Forderung des Kriminologen Bernd Maelicke

Gefangene ambulant betreuen statt wegsperren

Ein Häftling steht in seiner Zelle am Fenster in der Justizvollzugsanstalt in Hohenleuben (Thüringen) und zeigt durch die Gitterstäbe den "Stinkefinger".
Wohnen hinter Gefängnismauern © picture alliance / dpa - Britta PedersenMartin Schutt
Moderation: Liane von Billerbeck · 11.04.2017
Gewalt, Erpressung, Drogenhandel: Der Kriminologe Bernd Maelicke kritisiert die Zustände in deutschen Gefängnissen und fordert, weniger Straftäter wegzusperren. Mindestens die Hälfte der derzeit 65.000 Inhaftierten könnten besser ambulant betreut werden.
65.000 Menschen sitzen derzeit in Deutschland im Gefängnis. Für deren Resozialisierung müsse mehr getan werden, fordert der Kriminologe Bernd Maelicke.
"Und das heißt nach dem, was wir heute wissen, möglichst wenige zu inhaftieren", sagte er im Deutschlandradio Kultur. Wirklich gefährlich seien weniger als zehn Prozent der Häftlinge, betonte Maelicke.
Mindestens die Hälfte der Gefängnisinsassen könnten nach seiner Einschätzung ambulant wirksamer betreut werden: durch Maßnahmen der Bewährungshilfe, Wohn- und Arbeitsprojekte, soziales Training und Therapieprogramme. Das sei nicht nur der Resozialisierung förderlicher, sondern würde auch weniger kosten. "Diese stationären Programme, der Strafvollzug, die sind zwanzigmal so teuer wie die ambulanten Maßnahmen", betonte er.

"Wir setzen heute sehr auf Sicherheit"

In den Gefängnissen hingegen herrschten Zustände, die einer Resozialisierung nicht förderlich seien, kritisierte Maelicke: "Wenn wir uns unsere Gefängnisse anschauen, dann haben wir dort eine dominierende Männersubkultur in Anstalten, zum Teil bis zu 1500 Gefangene in Deutschland. Und diese Subkultur der Männer, die ist geprägt durch Gewalt, durch Erpressung, durch Drogenhandel, durch sexuellen Missbrauch."
Große Chancen räumt der Kriminologe einem solchen Umdenken derzeit allerdings nicht ein: "Das ist ein ganz schwieriger Prozess im Zusammenhang mit der Gesellschaft. Wir setzen heute sehr auf Sicherheit. Wir verbinden das Ganze mit dem Thema Globalisierung, Öffnung der Grenzen, Ausländer, Flüchtlinge. Also, die Zeiten zurzeit für solche Resozialisierungsprogramme und solche Überlegungen sind nicht sehr günstig."

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Hilft das Gefängnis, Täter wieder zu resozialisieren? Gute Frage! Der ehemalige Gefängnisdirektor Thomas Galli hat darüber im März ein Buch veröffentlicht, "Die Gefährlichkeit des Täters", und gestern in der "FAZ" auch ein Interview gegeben. Seine Thesen: Der Ansatz, schwere Straftäter resozialisieren zu wollen, funktioniert nicht. Therapien seien überwiegend fruchtlos, gefährliche Straftäter sollten niemals entlassen, sondern in einer Art Knast-WG abgesichert leben. Weniger gefährliche könnten gemeinnützige Arbeit leisten, statt ins Gefängnis zu müssen.
Der Kriminologe Professor Bernd Maelicke ist Gründungsdirektor des Deutschen Instituts für Sozialwirtschaft, Honorarprofessor an der Uni Lüneburg und hat sich schon sein ganzes Berufsleben mit dem Thema Haftstrafen und deren Wirkung befasst, theoretisch und praktisch, angefangen von seiner Promotion Anfang der 70er-Jahre bis zum Buch "Das Knast-Dilemma. Wegsperren oder resozialisieren?" Mit ihm habe ich über die Thesen seines Kollegen Galli gesprochen, Herr Maelicke, ich grüße Sie!
Bernd Maelicke: Ja, ich grüße Sie!

"Wegsperren für immer ist absolut unproduktiv"

von Billerbeck: Wegsperren für immer in einer Art WG für Straftäter? Dieser Vorschlag Ihres Kollegen, ist der tatsächlich sinnvoll?
Maelicke: Nein, wegsperren für immer ist absolut unproduktiv, weder im Hinblick auf Resozialisierung, noch im Hinblick auf Therapie. Es widerspricht auch im Übrigen dem Grundgesetz und dem Menschenbild, das bei uns in unseren Gesetzen verankert ist. Das heißt, wir haben ganz klare Urteile vom Bundesverfassungsgericht, auch bei Lebenslangen, wo gesagt wird, alle müssen bei uns die Chance bekommen, irgendwann – irgendwann, das kann nach 30, 40, 50 Jahren sein – doch wieder entlassen zu werden und in Freiheit zu leben, wenn sie eben nicht mehr gefährlich sind.
Ein Mann schaut aus einer Zelle der Strafanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel. 
Ein Mann schaut aus einer Zelle der Strafanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel. © picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini
von Billerbeck: Nun kennen Sie ja die Kritik Gallis am Strafvollzug, das ja eben genau nicht dazu beiträgt, Menschen zu resozialisieren, sie wieder lebensfähig zu machen für die Gesellschaft da draußen. Ist die Kritik berechtigt?
Maelicke: Die ist zu einem großen Teil berechtigt, ich bin auch einer, der sehr stark das Gefängnissystem, wie wir es weltweit haben, aber auch in Deutschland haben, kritisiert. Weil, Resozialisierung heißt ja die Täter befähigen, dass sie nicht wieder straffällig werden. Und wenn wir unsere Gefängnisse anschauen, dann haben wir dort eine dominierende Männersubkultur in den Anstalten, zum Teil bis zu 1.500 Gefangene in Deutschland, und diese Subkultur der Männer ist geprägt durch Gewalt, durch Erpressung, durch Drogenhandel, durch sexuellen Missbrauch.
Also, das sind alles Umstände, die wirklich für Resozialisierung nicht förderlich sind. Es geht also darum, unser Gefängnissystem zu verbessern, im Übrigen zu verstehen, dass Resozialisierung sich erst beweist nach der Entlassung. Das heißt, Resozialisierung zeigt sich im freien Leben draußen und nicht in der Subkultur des Gefängnisses.

90 Prozent der Straftäter sind eigentlich nicht gefährlich

von Billerbeck: Es ist also noch immer so, dass man aus dem Knast nicht als besserer Mensch rauskommt, jedenfalls nicht aus denen, wie sie bei uns jetzt sind. Aber wenn Sie sagen, das ganze System muss geändert werden, und ob jemand resozialisiert worden ist, das beweist sich erst nach der Entlassung, dann bedeutet das ja auch: Man muss das komplette System der Strafe, der Haftanstalten reformieren. Warum tut man es denn nicht, wenn so viele kluge Menschen wie Sie und auch Ihr Kollege das ja wissen?
Maelicke: Ja, das, was ich sage, und auch, was Herr Galli sagt: Diese Gefängniskritik gibt es schon, solange es Gefängnisse gibt. Wir haben einerseits es mit einem Strafbedürfnis in der Gesellschaft zu tun, übrigens in allen Gesellschaften weltweit, Straftäter wegzusperren. Also, man will sie nicht mehr sehen, das sind Verkörperungen des Bösen. Nun weiß man aber eben, dass wegsperren nicht resozialisieren bedeutet, sondern das Gegenteil von resozialisieren ist. Und da fehlt bei uns ein Bewusstsein in der Öffentlichkeit, übrigens auch bei den Medien, in der Politik, dass mehr als bisher für dieses Resozialisieren getan wird. Und das heißt nach dem, was wir heute wissen, möglichst wenige zu inhaftieren.
Da gehören die Gefährlichsten dazu, da bin ich mit Herrn Galli einverstanden, aber das sind, wenn man sich das mal genau anschaut auch kriminalstatistisch, keine zehn Prozent. 90 Prozent sind Straftäter, die in dem Sinne nicht gefährlich sind. Und für die weiß man, dass da zum Beispiel die Bewährungshilfe viel wirksamer ist oder auch Projekte, Wohnen- und Arbeitsprojekte und soziale Trainingsprojekte und auch ambulante Therapieprogramme. Und da muss umgesteuert werden.
Aber das ist ein ganz schwieriger Prozess im Zusammenhang mit der Gesellschaft. Wir setzen heute sehr auf Sicherheit, wir verbinden das Ganze mit dem Thema Globalisierung, Öffnung der Grenzen, Ausländer, Flüchtlinge. Also, die Zeiten zurzeit für solche Resozialisierungsprogramme und solche Überlegungen sind nicht sehr günstig.

Rückfälle lassen sich auch bei bester Therapie nicht ganz ausschließen

von Billerbeck: Stichwort Therapiesystem, das hat Ihr Kollege ja auch kritisiert. Wie sinnvoll ist es tatsächlich?
Maelicke: Ja, es gibt ja Beispiele, sowohl die Herr Galli zitiert, wo die Therapie misslungen ist und wo sexuale Gewalttäter wieder rückfällig werden, genauso gibt es aber Beispiele, wo die Therapie gelungen ist. Wir haben ja das Problem, wir können nicht in den Kopf der Menschen hineinschauen. Da wird mit Tests gearbeitet und mit Prognosetafeln, das ist alles auch wissenschaftlich in Ordnung, aber es gibt immer wieder die Fälle, wo dann Täter dennoch rückfällig werden.
Und die Schwierigkeit ist nun, ein System zu entwickeln, das diese Risiken, diese Schwierigkeiten so minimal wie nur irgendwie möglich hält, wobei immer der Einzelfall stattfinden kann, dass dann doch jemand, der bestens therapiert worden ist, der bestens betreut worden ist, doch wieder erneut eine Straftat begeht.
von Billerbeck: Nun haben Sie gesagt, die Zeiten sind nicht unbedingt dafür, dass man in der Gesellschaft Offenheit findet für solche Veränderungen, die ja auch Geld kosten. Was braucht es dann an Veränderung in der Gesellschaft, damit auch dort hinter Gittern etwas anders wird?
Bett, Schrank und Nassbereich: So sieht eine Zelle in der JVA Straubing aus.
Bett, Schrank und Nassbereich: So sieht eine Zelle in der JVA Straubing aus.© Deutschlandfunk/ Carol Lupu
Maelicke: Ja, also, erst einmal zu den Kosten: Diese stationären Programme, der Strafvollzug, die sind 20-mal so teuer wie die ambulanten Maßnahmen. Also, wenn wir Täter haben zum Beispiel, die vergleichbar sind, solche im Gefängnis und solche unter Bewährungshilfe, dann können wir feststellen: Die Bewährungshilfe kostet ein Zwanzigstel und die Bewährungshilfe hat das Doppelte an Erfolg. Also, was wir brauchen, ist nicht mehr Geld im System, sondern Umsteuern in diesem System. Und wir haben eben tatsächlich 65.000 Gefangene zurzeit in Deutschland, davon könnte man nach meinen Hochrechnungen oder meinen Empfehlungen mindestens die Hälfte viel besser ambulant betreuen. Der andere Effekt wäre, wir hätten bessere Gefängnisse, wir hätten weniger Überbelegung, wir hätten weniger Subkultur und wir könnten dort mit besserer Personalausstattung und besseren Programmen ebenfalls die Erfolgsquoten verbessern.
von Billerbeck: Einschätzungen waren das von Bernd Maelicke, dem Kriminologen, über die Frage, ob Gefängnis zur Sozialisierung von Tätern beiträgt, Gefängnis in der Form, wie wir es heute kennen. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Maelicke: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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