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Alles andere als eine Verurteilung ist undenkbar

In Srebrenica wurden rund 8000 Moslems von Serben ermordet - unter den Augen von niederländischen Blauhelmsoldaten. Der Prozess gegen den serbischen General Ratko Mladic in Den Haag erinnert die Niederlande nun wieder schmerzlich daran.

Von Kerstin Schweighöfer | 06.06.2011
    Eine Rekonstruktion der Eroberung von Srebrenica im niederländischen Fernsehen. Immer wieder setzen sich die Niederländer in diesen Tagen mit jenen verhängnisvollen Ereignissen im Juli 1995 auseinander. Die Verhaftung von Ratko Mladic hat sie vielen Menschen wieder ins Gedächtnis gerufen – und alte Wunden wieder aufgerissen.

    Waren es doch niederländische Blauhelme gewesen, sogenannte Dutchbatters, die den Völkermord an knapp 8000 moslemischen Jungen und Männern nicht hatten verhindern können. Das Selbstbild einer moralisch überlegenen Nation, die es seit Jahrhunderten gewöhnt war, Andersglaubenden und -denkenden Schutz zu bieten, und die nur allzu gerne den moralischen Zeigefinger auf andere richtete – dieses Selbstbild war ins Wanken geraten. "Srebrenica ist für uns zum nationalen Trauma geworden", sagt Balkan-Experte Jair van de Lijn vom renommierten Institut für internationale Beziehungen Clingendael in Den Haag:

    "Seitdem haben wir das Gefühl, etwas gutmachen zu müssen. Außerdem wollen wir uns weiterhin als Hüter der Menschenrechte sehen, immerhin gilt Den Haag als Welthauptstadt für Frieden und Gerechtigkeit."

    Bei den EU-Beitrittsverhandlungen von Serbien traten die Niederländer deshalb als Einzige auf die Bremse und hatten Chefankläger Serge Brammertz unterstützt: Erst Mladic in Den Haag, dann Europa, lautete die Forderung der Regierung in Den Haag. Als Mladic nach 16 Jahren dann endlich in Den Haag eintraf, schien eine gesamte Nation kollektiv aufzuatmen. Wie groß die Genugtuung war, zeigte auch die Reaktion von Joris Voorhoeve, er war 1995 niederländischer Verteidigungsminister:

    Endlich sei Gerechtigkeit möglich, sagte Voorhoeve. Für ihn ist Mladic schon jetzt einer der größten Kriegsverbrecher aller Zeiten.

    Dabei muss der Prozess gegen den früheren bosnisch-serbischen General erst noch beginnen und es gilt auch in den Niederlanden das juristische Prinzip: unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen werden konnte. Eine ähnliche Reaktion, wenn auch nicht ganz so heftig, zeigten betroffene niederländische Politiker und Militärs auch nach der Verhaftung von Radovan Karadzic im Sommer 2008. Das zeigt, wie stark das Gefühl der Niederländer ist, mit diesen beiden Männern noch eine ganz besondere Rechnung begleichen zu müssen. Mladic und Karadzic sollen die volle Verantwortung tragen, so der Amsterdamer Strafrechtsexperte Geert Jan Knoops:

    "Unsere Gesellschaft hat das Trauma Srebrenica immer noch nicht bewältigt, es sitzt tief, unglaublich tief. Alles andere als eine Verurteilung ist undenkbar, denn dann können wir Niederländer sagen: Seht her, wir hatten noch nicht einmal den Anschein einer Chance, diesen Völkermord zu verhindern. Viele unserer damaligen politischen und militärischen Befehlshaber brennen geradezu darauf, dies klarzustellen und im Gerichtsaal dann eine Sternstunde zu erleben."

    Um ihre eigene Rolle in Srebrenica zu klären, haben die Niederländer im Laufe der Jahre zwar eine ganze Reihe von Untersuchungen durchgeführt, die wichtigste ist der sogenannte NIOD-Rapport, 6000 Seiten stark. 2002 wurde er präsentiert und führte zum Rücktritt der damaligen Regierung von Premierminister Wim Kok. Aber zur Rechenschaft gezogen wurde niemand, der damalige Dutchbat-Kommandant Thom Karremans wurde sogar befördert. Ihr Bedauern den Überlebenden und den Angehörigen der Opfer gegenüber hat die niederländische Regierung nie ausgesprochen – obwohl kritische Stimmen immer wieder forderten, Den Haag müsse endlich Farbe bekennen und zugeben, damals jämmerlich versagt haben. Darauf plädiert auch Jan Pronk, er war damals Minister für Entwicklungszusammenarbeit:

    "Natürlich geht es nicht darum, Schuld zu bekennen, aber wir müssen endlich erkennen: Wir waren dabei. Wir waren dabei, und deshalb tragen wir in irgendeiner Form auch Mitverantwortung. Doch stattdessen versuchten wir immer nur krampfhaft, dieses Kapitel endlich zu schließen. Die Überlebenden und Angehörigen der Opfer sind dazu außerstande – wie können ausgerechnet wir Niederländer dieses Kapitel dann einseitig schließen wollen!"