
    "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" diagnostizierte 1965 der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich. 1964 war Wolf Jobst Siedlers düstere Bestandsaufnahme "Die gemordete Stadt" erschienen. Die größte Wirkung erzielte Mitscherlichs Bändchen in der Edition Suhrkamp: fünf Auflagen mit über 200.000 Exemplaren. "Ein Pamphlet", wie der Autor selbst im Vorwort schrieb. Aufrüttelnd durch zugespitzte Schilderungen der eintönigen Betonwüsten, in denen nur noch die Neurosen blühten. Brisant wegen der radikalen Folgerungen, die der Arzt und Philosophieprofessor als fortan überaus gefragter "Städtebau-Experte" in zahlreichen Aufsätzen und Rundfunk-Vorträgen zog:
    "Es lässt sich also die These vertreten, dass die Ghetto-Aufstände, die Stadtguerillas Vorwarnungen der künftigen Entladungen grausamer und unversöhnlicher innergesellschaftlicher Kämpfe sind. Dass an die Stelle von Aggression gegen Stammesfremde, Volksfremde, Nationsfremde die Autoaggression, die Zerstörungswut im Binnenraum treten wird."
    Nur auf Profit bedachte Bauwirtschaft
    Solche Ausbrüche von Gewalt waren für Mitscherlich die Folge einer Selbstzerstörung städtischer Kultur. Als wesentliche Ursachen prangerte er vor allem an: die Bodenspekulation und eine nur auf Profit bedachte Bauwirtschaft, die den Bürger zum "Wohnraumverbraucher" degradiert. Das waren massive Vorwürfe, die sein Kollege, der Sozialpsychologe Peter Brückner, in einer Radio-Runde von Fachleuten erörterte:
    "Provokatorische Thesen, Sätze aus einem Pamphlet, müssen natürlich diskutiert werden. Sie müssen aufgenommen, sie müssen hin- und hergewendet, sie müssen ergänzt, sie müssen modifiziert, sie müssen gegebenenfalls auch berichtigt werden."
    Um "Berichtigung" bemühten sich der Soziologe Hans Paul Bahrdt, Oswald Ungers – damals Architekturprofessor in Berlin – und Rudolf Hillebrecht, der als Baustadtrat Hannover "autogerecht" gestaltet hatte. Denn darauf zielte eine Stadtplanung, der es weniger auf die sozialen Bezüge im Stadtraum ankam, die stattdessen nur noch streng geschiedene Gewerbe-, Wohn- und Freizeitviertel möglichst effizient zu verbinden suchte. Mitscherlich sah das skeptisch:
    "Die städtische Einheit zerfällt in Parzellen mehr oder weniger funktionierender Sozialleistungen. Daneben die Subkulturen der Kriminalität, der psychisch Ruinierten, der Süchtigen, des politischen Militarismus."
    "Man kann keine Modellstadt bauen ohne Modellbürger"
    Diesem Niedergang in den Vorstädten, den "Banlieues" oder "Suburbs", war allein durch neuartige Gliederung der Baumassen, durch etwas mehr Dekor oder abwechslungsreichere Architektur nicht beizukommen. Das wusste niemand besser als der scharfe Kritiker der "Unwirtlichkeit der Städte":
    "Man kann keine Modellstadt bauen ohne Modellbürger. Wo bekommen wir sie her? Nur ihrer Lage ansichtig gewordene Menschen könnten den Mut finden, jene Tabus zu brechen, die einer wirklichen Neugestaltung der gigantischen Stadtwelten im Wege stehen. Dann ist der Ausgang immer noch ungewiss genug. Und vor allem: Woher diese Menschen nehmen?"
    Bei diesen pessimistischen Fragen beließ es Mitscherlich nicht: Anfang der 70er beteiligte er sich selbst als Gutachter an der Planung des neuen Wohnviertels Emmertsgrund in Heidelberg. Nach wenigen Jahren musste der Kritiker seelenloser Großsiedlungen jedoch feststellen, dass er in zahlreichen Fachkonferenzen, Kommissionen und Foren eben nur angehört wurde. Resigniert war er dennoch nicht. Bis zu seinem Tod im Juni 1982 wurde der Psychoanalytiker nicht müde, vor der "Verrohung" des städtischen Lebens zu warnen, die mit einer fatalen Zufriedenheit über ökonomische Wachstums-Rekorde überspielt wurde – und zur katastrophalen Vernachlässigung nicht nur der sozialen, sondern auch der natürlichen Umwelt führte:
    "Wo unserer Zivilisation im wahrsten Sinn des Wortes die Luft beginnt auszugehen – und das Wasser dazu – bleibt trotz dieser Alarmsignale die entscheidende Tatsache fast unbemerkt: Eben, unsere kindische Zuversicht."

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