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Algeriens Jugend
Zwischen Aufbegehren und Islamisierung

Der gealterte algerische Dauerpräsident Bouteflika gilt seit Jahren als handlungsunfähig. Die Folgen dieser politischen Schwäche spürt vor allem die Jugend Algeriens: Ein großer Teil der 16- bis 29-Jährigen ist arbeits- und perspektivlos. Viele wenden sich in ihrer Frustration dem Islam zu - es gibt aber auch eine Gegenbewegung.

Von Hans Stallmach | 22.10.2016
    Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika.
    Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika: Die Jugend vermisst Perspektiven. (imago/ITAR-TASS)
    Bab Al Oued im Westen Algiers ist eines der ärmsten Viertel der algerischen Hauptstadt. Hier spielt sich alles auf der Straße ab; zwischen Gemüse- und Obstständen suchen sich Passanten und Autofahrer ihren Weg. Dazwischen toben Kinder aller Altersklassen. Bab al Oued ist ein konservativ-religiöses Viertel: Auf der Straße sind viele Männer im klassischen weißen Gewand, dem Dschallabija, unterwegs. Fast alle Frauen tragen das Kopftuch, nicht wenige sind vollverschleiert.
    In einer ruhigen Nebenstraße hat Behia ein winziges Geschäft für Keramikartikel aufgemacht. Die junge Frau trägt ein eng anliegendes Kopftuch, das keine einzige Haarsträhne durchlässt. Sie begrüßt den Besucher freundlich, aber ohne Handschlag. Sie habe sich ganz bewusst in dieser religiös geprägten Umgebung niedergelassen, erzählt Behia. Sie schätze vor allem die familiäre, vertraute Atmosphäre.
    "Unsere Familien, das sind nicht unsere Angehörigen, nicht Vater, Mutter, Bruder, Schwester und so weiter. Die Familie hier sind die Nachbarn. Wenn man etwas braucht in der Nacht, wenn man krank ist zum Beispiel, da ruft man nicht Onkel oder Bruder an, auch, wenn sie in der Nähe sind, sondern man wendet sich an den Nachbarn. Denn man ist sicher, dass der Nachbar auch Hilfe leistet. Das ist so in den Vierteln des einfachen Volkes, in der Kasbah, in Bab Oul Ouad, die Viertel sind dafür sehr bekannt."
    Hinwendung zum Konservativen ist ein Trend
    Die Hinwendung zum Konservativen, die Betonung religiöser Werte und Symbole, all das liegt in Algerien derzeit im Trend. Auf der Straße tragen heute viel mehr Frauen das Kopftuch als noch vor zehn Jahren. Hunderte von religiösen Fernseh- und Radiostationen versorgen die Bevölkerung Tag für Tag mit Koran-Rezitationen und Predigten. Und Übergriffe auf Restaurants, die noch Alkohol ausschenken, häufen sich. Gerade junge Menschen seien für die Islamisierung empfänglich, sagt Adlene Meddi, leitender Redakteur der regierungskritischen Tageszeitung "El Watan":
    "Da gibt es mehr Religiosität à la mode, so ein Mainstream, wie er von den Golfstaaten vorgegeben wird, auch von all den Satellitenprogrammen. Da wird ein Modell präsentiert, das sich sehr vom Westen absetzt, das viel stärker die muslimisch-arabische Identität betont. Es ist auch der Versuch, Wurzeln zu suchen in einer Welt, in der es problematisch ist, die eigene Identität zu bestimmen."
    Junge sind arbeitslos oder arbeiten in prekären Jobs
    Aber es gibt auch Gegenbewegungen. Nicht weit vom alten Stadtteil Kasbah entfernt, mitten im europäisch geprägten Zentrum Algiers, hat die autonome Jugendorganisation RAJ ihr Domizil. Die Aktivisten des Rassemblement Actions Jeunesse organisieren zum Beispiel jedes Jahr Sommeruniversitäten, bei denen jungen Menschen in allen Landesteilen zusammen kommen, um über Politik und den gesellschaftlichten Wandel zu diskutieren – von den Behörden kritisch beäugt, manchmal auch verboten. Allein in der Region Algier beteiligten sich diesem Sommer fast 200 junge Menschen. Bei RAJ engagiert sich auch Louiza, 24 Jahre alt. Die junge, westlich gekleidete Frau nimmt kein Blatt vor den Mund: Die algerische Politik, sagt sie, nehme die schwierige Lage ihrer Generation überhaupt nicht mehr wahr.
    "Ich habe einen Universitätsabschluss in Biologie. In Algerien sind die meisten Uni-Absolventen Opfer eines sehr schlechten Ausbildungssystems. Nach dem Studium findet man einfach keinen Arbeitsplatz, der der Ausbildung entspricht. Also sind die Jungen arbeitslos oder sie machen ganz andere Jobs, prekäre Jobs, die vielleicht gerade ausreichen, um am Ende des Monats die Rechnungen zu bezahlen."
    Auch Louiza hat eine prekäre Beschäftigung, die so gar nicht ihrer Ausbildung entspricht: Sie jobbt ab und zu in einer kleinen IT-Firma. Aber mehr noch als die ökonomische Situation kritisiert sie die gesellschaftliche Enge, die Tabus, die gerade jungen Frauen das Leben schwer machen.
    "Man kann nicht frei ausgehen, man kann nicht anziehen, was man anziehen will. Man muss das Kopftuch tragen beziehungsweise respektvolle Kleidung, sonst ist man schlecht angesehen. Und wenn ich eine Arbeit suche, dann begegne ich solchen Schwierigkeiten wie Belästigungen vom Chef oder von den Kollegen. Und ich verdiene viel weniger!"
    Auswanderung als Alternative
    Viele Junge aber glauben nicht an einen gesellschaftlichen Wandel in Algerien. Sie träumen von einer ganz anderen Alternative: dem Ausland. Wie etwa die 20-jährige Boutaka, die noch zur Schule geht, aber nach dem Abschluss studieren will.
    "Ich will im Ausland studieren. Wenn ich in Algerien studiere, bin ich hinterher sicher arbeitslos. Ich würde gerne nach La Rochelle oder nach Bordeaux gehen. Das ist mein Projekt für die Zukunft. Vielleicht werde ich zehn Jahre später nach Algerien zurückkommen. Bei uns wollen viele ins Ausland gehen. In meiner Schule sind es mehr als 50 Prozent des Jahrganges, die dieses Jahr nach Frankreich gegangen sind."
    Heute sind die Straßen Algiers voll von Kindern, die jeden erdenklichen Raum zum Spielen nutzen. Fast ein Drittel der Bevölkerung Algeriens besteht aus Kindern und Jugendlichen unter 14 Jahren. Auch sie werden in einigen Jahren Jobs und Zukunftsperspektiven einfordern, aber die Gesellschaft wird das vermutlich nicht leisten können. Was bleibt also? Sich einfügen in einen konservativen Mainstream? Auswandern? Die junge Louiza hat jedenfalls eine Entscheidung getroffen:
    "Ich wollte auch schon mal nach Frankreich auswandern. Ich habe dann aber auch verstanden, dass unser Land seine Jugend braucht. Weil wir die Zukunft Algeriens repräsentieren. Dieses Land braucht uns."