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Alexander von Humboldt
Weltbürger und politischer Intellektueller

Vor 250 Jahren wurde Alexander von Humboldt geboren. Viele Schriften des Universalgelehrten waren lange verschollen. Jetzt erscheinen sie erstmals in einer Gesamtausgabe - auch dank eines Berner Professors, der mit seinem Team auf Schatzsuche ging.

Von Marc Engelhardt | 21.07.2019
Gemälde von Alexander von Humboldt. Er sitzt in einer Landschaft, schaut zum Betrachter und in einem geöffneten Buch liegt eine Blume vor ihm.
Alexander von Humboldt war einer der ersten interdisziplinären Wissenschaftler (picture alliance / CPA Media / Pictures From History)
Der Berner Professor Oliver Lubrich zieht einen leinengebundenen Folianten aus dem Bücherregal: Alexander von Humboldts Pflanzengeographie, mit den Reiseberichten und dem "Kosmos", eines der bedeutendsten Werke des Naturforschers. Doch entscheidend für seinen Weltruf schon zu Lebzeiten waren ganz andere Veröffentlichungen, weiß Lubrich:
"Was die Zeitgenossen wirklich gelesen haben, waren eben überwiegend die Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, weniger die Bücher. Er war wahrscheinlich der internationalste Publizist seiner Zeit, der in Bombay und Sydney, aber auch in Bogotá und Boston, sogar in Südafrika Texte herausbrachte."
Humboldts unbekannter Kosmos
Zwei Jahrhunderte lang waren die meisten dieser Schriften verschollen. Sechs Jahre lang hat ein internationales Team unter Lubrichs Leitung nach ihnen geforscht, sie ediert, übersetzt und verfügbar gemacht. Humboldts bislang unbekannter Kosmos besteht aus 3600 Artikeln, Aufsätzen und Briefen, die als "Sämtliche Schriften" in zehn Bänden ab sofort gedruckt erhältlich sind.
"Wir haben hunderte von Periodika durchsucht, wirklich Seite für Seite, und die Inhaltsverzeichnisse angeschaut. Wir haben uns sämtliche Selbstzitationen von Humboldt vergegenwärtigt, das heißt alle Stellen in seinen Schriften, Büchern, Texten, Briefen, wo er sich auf irgendeine Arbeit von ihm, die irgendwo erschienen ist, bezieht. Und auf diese Weise wuchs das Material immer mehr an, viel stärker, als wir das anfangs vermutet hätten."
Unter den Schriften ist auch der erste Text von Humboldt überhaupt, anonym im Alter von 19 Jahren publiziert. Ein auf Quellen Dritter basierender Artikel über den Bohon-Upas, einen legendären asiatischen Giftbaum, in der jüngst erschienenen Hörbuch-Bearbeitung gelesen von Ulrich Noethen:
"Im Umkreis eines Steinwurfs um diesen Baum, schreibt Thunberg, sei die Erde wie verbrannt. Die anderen berichten, dass man im Umkreis von 15 bis 18 Meilen weder Mensch noch Tier, nicht einmal einen Fisch im Wasser findet. Welch riesiger Unterschied zwischen dem Raum im Umkreis eines Steinwurfs und dem von 18 Meilen. Herr Thunberg merkt an, dass insbesondere die Priester Interesse daran hätten, solche Irrtümer zu verbreiten, welche das einfache Volk in Indien allzu gern aufnehme. Voltaire würde sagen, dies beweise, dass die Priester sich auch unter dem Äquator nicht ändern."
Schriften zeigen neues Bild des Universalgelehrten
In diesem Erstling erkennt Oliver Lubrich bereits den aufklärerischen Naturforscher, Kritiker der Kirche, Anti-Kolonialisten. Doch in den sämtlichen Schriften offenbart sich auch ein neues Bild Humboldts. Weniger Preuße als Weltbürger. Nicht der letzte Universalgelehrte, sondern einer der ersten interdisziplinären Wissenschaftler:
"Was wir heute wieder entdecken, das ist tatsächlich diese vollkommen kreative, unerwartete Fähigkeit, Botanik mit Migration zusammen zu denken, oder sozioökonomische Faktoren mit meteorologischen, um dann Klimawandelsprozesse zu begreifen. Diese fächerübergreifenden Fragestellungen und Lösungswege, das ist einer der Aspekte, die Humboldt für uns heute sehr attraktiv und anregend machen."
"Es ist genug Humboldt für alle da"
Eine andere, neue Facette: Humboldts Wirken als politischer Intellektueller, der sich offen gegen Sklavenhandel, aber auch gegen die Ausgrenzung von Juden in Preußen aussprach. Ein Schatz an Themen, doch bleibt die Frage: Wie erschließt man sich ein solches Opus? Die zehnstündige Hörbuch-Fassung ist ein Weg, sich Humboldts unbekanntem Kosmos zu nähern. Ein anderer sind die Transversalkommentare, die zu 21 ausgewählten Themen durch die Schriften führen. In den kommenden zwei Jahren werden Lubrich und sein Team zudem noch an einem Kommentarband arbeiten, dann wird alles zusammen online gestellt. Und der Berner Forscher ist sicher, dass die Schatzsuche auch dann noch nicht beendet ist:
"Es ist genug Humboldt für alle da, und es ist soviel auch an Humboldts Schriften und in seinem Nachlass zu entdecken, dass sehr, sehr viel zu tun bleibt."