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"Alle Optionen ins Kalkül ziehen"

Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, glaubt nicht, dass man mit der Sperrung des Luftraums die Gewalt in Libyen stoppen kann.

Harald Kujat im Gespräch mit Christian Brehmkamp | 05.03.2011
    Christian Brehmkamp: Am Telefon begrüße ich jetzt Harald Kujat. Er war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und danach bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses. Guten Morgen, Herr Kujat!

    Harald Kujat: Guten Morgen, ich grüße Sie!

    Brehmkamp: Was geht in Ihnen vor, wenn Sie die Bilder aus Libyen sehen, die Berichte aus dem Land hören?

    Kujat: Natürlich habe ich ähnliche Empfindungen wie alle anderen Menschen auch, es ist eine schreckliche Entwicklung. Wir haben das ja in der Vergangenheit sehr häufig gesehen, dass solche Entwicklungen dann auch Weiterungen haben und dass der Funke auf andere Länder überspringt. Also wir wissen gar nicht, wo diese Entwicklung einmal enden wird.

    Brehmkamp: Der Funke überspringt, sagen Sie, welche Länder könnten das sein?

    Kujat: Nun, im Augenblick sehen wir ja, dass es sich insbesondere, diese Entwicklung, auf arabische Länder konzentriert. Es gibt ja auch in anderen arabischen Ländern ähnliche Entwicklungen, die allerdings, was die Gewalt betrifft, noch nicht so weit fortgeschritten ist. Wir haben Ägypten erlebt, wir haben Tunesien gesehen, der Jemen ist ein kritisches Gebiet – das sind Dinge, die nicht nur wir sehr sorgfältig beobachten, sondern insbesondere auch die arabischen Länder offensichtlich mit großer Sorge verfolgen.

    Brehmkamp: Die USA, die EU, alle reagieren zwar mit großer Sorge, aber doch auch ziemlich zögerlich. Warum das?

    Kujat: Nun, es gibt kein Patentrezept, das muss man wissen. Nach dem Eingreifen des Westens im Irak und in Afghanistan ist jeder zögerlich geworden, wenn es darum geht, insbesondere militärische Einsätze dieser Art in das Kalkül zu beziehen.

    Brehmkamp: Aber trotzdem hat man es dort gemacht, und dort starben nicht die Menschen in solchen Bürgerkriegen wie jetzt hier in Libyen.

    Kujat: Nun trotzdem ist das natürlich immer ein großer Schritt. Was ja im Augenblick überlegt wird, diskutiert wird, ist ja die Frage, ob man eine Luftverbotszone einrichten sollte. Auch das ist ja ein erster Schritt eines militärischen Eingreifens bereits, und man muss auch hier sehr sorgfältig überlegen, was bedeutet das, ist man bereit, sich auch darüber hinaus zu engagieren, ist man bereit zu eskalieren, und was wären die Wirkungen auf die Ereignisse am Boden. Und da sieht es eben nicht so aus, dass es – wie immer – ein Patentrezept, das man anwendet und sagt, wir sind in der Lage, dieses Blutvergießen zu beenden.

    Brehmkamp: Wäre denn diese Flugverbotszone überhaupt umzusetzen aus militärischer Sicht? Libyen ist ein riesengroßes Land.

    Kujat: Natürlich wäre der Aufwand militärisch, der militärische Aufwand enorm groß. Das heißt, man müsste sich fragen, wer soll das überhaupt machen. Es sind ja immer die Vereinigten Staaten, die man dabei anschaut, aber die schauen natürlich auf ihre europäischen Verbündeten. Es wäre ein sehr gewaltiger Aufwand, der sich ja auch über einige Zeit erstrecken würde, und dann muss natürlich sagen, was kann man damit erreichen. Kann man damit die Gewalt auf dem Boden stoppen? Sicherlich nicht. Denn wir haben es ja eben gehört, Gaddafi ist zu allem bereit, er hat ja auch Menschen, die sich nach wie vor für ihn einsetzen unten am Boden, die also abhängig sind ja auch von ihm. Das heißt, die Gewalt wird man grundsätzlich damit nicht stoppen können. Und dann muss man sich überlegen, ist man bereit, weiterzugehen, weiter zu eskalieren, notfalls auch Kräfte auf dem Boden einzusetzen. Und diese Bereitschaft kann ich im Augenblick jedenfalls nicht erkennen.

    Brehmkamp: Wir erinnern uns an Bosnien-Herzegowina, Mitte der 90er-Jahre, auch dort fand das Töten erst ein Ende, nach Jahren, als die NATO Luftangriffe flog. Können wir uns dieses Warten denn leisten?

    Kujat: Die Frage ist ja, was bedeutet diese Entwicklung für uns? Man muss immer ... Natürlich sieht man das Schicksal der Menschen dort vor Ort, aber man muss immer auch die Auswirkungen betrachten auf die weitere sicherheitspolitische Entwicklung auf die Nachbarländer, auch auf die eigene Sicherheit. Wir sehen ja auch Tausende von Flüchtlingen dort, Menschen, die das Land verlassen, die entwurzelt sind. Es ist eine offensichtlich auch in Libyen eine große Tragödie, die sich nicht nur jetzt im Augenblick ereignet, sondern die wahrscheinlich noch größer werden wird. Aber es ist eine humanitäre Frage in erster Linie. Und natürlich würde ich sagen, als Mitteleuropäer können wir es uns leisten zuzuschauen, dass sich solche Tragödien ereignen. Aber sie ereignen sich immer wieder.

    Brehmkamp: Heißt das, man sollte erst gar nicht darüber nachdenken, Luftangriffe zu fliegen?

    Kujat: Nein, man muss alle Optionen ins Kalkül einbeziehen. Auch eine Flugverbotszone würde ja bedeuten, dass man zunächst auch Luftangriffe auf die dortige Luftverteidigung durchführen müsste, und das ist natürlich ein enormer Schritt. Man muss ja auch sehen, dass man für die Sicherheit der dort eingesetzten Flugzeuge und Besatzungen sorgen muss. Also es bedeutet ... Selbst eine Flugverbotszone bedeutet bereits ein militärisches Engagement. Es ist ein militärischer Angriff. Das muss man wissen. Und bei militärischen Einsätzen darf man mit dem Denken nicht nach dem ersten Schritt aufhören, sondern man muss diese Dinge bis zum Ende durchdenken, und man muss auch bereit sein, notfalls zu eskalieren, um die gewünschte Wirkung zu erreichen. Und das kann ich im Augenblick jedenfalls noch nicht erkennen.

    Brehmkamp: Aber wie viel Zeit haben wir denn, darüber noch nachzudenken?

    Kujat: Wir haben überhaupt keine Zeit eigentlich. Bei humanitären Katastrophen hat man überhaupt keine Zeit. Es gibt ein japanisches Sprichwort, das sagt: Ein Menschenleben wiegt so viel wie die Erdkugel. Und hier sterben bereits viele Menschen, sind bereits viele Menschen gestorben, es werden noch mehr Menschen sterben, das heißt, man hat eigentlich gar keine Zeit. Die internationale Gemeinschaft müsste eigentlich sofort reagieren. Hinzu kommt eben, dass wir es mit Gaddafi mit einem besonders grausamen und geradezu terroristischen Menschen zu tun haben – wir wissen das ja auch aus der Vergangenheit –, und das ist kein Zufall, dass sich diese Dinge ereignen, sondern das ist eine Entwicklung, die man sogar hätte vorhersehen müssen. Aber auch diese Entwicklung hat die internationale Gemeinschaft nicht gesehen, wie so oft in der Vergangenheit.

    Brehmkamp: Eine nicht unwichtige Frage dabei wäre ja, wie so ein Einsatz rechtlich abzusichern sei.

    Kujat: Das kommt hinzu. Wir müssten natürlich sehr schnell eine Entscheidung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen haben, ein solcher Einsatz muss legitimiert sein, aber es gibt natürlich auch andere Möglichkeiten, wie wir in der Vergangenheit gesehen haben. Voraussetzung ist in jedem Fall, dass wir hier eine Geschlossenheit der internationalen Staatengemeinschaft erreichen, eine Geschlossenheit, die auch die wesentlichen arabischen Staaten mit einbezieht – das ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang. Wir müssen immer daran denken, dass wir hier nicht eine Entwicklung befördern dürfen, die dazu führt, dass Dinge wie diese Gewalt in anderen Staaten sozusagen über unser Handeln mit initiiert werden. Dies halte ich für einen ganz wichtigen Punkt.

    Brehmkamp: Mit einbeziehen sagen Sie, müsste man von der arabischen Welt vielleicht auch mehr fordern? Es gibt ja auch noch die Arabische Liga.

    Kujat: Sie haben völlig recht. Sie haben völlig recht, aber das sind Dinge, die wir auch in der Vergangenheit ja gesehen haben: Die Arabische Liga ist nicht besonders handlungsfähig. Auch hier kommt natürlich hinzu, dass es widerstreitende Interessen gibt, aber ich würde schon sagen, dass gerade in diesem ganz speziellen Fall Libyen – denn Libyen unterscheidet sich doch sehr deutlich auch von anderen Fällen –, dass wir hier mit der Unterstützung der Arabischen Liga rechnen können, und das halte ich für einen ganz wesentlichen politischen, das heißt sicherheitspolitischen Aspekt.

    Brehmkamp: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie eben ja gesagt, die Europäische Union hat mal wieder eine Entwicklung verschlafen. Wie kann man denn das für die Zukunft ausschließen? Noch eine neue Abteilung in Brüssel?

    Kujat: Nein, es ist ja nicht nur die Europäische Union, sondern diese Entwicklung, wie sie in Tunesien begonnen hat und in Ägypten dann fortgesetzt und jetzt auch in Libyen, diese Entwicklung haben wir alle nicht vorhergesehen – nicht nur die Europäische Union. Man sollte eigentlich erwarten, dass sozusagen unser politisches Frühwarnsystem so was rechtzeitig erkennt und dass man dann auch Optionen rechtzeitig bedenkt und sich auf solche Situationen vorbereitet. Aber wie das immer so ist in der Politik und in der Sicherheitspolitik insbesondere, es ist schwierig, so etwas vorherzusehen, und ganz offensichtlich haben wir hier auch die Entwicklung verpasst. Aber ein entscheidender Aspekt dabei ist, dass eben gerade die Europäische Union in der Außen- und Sicherheitspolitik noch nicht die Fortschritte gemacht hat, noch nicht die enge Zusammenarbeit erreicht hat, die wir eigentlich wollen. Wir brauchen auch dabei natürlich nicht nur ein politisches, sondern auch ein militärisches Frühwarnsystem, das heißt, in der Europäischen Union müssen wir auch auf militärischem Gebiet sehr viel enger zusammenarbeiten und auch unsere Kräfte bündeln, auch in technologischer Hinsicht.

    Brehmkamp: Der Generalinspekteur der Bundeswehr a.D., Harald Kujat war das. Herzlichen Dank für das Gespräch!

    Kujat: Ich danke Ihnen!