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Alfonsina Storni
Meine Seele hat kein Geschlecht

Die frühen Gedichte der schweizerisch-argentinischen Schriftstellerin Alfonsina Storni, die den Geist Argentiniens an der Schwelle des 18. zum 19. Jahrhundert eingefangen haben, faszinierten die Literaturwissenschaftlerin Hildegard Elisabeth Keller so sehr, dass sie sich zum Ziel machte, sie zu verbreiten. Auf eine ebenfalls faszinierende Art.

Von Claudia Cosmo | 09.01.2015
    Alfonsina Storni war keine Schriftstellerin, die ihrem Zeitgeist voraus war. Vielmehr ist sie als eine Intellektuelle zu verstehen, die sowohl in ihren Essays und Kolumnen, als auch in ihrer Lyrik und Prosa den Geist der damaligen Zeit eingefangen und ihn als literarischen Stoff angesehen hat. Als Beobachterin hat Storni das zu Papier gebracht, was sie zu Beginn des 20. Jahrhundert in der argentinischen Gesellschaft gesehen, wahrgenommen und durchdrungen hat.
    Alfonsina Storni ist eine Volksschriftstellerin im besten Sinne des Wortes. Eine Autorin, die sich in ihrer Arbeit sozialen, kulturellen und politischen Fragen gestellt hat, ohne sich selbst dabei auszuklammern. Storni war ihr eigenes Anschauungsmaterial, wie es beispielsweise in ihrer Gedichtsammlung "Matt" aus dem Jahr 1920 anklingt.
    "Es könnte sein, dass alles, was ich in Versen je empfand, nichts anderes war als das, was niemals sein durfte. Dort wo ich herkomme, erzählt man, sei alles abgezirkelt gewesen, was man tun konnte. Und all dies Beißende, Niedergekämpfte, Verstümmelte habe ich mit meinen Versen ins Freie geholt."
    Das Ringen um Freiraum, sowohl in geistiger als auch physischer Hinsicht, durchzieht sich wie ein roter Faden durch Alfonsina Stornis Gesamtwerk. Dabei beschreibt sie auch aus eigener Erfahrung heraus, wie es ist, sich als unverheiratete Frau mit einem unehelichen Kind in Buenos Aires durchschlagen und sich als Kolumnistin und Zeitungsmitarbeiterin behaupten zu müssen. Sie erzählt darüber, wie sich der Rhythmus städtischen Lebens auf das menschliche Miteinander auswirkt und unter welchen Arbeitsbedingungen Frauen für ihren Lebensunterhalt sorgen. Aufgrund ihres selbstbestimmten, unabhängigen Lebens und der offenen Beschäftigung mit autobiografischen und allgemeinen gesellschaftlichen Fragen, war Alfonsina Storni eine Ausnahmeerscheinung ihrer Zeit.
    "Ich wüsste jetzt keine andere wie sie, die so lebte, so kompromisslos."
    Die Literaturwissenschaftlerin und Herausgeberin Hildegard Keller weiß um Stornis Stellenwert. Mit ihrem umfassenden Werkband "Meine Seele hat kein Geschlecht" zeigt Hildegard Keller die ganze schriftstellerische Bandbreite Alfonsina Stornis, die in ihrem Geburtsland der Schweiz als Schriftstellerin nahezu unbekannt ist und in Argentinien nur aus einem verklärten Blickwinkel heraus gesehen wird.
    "Das Ziel von 'Meine Seele hat kein Geschlecht' ist, dass Menschen ihre Texte lesen können und nicht in diesem biografistischen Gewirr und diesem Mythenknäuel nur bleiben zu müssen. Insofern ist der Anspruch, dass ich mit dem Werk so weit bekannt machen möchte wie es in diesem Rahmen möglich ist."
    Ihr Buch arbeite, so Hildegard Keller, gegen eine verengte Rezeption Stornis. Und so schaut Keller in ihrem Band über den bis heute in Argentinien populären Alfonsina Storni-Mythos hinaus, der in Liedversion von Stornis Selbstmord im Jahr 1938 erzählt.
    "Alfonsinas Unerschrockenheit vor dem Leben bezieht sich auch auf den Tod. Das hat sie auch in vielen Interviews gesagt. Am 25. Oktober ist sie dann aus ihrer Pension gegangen, hat sich runter an die Küste begeben, wo so eine uralte Mole ist. Und von dieser Mole aus hat sie sich ins Wasser geworfen. Also nicht wie in dieser romantischen Kitsch-Version, die das Lied vielleicht auch erst in die Welt gesetzt hat, so quasi langsam ins Meer hinaus laufend."
    In Blick auf des menschliche Sein - in surrealen Skizzen
    In ihrem sorgfältig bibliografierten, mit Anmerkungen und Zeittafeln versehenen Werkband "Meine Seele hat kein Geschlecht" hat Hildegard Keller Alfonsina Stornis Essays, Kolumnen, Erzählungen und Gedichte nicht nur zusammengetragen. Sie hat alle ausgewählten Schriften auch neu übersetzt. Dabei erscheinen Stornis Prosatexte in deutscher Erstübersetzung und sind überhaupt zum ersten Mal in eine Sprache außerhalb des spanischen Sprachraums übertragen worden.
    Der Autorin gelingt es, Alfonsina Stornis besonderen Ton zu treffen und sie aus einer schlecht beleuchteten Ecke der Literaturgeschichte hervor zu holen. Die Literaturwissenschaftlerin hat der Sammlung zusätzlich fünf Texte und ein Interview beigefügt, die allesamt Neuentdeckungen sind. Dazu zählt die Kolumne "Die Lehrerinnen" aus der Zeitschrift "La Nación", die Storni unter ihrem männlichen Pseudonym "Tao Lao" schrieb:
    "Die Emanzipation der Frauen von der häuslichen Monotonie und ihre Suche nach neuen Handlungsräumen trägt als begehrtes Symbol häufig ein kleines Schild. Dieses Schild ist keine weibliche Erfindung. Eine kleine Demokratie, die das Schwert mit dem Schild getauscht hatte, brachte es auf männlichen und vielleicht politischen Wegen ins Land. So haben auch die Mädchen beschlossen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern, indem sie sich überhaupt einmal ein Schild zulegen."
    Ihrem geistreichen und ernsthaften literarischen Engagement fügte die schweizerisch-argentinische Autorin stets humorvolle, ironische, elegante und zuweilen bissige Wortbilder hinzu. Dafür schlüpfte Alfonsina Storni nicht immer in die Rolle eines Mannes, sondern gab sich selbst offen preis.
    "Nicht nur in den Selbstdarstellungen von Alfonsina Storni wird ja deutlich, dass das Geschlecht, der Körper der Frau, in dem quasi ihre Seele zuhause ist, dass das etwas zufälliges für sie hat. Und das ist auch der Grund, warum ich diesen Titel, der aus einem Brief stammt, gewählt habe: Meine Seele hat kein Geschlecht. Denn die Seele ist das Zentrum der Persönlichkeit."
    In verschiedenen literarischen Tönen und Nuancen, in unterschiedlichen Arten von Klarheit schreibt Alfonsina Storni über die Zufälligkeit, als Frau geboren worden zu sein. Dabei sieht sie sowohl die Frauen als auch die Männer immer eng mit der Natur verbunden. Egal, ob sie nun in der Stadt leben oder nicht.
    Die Erde, das heißt, der Boden, spielt dabei eine große symbolische Rolle. In einem ihrer Gedichte lässt Storni sogar ihr eigenes Gesicht auf die Erde fallen, auf diesen fruchtbaren Grund, der in den Städten von Beton überdeckt wird. In Alfonsina Stornis Texten jedoch vermag es die ursprüngliche Kraft der Natur, jegliches urbane Terrain zu durchdringen. In den Augen der Schriftstellerin stellt das städtische Leben eine abgewandelte und in die Moderne geführte Form von Natur dar. Die Kolumne "Historia sintética de un trajecito tailleur- Knappe Geschichte eines Damenkostüms", in der Storni aus der Perspektive eines Kleidungsstücks erzählt, spiegelt die Naturauffassung der Schriftstellerin wider:
    "Eines Morgens begann sich die Haut eines Schafes mit makellosen Haarkringeln zu locken. Reinste Poesie! Von Schafwolle stamme ich schließlich ab- auch wenn sie in Maschinen und Farbbädern, durch Schere und Nadel ihren ursprünglichen Zustand verloren hat, damit ich mich in ein elegantes Damenkostüm verwandle. So hing ich, katalogisiert und mit einem Preisschild versehen, an zwei hölzernen Armen und war schon einige Tage zwischen anderen Kleidern eingequetscht."
    Indem Alfonsina Storni dem Damenkostüm eine Stimme verleiht, hebt sie das Kleidungsstück aus der bloßen Dingwelt heraus und macht es als Sinnbild der Frau zu einem Lebewesen. In anderen Texten spricht sie Aufzügen beispielsweise eine Seelentätigkeit zu oder hinterfragt, ob eine Blume mit der Landschaft, in der sie steht, auch zufrieden ist. Dieser gleichberechtigte Umgang mit der Natur- und Dingwelt im Vergleich zum Menschen findet besonders in Alfonsina Stornis Spätwerk ab den 1930er Jahren seinen Niederschlag.
    Stornis oft surreal anmutende literarische Skizzen werfen einen mitfühlenden, klugen und wachen Blick auf das menschliche Sein, das seine Spuren auf Tischen, in Straßen und in Wohnungen hinterlässt.
    Obwohl Alfonsina Storni in einem anderen Jahrhundert lebte, sind ihre Texte sehr modern und berühren auch den heutigen Leser. Daher ist Hildegard Kellers Werkband "Meine Seele hat kein Geschlecht" eine spannende Angelegenheit. Angesichts des literarischen Stellenwertes von Alfonsina Storni auch ein längst fälliges Buch. "Una revelación - eine Offenbarung wie es auf Spanisch heißt.
    Alfonsina Storni: Meine Seele hat kein Geschlecht. Erzählungen, Kolumnen, Provokationen. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Hildegard Elisabeth Keller, Limmat Verlag 2013, 320 Seiten, 36 Euro.