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Alexander Solschenizyn: Zweihundert Jahre zusammen - Die russisch-jüdische Geschichte

Der "Archipel GULag", sein Meisterwerk, die Chronik des Stalin’schen Repressionssystems, hat Alexander Solschenizyn, dem unbeugsamen Streiter gegen das Sowjetsystem, bleibenden internationalen Ruhm verschafft. Nach dem Zeitenumbruch zu Beginn der neunziger Jahre wurde es aber stiller um ihn.- Jetzt aber sorgte er wieder für Aufsehen: Mit seiner eben abgeschlossenen Arbeit über das historische Verhältnis zwischen Russen und Juden. "Zweihundert Jahre zusammen"- so der Titel.

Elfie Siegl | 12.05.2003
    Der Autor jongliert mit einem heiklen Thema: Am Ende seines über achtzig Jahre währenden Lebens erforscht Alexander Solschenizyn das russische Judentum, die schwierigen Wechselbeziehungen zwischen Juden und Russen. Für ihn ist das eine Bürde, die er viele Jahre mit sich trug, und eine Befreiung, die er sich von der Seele schreibt.

    Auf tausend Seiten in zwei Bänden erforscht er die Geschichte des russischen Judentums. Die mit Details überfrachtete Untersuchung hat mehrere Schwächen. Sie setzt beim Laien zuviel Wissen voraus und liefert dem fachkundigen Leser kaum neue Erkenntnisse. Außerdem ist sie als Ansammlung komplizierter, aus dem Zusammenhang gerissener Zitate recht mühsam zu lesen. Die meisten dieser Zitate sind sowjetischen Standardwerken über das Judentum entnommen. Häufige Rückblicke, Gedankensprünge und Vorgriffe auf Ereignisse bringen eine zusätzliche Unruhe in den Text. Das alles verwirrt den Leser mehr als es ihn aufklärt. Wohl schwerer noch wiegt: Der Autor, so scheint es, wählt die Zitate vor allem danach aus, ob sie seine Meinung über die Rolle der Juden in der russischen Geschichte bestärken. So werden Vorurteile bestätigt, statt aus dem Weg geräumt. Etwa jenes, den Juden sei es in der Sowjetunion oft besser ergangen als den Russen, zum Beispiel während des zweiten Weltkriegs.

    Im Sammelband "Jüdische Welt" von 1944 lesen wir: Der Sowjetmacht war klar, daß die Juden der am meisten bedrohte Teil der Bevölkerung waren und ungeachtet der Tatsache, daß die Armee dringend Transportmittel benötigte, wurden Tausende von Eisenbahnwaggons für die Evakuierung der Juden zur Verfügung gestellt.

    Das sensible Thema und der weltberühmte Autor, in seiner Heimat als nationalbewusster Prediger geachtet, machen dieses Sachbuch in zwei Bänden über die jüdisch-russischen Wechselbeziehungen zum Selbstläufer. Im ersten Teil hatte Solschenizyn den Zeitraum von 1795 bis 1916, die politische, kulturelle und wirtschaftliche Lage der Juden im zaristischen Russland beleuchtet. Im zweiten Teil geht es um die Zeit von der Oktoberrevolution 1917 bis zu den Jahren der jüdischen Massenemigration aus Russland Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Er habe die Dinge beim Namen nennen wollen, wehrt sich Solschenizyn gegen Ende des zweiten Bandes gegen den Verdacht, er habe keine objektive Untersuchung vorgelegt.

    Ich habe nicht eine Minute lang wahrgenommen, daß dieses beim ´Namen nennen` den Juden gegenüber feindlich war. Ich schreibe einfühlsamer über die Juden als viele Juden umgekehrt über die Russen. Das Ziel meines Buches besteht eben darin, daß wir einander verstehen, dass wir uns in die Situation und das Selbstwertgefühl des anderen hinein versetzen müssen. Mit diesem Buch will ich die Hand zum wechselseitigen Verstehen ausstrecken – für alle künftigen Zeiten, mit der Betonung auf wechselseitig.

    Dieses Ziel hat Solschenizyn nicht erreicht. - Denn er setzt sich, so scheint es, zwischen die Stühle. Er hat darauf verzichtet, die für Russland so schwierige jüdische Frage literarisch zu überhöhen oder publizistisch darzulegen.

    Westliche Forschungsliteratur wird bis auf verschwindend geringe Ausnahmen von Solschenizyn nicht berücksichtigt. Der russische Geschichtswissenschaftler Nikita Sokolow etwa bescheinigt Solschenizyn auch aus diesem Grund eine anti-historische Haltung. Die unzähligen Dokumente, die Solschenizyn in den Archiven einsah, würden von ihm so zitiert, wie sie ihm gerade ins Konzept passten, fügt Alla Gerber hinzu, die Präsidentin des Moskauer Holocaust-Fonds. Er benutze sie, um seine vorgefasste Meinung zu untermauern. Dabei - so räumt sie ein - habe Solschenizyn wohl kaum die Absicht gehabt, ein "judenfresserisches" Buch zu schreiben. Aber: Es sei leider eins geworden. Solschenizyn möge die Juden eben nicht und irgendwo rechtfertige er so seinen eigenen inneren Antisemitismus. Zum Eigenschutz behaupte er dann allerdings, er habe viele jüdische Freunde, die er sehr schätze.

    Einige davon, etwa den inzwischen verstorbenen, in Deutschland einst sehr bekannten Germanisten und früheren sowjetischen Dissidenten Ljew Kopeljew, lernte Solschenizyn als einen Haftgenossen in den Straflagern des Gulag kennen. Dort meinte er erlebt zu haben, was die Juden von den Russen unterscheidet. Die Juden - so Solschenizyns krude Beobachtung - verstünden es, in jeder Lebenslage für sich das beste herauszuschlagen. Dafür ernteten sie bisweilen Bewunderung, die aber schnell in Feindseligkeit umschlagen könne.

    Wer die großartige jüdische Selbsthilfe kennt, der versteht, daß im Lager kein jüdischer Vorgesetzter mit ansehen konnte, wie jüdische Häftlinge hungerten und umkamen. Er half ihnen. Aber man kann sich andererseits kaum einen russischen Vorgesetzten vorstellen, der russischen Häftlingen günstige Arbeiten im Lager verschaffte, nur weil sie seiner eigenen Nation angehörten.

    Ein Hauptthema des Buches ist das Verhältnis von Judentum und Bolschewismus. In Kapitel 15 etwa will Solschenizyn seine wohl wichtigste These beweisen, die lautet, bolschewistische Juden vom Schlage eines Trotzkij, eines Sinowjew, eines Kamenjew - alles prominente Weggefährten Lenins - und viele andere Juden seien vor und während der Oktoberrevolution, im anschließenden Bürgerkrieg und in den Anfangsjahren des Sowjetregimes machtpolitisch unentbehrlich gewesen. Solschenizyn wiederholt zudem den immer wieder gern kolportierten Verdacht, russische Juden hätten sich deshalb so aktiv am Oktoberumsturz von 1917 beteiligt, weil sie sich für die Pogrome der Jahre 1905 und 1915 am zaristischen Russland hätten rächen wollen. Solschenizyns Werk über die Juden in Russland hört dort auf, wo es gilt, wirkliches historisches Neuland zu erforschen: Die Auswirkungen des Zerfalls der Sowjetunion und des Systemwechsels im nachsowjetischen Russland auf das Verhältnis zwischen Juden und Russen spart er aus. Seine Untersuchung endet eigentlich mit dem Jahr 1987 der Gorbatschow’schen Perestrojka-Zeit, als die sowjetischen Juden die lang ersehnte Erlaubnis erhielten, aus der damaligen Sowjetunion frei nach Israel auszureisen. "200 Jahre zusammen" dürfte das letzte umfangreiche Werk Solschenizyns gewesen sein. Gleichsam der Paukenschlag, mit dem er sich von seinen Lesern verabschiedet. Im Unterschied zu seinen frühen, großen Romanen und dem wegweisenden Archipel Gulag wird diese Forschungsarbeit aber wohl kaum nachhaltige Spuren hinterlassen. Doch die Verdienste Solschenizyns um die russische Literatur werden damit keineswegs geschmälert.