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Alexander Wilhelm über Bibliotherapie
Das richtige Buch zur richtigen Zeit

Lesen ist sehr gut für die seelische Gesundheit. Das hat der Bibliotherapeut Alexander Wilhelm oft in seiner Arbeit erfahren. Literarische Klassiker, Gedichte oder Groschenromane könnten Hoffnung und Kraft geben oder einen wichtigen Anstoß, sagte Wilhelm im Dlf.

Alexander Wilhelm im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 27.08.2019
Ein Bücherstapel auf der Buchmesse Leipzig 2019.
Manchmal kann schon ein Wort oder Satz therapeutisch wirken, sagt Alexander Wilhelm aus seiner Praxiserfahrung (imago images / Chris Emil Janßen)
Maja Ellmenreich: Vielleser verschlingen Bücher, sie fressen Romane und inhalieren Bestseller. Sicherlich nicht ohne Grund greifen wir auf Verben der Nahrungsaufnahme zurück: Die Lektüre als unbedingtes Lebensmittel, als Überlebensmittel quasi. So hat es auch Franz Kafka einmal in seinem Tagebuch formuliert: "Zweifellos ist in mir die Gier nach Büchern."
Was große Gier und Hunger stillen kann, das kann auch gezielt eingesetzt werden, um zu heilen, zu trösten, anzuregen oder zu beruhigen.
Die so genannte Bibliotherapie macht sich die Kraft des geschriebenen Wortes zu eigen. In den USA und Skandinavien bereits weit verbreitet, wird diese literarische Kreativtherapie auch immer gebräuchlicher bei uns. Und die Bibliotherapie soll heute Thema sein in unserer Sommerreihe über "Wendepunkte" – denn wir wollen fragen: Welche Veränderungen kann die richtige Lektüre im Seelenleben herbeiführen?
Die Kraft des gelesenen Wortes
Mit Alexander Wilhelm habe ich vor der Sendung über Bibliotherapie gesprochen. Er führt in Dortmund eine Praxis für Sprach- und Psychotherapie, wendet die Bibliotherapie im Rahmen seiner Arbeit an. Außerdem war er viele Jahre in der Ausbildung von Bibliotherapeuten tätig.
Herr Wilhelm, habe ich das richtig beschrieben gerade? Die Kraft des geschriebenen und gelesenen Wortes macht sich die Bibliotherapie zu eigen? Oder wie würden Sie's mit Ihren Worten sagen?
Alexander Wilhelm: Bibliotherapie – darunter verstehen wir die Arbeit mit Texten anderer, Wörtern anderer oder nur Sätzen anderer. Demgegenüber steht die Poesietherapie, wo ich mit dem eigenen Schreiben arbeite. Wenn ich jetzt so sage 'Therapie', ist es ganz wichtig, dass wir aber auch sehen: Es ist nicht nur der heilkundlich-klinische Bereich, den wir damit meinen, sondern im Verständnis der alten Griechen auch 'dienen, pflegen, heilen' – therapeía. Und damit ist es ein ganz weiter Begriff, der nicht zuletzt auch die Gesunderhaltung des Menschen zum Inhalt hat.
Ellmenreich: Also könnte man daraus ableiten: Lesen ist an sich schon mal gut für die seelische Gesundheit?
Wilhelm: Lesen ist an sich hervorragend für die seelische Gesundheit. Warum lesen wir? Einerseits natürlich, um unser Wissen zu erweitern. Dann aber auch, um Anregung zu bekommen. Wir brauchen ja manchmal so einen Anstoß, was Neues auszuprobieren. Oder auch diese Ermutigung. Wenn Sie zum Beispiel die ganze Literatur nehmen, wo Betroffene – seien sie an Krebs erkrankt oder an anderen schweren Erkrankungen – wo sie ihren Leidensweg, aber auch den Ausgang ihrer Krankheitsgeschichte beschrieben haben. Was ja auch für die, die ein ähnliches Schicksal ereilt hat, auch eine gewisse Solidarität hervorruft. Das Gefühl: Mir geht es nicht alleine so. Es gibt auch andere Menschen, denen ist es so gegangen. Und da hat es auch ein gutes Ende genommen. Dann schöpfe ich Hoffnung. Und dann lesen wir natürlich auch noch, um zu entspannen. All dem aber gemeinsam ist: Ich gewinne Abstand zu meiner jetzigen Situation.
Ellmenreich: Suchen Sie was Ähnliches aus? Jemand kommt mit einer Depression zu Ihnen. Sie behandeln die Person und suchen dann einen Text aus, der vom Krankheitsbild nahe an dem des Patienten ist? Oder gilt es da, auf jeden Einzelnen sehr speziell und individuell einzugehen? Und man gar nicht so eine Faustregel ableiten?
Wilhelm: Ich kenne viele Bücher, wo Literatur empfohlen wird bei den und den Beschwerden oder den und den Problemen. Ich persönlich habe in über 30 Jahren die Erfahrung gemacht: Das ist gar nicht das, was die Menschen brauchen. Denn jeder und jede von uns hat andere Leseerfahrungen, hat aber auch andere Lebenserfahrungen. Und es geht darum, erst mal zu wissen: Was ist derjenige oder diejenige gewohnt zu lesen?
Auch Groschenromane können helfen
Ich hatte zum Beispiel vor Jahren eine ältere Dame. Die kam zu mir, und sie hatte als einzige Leseerfahrung diese – meine Schwiegermutter würde sagen: "Romänsche" – diese Groschenromane. Und dann habe ich gesagt: Okay, damit können wir arbeiten. Kein Thema! – und habe selbst einige dieser Romane gelesen und habe gemerkt: Die haben ganz große Ähnlichkeiten zu Märchen, weil: Sie haben ein Problem, das muss bewältigt werden, und es hat ein gutes Ende.
Ellmenreich: Also macht es gar nicht so einen großen Unterschied, ob jemand die hohe Hochliteratur liest oder eben das "Romänsche", wie Sie gerade gesagt haben. Es gilt aber trotzdem, etwas Ähnliches zu zeigen oder womöglich auch einen Alternativvorschlag? Wenn jemand etwas schwermütig zu Ihnen kommt, ein Buch zu präsentieren, in dem jemand gezeigt wird, der in einem ganz anderen Leben in einer ganz anderen Verfassung unterwegs ist?
Wilhelm: Es geht darum: Was ich erreichen will in der gemeinsamen Arbeit. Möchte der Klient oder die Klientin einen neuen Weg beschreiten? Oder geht es darum, überhaupt erst einmal zu stabilisieren. Und bei neuen Wegen kann man auch mal provozieren mit Literatur. Ich habe vor vielen Jahren einen Vortrag gehalten bei der Onkologischen Gesellschaft. Und es war sonntagmorgens um 9 Uhr. Der Kongress ging schon vier Tage, und alle kamen, wenn sie überhaupt kamen, völlig verschlafen dahin. Und ich habe meinen Vortrag mit dem Gedicht von Ringelnatz angefangen: Ich bin so knallvergnügt erwacht.
Ellmenreich: Eine Provation. Eine Irritation.
Wilhelm: Es war Irritation, Provokation – aber alle, die anwesend waren, waren am Lachen. Und schon hatte ich die Zuhörerinnen und Zuhörer beim Thema. Letztendlich ist es so ähnlich bei der Einzelarbeit, wobei grundsätzlich gilt ja: Wir hören das in einem Satz oder in einer Geschichte oder in einem Gedicht, was wir brauchen. Das heißt: was es in uns anklingt. Es geht nicht darum, wenn ich mit jemandem arbeite: Was hat sich vielleicht der Dichter, die Dichterin dabei gedacht. Es geht darum: Was bewirkt der Text bei dem, mit dem ich arbeite.
Wir hören das, was wir brauchen
Ellmenreich: Wie muss ich mir das praktisch vorstellen? Sie geben Hausaufgaben auf? Sie sind mit einer Patientin, einem Patienten im Gespräch und sagen: Na, vielleicht schauen Sie sich das Buch mal an, und wir sprechen in der nächsten Woche darüber? Oder lesen Sie gemeinsam in der Therapiesitzung? Wie läuft das ab?
Wilhelm: In der Regel ist es so, dass ich Empfehlungen nur für ganz kurze Texte gebe und nach Möglichkeit die kurzen Texte auch in der Therapie mit einbinde. Wenn Sie so wollen, ist ja der Text Mittel zum Zweck. Ich möchte ja eigentlich den Menschen unterstützen, stärken damit. Das heißt: Das Ganze ist ja auch mit Emotionen verbunden. Und um mit diesen Emotionen auch umgehen zu können, sie vielleicht auch auffangen zu können, darum geht es ja auch, weshalb ich dann auch lieber das in der Therapie mache, und vielleicht im Anschluss dann noch einen Lesevorschlag mache oder Empfehlungen gebe.
Ein Porträt des Bibliotherapeuten Alexander Wilhelm, aufgenommen beim Deutschlandfunk, 2019
Der Bibliotherapeut Alexander Wilhelm (Deutschlandradio / Maja Ellmenreich)
Ellmenreich: Sie haben gerade die Frau erwähnt, die die Groschenromane liest. Nun stelle ich mir vor, Sie haben einen Patienten, der überhaupt nicht liest. Kommen Sie mit dem bei der Bibliotherapie auch vorwärts? Oder hilft das vielleicht nicht in jedem Fall?
Wilhelm: Ich kann damit nicht jeden heilen und möchte auch nicht jeden damit heilen. Sondern es geht einfach darum: Wer einen Zugang zu Texten hat - und ich sage bewusst nicht zu Literatur, sondern zu Texten – der hat mit Sicherheit eine gute Möglichkeit, damit zu arbeiten. Auch an sich zu arbeiten, auch vielleicht allein an sich zu arbeiten und sich auch mal Texten zu stellen – ich denke da auch an Gedichte – wo er oder sie sich vielleicht gar nicht so rangetraut hat. Denn wir haben ja auch ein ganz gesundes Empfinden, im Hinblick darauf, was uns gut tut, was uns stärkt.
Hilfe in schwierigen Lebenslagen
Sie kennen das wahrscheinlich auch: Wenn wir was brauchen, wir sind irritiert oder haben eine schwierige Entscheidung vor uns - und plötzlich fällt uns ein Buch auf, oder es fällt uns ein Gedicht auf. Mir ist es vor vielen, vielen Jahren so gegangen: Da war durch Krankenkassenreformen meine Praxis für drei Monate in Gefahr, überhaupt nicht mehr weiter zu existieren. Und ich bin einfach auf das Gedicht "Stufen" von Hermann Hesse gestoßen. Ich hatte das vorher schon gekannt, aber da hat es plötzlich gezündet.
Ellmenreich: Ein einzelnes Wort? Ein einzelnes Bild? Reicht das?
Wilhelm: Ja! Es war einfach dieses "Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne", dass ich dachte: Ja, und im Notfall fängst du neu an. Diese Ermutigung war in diesem Fall mein Thema - und nicht zu resignieren. So kenne ich eigentlich sehr häufig bei Klientinnen und Klienten, dass sie irgendwie einen Umbruch im Leben haben, und die Literatur ihnen hilft - egal, ob die hohe Literatur oder die "Romänschen" oder Gedichte – diese Situation zu meistern, weil es etwas Kontinuierliches ist.
Ellmenreich: Sie haben es am eigenen Leib erfahren, Sie haben es bei Ihren Patientinnen und Patienten erfahren. Was sagt denn eigentlich die Wissenschaft dazu? Ist die Bibliotherapie mittlerweile in den Olymp der Psychotherapie aufgenommen, und alle sind dafür, nur in Deutschland hat man noch nicht so viel davon gehört?
Erforschung der Bibliotherapie schwierig
Wilhelm: In Amerika gibt es die meisten Untersuchungen darüber. Und zum Beispiel der Wissenschaftler [James W.] Pennebaker hat da sehr viele Untersuchungen gemacht. Er hat auch nachgewiesen, dass eine Wirkung insbesondere von der Poesietherapie ausgeht. Die Bibliotherapie ist wesentlich schwerer zu erforschen, weil viele Dinge hineinspielen, die man nicht so leicht innerhalb einer Untersuchung erfassen kann.
Ellmenreich: Ich bringe es nochmal auf den Punkt mit unserem Mottowort "Wendepunkte" unserer Gesprächsreihe. Würden Sie also dem Satz zustimmen, dass womöglich ein einzelner Satz, ein einzelnes Wort, vielleicht auch ein ganzes Buch einen Wendepunkt im Leben eines Menschen markieren kann?
Wilhelm: Allemal, allemal. Ich habe so viele Beispiele erlebt. Angefangen bei einer älteren Patientin, die Mitte 70 war, die die Diagnose Lungenkrebs bekam. Sie hat noch vier Monate gelebt. Und sie hat etwas gemacht, wo sie dann selbst auch sagte, das hätte sie schon früher gemacht, aber dann wäre das eingeschlafen. Sie hat sich jemanden gesucht, der zwei bis drei Mal in der Woche mit ihr Gedichte gelesen oder rezitiert hat. Im Wechsel haben sie das gemacht. Das hat ihr Halt gegeben.
Oder wenn Sie jetzt einfach so sehen: ein Schlaganfall-Patient von mir, der einfach lange Jahre nicht gelesen hatte beziehungsweise nur Fachliteratur gelesen hatte. Dann hatte er eigentlich gar keinen Zugang mehr, weil er sich auch eingestanden hat: Meine Arbeit hat mir eigentlich gar nicht so viel Freude gemacht. Und dann hat er den Zugang zu Romanen bekommen. Dann hat er mir in der Therapie gesagt: Das ist für mich Lebensfreude! Das hilft mir!
Alexander Wilhelm leitet eine Praxis für Sprach- und Psychotherapie in Dortmund und wendet im Rahmen seiner Arbeit die Bibliotherapie an. Er war viele Jahre in der Ausbildung von Biblio- und PoesietherapeutInnen tätig.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.