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Alles ist möglich

Berlin ist das Pflaster, auf dem er lebt und über das er schreibt: Hier, im einstigen West-Berlin, ist Michael Wildenhain 1958 geboren, hier hat er studiert, und hier hat er sich schließlich der Hausbesetzerszene angeschlossen, die Anfang der 80er Jahre den Kampf um Grund und Boden ansagte. Nun liegt von Michael Wildenhain ein neuer Roman vor - und erneut bildet der militante Widerstand gegen den Staat dessen Kristallisationspunkt.

Von Claudia Kramatschek | 12.01.2009
    Berlin im Frühsommer 1970: die ersten Hippies verbreiten den Duft von Patchouli und die Parole von love, peace and happiness - und zwischen Tariq, dem begabten Sohn einer libanesischen Familie, und Jochen, der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammt, beginnt eine so stürmische wie wechselhafte Freundschaft. Denn bald schon werden sie entdecken, dass sie nicht nur die gleiche Frau lieben, die ihnen über Jahre hinweg abwechselnd ihre Zuneigung schenken wird. Nein, was sie vor allem verbindet, ist ihrer beider Liebe zur Mathematik, und die hat von Anfang an den vielsagenden Geschmack des Klandestinen.

    "Was müsste man miteinander schneiden, um ein Ergebnis mit vier Dimensionen zu erhalten? Nein besser, zwei vierdimensionale geometrische Schnittfiguren, damit man als deren Schnitt einen normalen Körper bekäme? Auf die Art erhält man im nächsten Schritt wieder eine Fläche, danach eine Strecke, bei zwei Ebenen eine Gerade, immer so fort. Aber wenn man umgekehrt, in die andere Richtung, die Richtung höherer Dimensionen denkt? Es geht immer weiter. In beide Richtungen. Stell dir vor, es hat keine Grenzen.' Nach einer Pause fügt er, überwältigt und berauscht von der ihm ungeheuer erscheinenden Idee, hinzu: 'Alles ist möglich, Jochen. Alles."

    Alles ist möglich - dieser Satz bildet den heimlichen Resonanzraum in Michael Wildenhains Roman "Träumer des Absoluten", mit dem Wildenhain im Spiegel seiner beiden männlichen Protagonisten erneut Rückschau hält auf die Geschichte des militanten Widerstandes gegen den Staat, dem sich auch Tariq und Jochen, zu Romanbeginn etwa 13 Jahre alt, wenige Jahre später anschließen werden. Der Weg, den sie gehen; das Ende, das sie nehmen werden, könnte dabei nicht unterschiedlicher sein: Denn während Jochen sich Mitte der 90er Jahre als Universitätsprofessor wieder findet, wird Tariq sich dem aufkeimenden islamistischen Terror angenähert haben.

    Ausgelöst wurde der Gedanke, diesen Roman zu schreiben, durch eine sich auch im Buch befindende Episode. Und zwar den Prozess gegen die Antiimperialistischen Zellen AIZ, im Prinzip gegen zwei Studenten, die im linksradikalen Milieu politisiert worden sind, verhaftet worden sind, und schließlich sind sie dann in Haft relativ rasch zum Islam konvertiert und haben das begründet mit dem Umstand, dass die einzige Möglichkeit, sich dem US dominierten Imperialismus und Kapitalismus entgegen zu stellen, von Seiten des militanten Islam käme. Für mich war das in der Rückschau nach dem 11. September 2001 wie ein Zeichen an der Wand. Ein zwar kleiner Reflex auf eine weltweite Tendenz, aber doch auch bei uns sichtbar. Und diese große geschichtliche Trift hat mich interessiert, anhand einer Person, dieses Tariq.

    Tariq ist daher auch die heimliche Zentralfigur des Romans - er ist der Träumer des Absoluten. Denn von Anfang an zeichnet er sich aus durch unbedingte Unbeugsamkeit und eine Kämpfernatur, die ihn die Konfrontation quasi suchen lässt: Legt er sich zu Beginn des Romans noch mit seinem Turnlehrer an; entlarvt er wenig später seinen Schuldirektor als alten Nazi und wendet sich schließlich - politisiert durch die aufkeimende Anti-Atomkraftbewegung und die ersten Hausbesetzungen - gegen den Staat. Auch Jochen - Wildenhains Ich-Erzähler und Chronist des Geschehens - schließt sich Anfang der 80er Jahre den Hausbesetzern in Berlin-Kreuzberg an. Doch zu jedem Zeitpunkt empfindet er sein Engagement für die politische Sache als unzulänglich - denn Zweifel und Zerrissenheit quälen ihn: Die Welt der Bücher scheint ihm ein Verrat am aktionistischen Gebot der Stunde - die wachsende Militanz der linksradikalen Szene verstört seine bürgerliche Moral. Als er nach einer Straßenaktion - wieder einmal sind die Scheiben einer Bank zu Bruch gegangen - vor den Polizisten flüchtet, ist dies der Anfang seines Ausstiegs aus der Bewegung:

    Ich flüchte über Höfe, durchquere Parks, versenke den zuoberst getragenen Pullover, die Jacke in einem Container, um nicht an der Kleidung erkannt zu werden, entferne mich von den Sirenen, Blaulichtern, den Hunden, der Polizei. Nicht ohne Scham erkenne ich, dass die Zweifel an meinem Handeln, die Angst verhaftet zu werden, sich ähnlich schnell eingestellt haben wie die Begeisterung des Beginns. Sobald ich an die nächtliche Flucht und die Genossen denke, durchfährt mich eine Hitze, ein Gefühl der Schuld.

    Nur kurze Zeit danach stirbt ein Demonstrant bei einem Polizeieinsatz, Jochen zieht seinen endgültigen Schlussstrich; da ist er bereits an der Uni immatrikuliert. Seinen Freund Tariq aber, der weiter in einem Haus verharrt, das geräumt werden soll, verliert er aus den Augen. Jahre vergehen - mittlerweile ist die Mauer gefallen, wir schreiben 1997 - da trifft Jochen Tariq unvermutet wieder: in einem Gerichtssaal, in dem besagter Prozess gegen die zwei zum Islam konvertierten Mitglieder der revolutionären Zellen stattfindet:

    'Sonderbar die beiden, oder?' - Wie benommen löst er meine Finger von seiner Jacke, dann sagt er seltsam undeutlich, als sei er gezwungen zu flüstern: 'Wir haben mit dem Kommunismus die Aufklärung besiegt. Und jetzt kommt etwas Neues, das wir nicht verstehen.' Ungläubig starre ich ihn an. 'Erinnerst du dich an die Erklärung der RAF zu der Aktion Schwarzer September, dem palästinensischen Kommando während der Olympischen Spiele in München? Haben wir mal gemeinsam gelesen, soll von Ulrike Meinhof sein.' Durch die Aktion wird das Wesen des antiimperialistischen Kampfes auf eine Weise deutlich gemacht wie noch durch keine Aktion in Westdeutschland.

    Michael Wildenhain berührt somit anhand von Tariq - der sich im Roman übrigens erst sehr spät auf seine arabische Herkunft zurückbesinnt - die für den Roman und für ihn als Autor zentrale Frage: Wie verhält sich das Kollektiv zum politisch handelnden Einzelnen - und wie die einstige linksradikale Bereitschaft zur Militanz zum Djihadismus unserer Tage.

    Diese Frage ist allerdings in einer spezifischen Art gestellt, es dreht sich in Bezug auf politische Bewegungen im Allgemeinen um die Frage: Wie weit muss ich als Individuum meine Individualität aufgeben, um zugunsten eines Kollektivs wirkungsvoll werden zu können? Diese Frage hat sich für mich tatsächlich konkret gestellt, als ich selbst Anfang der 80er Jahre in die linksradikale Bewegung integriert war: Was geschieht eigentlich, wenn es mir passieren würde, dass ich sterbe. Und diese Frage stellt sich natürlich mit dem Djihadismus neu. Weil, die haben einen klaren Fluchtpunkt, nämlich das Jenseits, und insofern sind sie in ihrem Opfer fürs Kollektiv gleichzeitig in dem utopischen Zustand angekommen und zwar in dem besten aller Zustände, einen paradiesischen Zustand. Der Westen als in der Tradition der Aufklärung stehend, hat diese unter Umständen notwendige Opferbereitschaft nicht mehr vorzuweisen, die islamische Welt schon. Und damit haben sie zwar eine Unterlegenheit, was die Waffenarsenale betrifft, aber sie haben ganz klar eine Überlegenheit, was den unbedingten Willen betrifft.

    Wildenhain macht jedoch zugleich auch deutlich, dass dieser nach außen hin heroische Wille nicht nur jenseits aller Tradition der Aufklärung steht, sondern auch etwas Verzweifeltes in sich birgt. Denn Tariq wird sich dem Djihadismus erst dann zuwenden, nachdem er als Kronzeuge nicht nur seine eigenen früheren Ideale, sondern auch seine Freunde, Jochen eingeschlossen, verraten und zudem bei einem Versuch, sich per Gesichtsoperation eine neue Identität zuzulegen, wortwörtlich sein Gesicht verloren hat. Am Ende des Romans wird er, gebrochen und aller Ideale beraubt, letztlich den Tod wählen, um sein Leben nicht als Irrtum zu besiegeln.

    Das ist der geheime große Bogen, den Michael Wildenhain im Hintergrund seines Romans vollzieht - wie in Kontrapunktur zu den vielen Einzelschicksalen, die er mit wunderbaren Details aus den inneren wie äußeren Seelenlandschaften des damaligen politischen Milieus zusammenführt, erzählt in einer so realistischen wie sinnlichen Sprache, die das Historische zugleich vergegenwärtigt und reflektiert, und die ebenso an Tempo gewinnt, wie die Spannung der Handlung steigt.

    Ich habe ja den Roman so geschrieben, dass er zwar im Präsens geschrieben ist, aber trotzdem sehr schnell kenntlich wird als erinnertes Präsens. Und ich denke, dass dieses Präsens zusammen mit einer in meinen Begriffen relativ sinnlichen Schreibweise - also eng an den Details, eng an den unmittelbar sinnlichen Eindrücken -das Gefühl erzeugt, unmittelbar im Geschehen zu sein. Gleichzeitig gibt es immer wieder Passagen, die kenntlich werden lassen, aha, wir befinden uns zwar direkt im erinnernden Kopf des Erzählers, aber der Erzähler selbst ist längst mindestens 15 Jahre, wenn nicht noch weiter in der Zeit fortgeschritten.

    Wildenhains Ich-Erzähler Jochen kann daher getrost als eine Art alter ego des Autors Michael Wildenhain gesehen werden. Mit "Träumer des Absoluten" hat er sich ein Stück weiter verortet und seine eigene Geschichte aufgearbeitet - wissend, dass die Erinnerung immer nur eine im Licht des eigenen Wissens gebrochene Erinnerung sein kann. Herausgekommen ist dabei ein politisch äußerst bewegender, weil psychologisch zwischen Aufbruch und Melancholie oszillierender Roman, der bei allen Zweifeln, ob das Absolute machbar sei, nicht zuletzt einer kämpferischen Generation ihre Hommage erweist.

    Michael Wildenhain: "Träumer des Absoluten"
    (Klett-Cotta Verlag, Stuttgart)