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Alltagstaugliche Rollstühle
Mehr Mobilität für gehbehinderte Menschen

Freunde treffen, zum Arzt gehen oder im Supermarkt einkaufen: Für viele gehbehinderte Menschen ist das oft nur mit Hilfe möglich. Doch das soll sich ändern. Weltweit arbeiten Wissenschaftler daran, Rollstühlen das Treppensteigen beizubringen.

Von Claudia Doyle | 25.01.2017
    Ein Rollstuhlfahrer verlässt einen U-Bahnhof über eine Rampe.
    In Zukunft sollen Rollstühle auch Treppen bewältigen können. (picture alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert)
    Ob man seine Wohnung verlässt, in den Bus einsteigt oder einfach die Straße überquert. Immer geht es dabei über Stufen, Absätze und Bordsteinkanten. Für Rollstuhlfahrer werden solche kleinen Erhebungen zu unüberwindbaren Hindernissen. Denn Rollstühle wurden sehr lange Zeit überhaupt nicht weiterentwickelt, bemängelt Bernhard Wolf, der bis zu seiner Emeritierung im vergangenen Jahr als Professor für Medizinische Elektronik an der TU München forschte.
    "Alle - und man kann wirklich sagen nahezu alle derzeitig verkauften Rollstühle entsprechen nicht dem Stand der Technik. Da wäre schon wesentlich mehr möglich."
    Bernhard Wolf will, dass in Zukunft mehr möglich ist. Unter seiner Leitung haben Studenten einen Rollstuhl entworfen, der Treppensteigen kann. Anders als die meisten herkömmlichen Rollstühle balanciert er bei normaler Fahrt nur auf zwei großen Rädern, die kleinen Vorderräder fehlen. Seine Geheimwaffe sind allerdings die Beine, die wie menschliche Beine aus einer Art Ober- und Unterschenkel bestehen und sich bei normaler Fahrt zwischen den Rädern verstecken. Fährt der Rollstuhl an eine Treppe heran, erkennen die eingebauten Kameras das Hindernis und die Beine fahren aus. Stufe für Stufe heben sie dann den Rollstuhl empor.
    Erster Prototyp setzt auf Raupensystem
    Der Münchner Forscher ist nicht der einzige, der gehbehinderten Menschen zu mehr Mobilität verhelfen will. Auch den Maschinenbaustudenten Bernhard Winter beschäftigt das Problem. Angefangen hat alles in einem Seminar an der ETH Zürich.
    "Ich wollte einen treppensteigenden Roboter bauen. Der Professor hat dann gefragt: Warum macht ihr das nicht für Menschen? Und so ist die Idee entstanden, einen treppensteigenden Rollstuhl zu kreieren. Und ich finde natürlich das hat viel mehr Sinn gemacht. Das hilft Leuten. Da war ich sofort überzeugt, dass das etwas Großes sein wird."
    Inzwischen haben Bernhard Winter und seine Kollegen einen Prototyp gebaut. Auch er balanciert nur auf zwei großen Rädern. Anstatt beweglicher Füße setzen die Schweizer Forscher auf ein Raupensystem. Erreicht der Rollstuhl eine Treppe oder einen Tritt, senken sich zwei Raupen auf den Boden. Darauf gleitet der Rollstuhl dann im Rückwärtsgang die Treppe nach oben. Selbst Wendeltreppen erklimmt der Raupen-Rollstuhl dank seiner großen Standfläche ohne Probleme. Kreiselstabilisatoren regulieren die Sitzposition, sodass der Rollstuhlfahrer dabei immer aufrecht sitzt.
    Finanzierung mit Crowfunding-Kampagne
    Bei der Entwicklung sind auch Rollstuhlfahrer eingebunden. Sie testen die Prototypen immer wieder auf Komfort und Bedienungsfreundlichkeit.
    Aber es war natürlich schon ein bisschen Herzklopfen, als zum ersten Mal eine behinderte Person draufgesessen ist. Aber dann relativ schnell gewöhnt man sich dran und die Leute haben kein Problem damit und Spaß damit rumzufahren. Und sind auch bereit, Risiken einzugehen. Also zum Teil machen die Sachen, vor denen wir Angst haben.
    Die jungen Schweizer Forscher wollen den Rollstuhl jetzt bis zur Marktreife bringen und haben daher ein Unternehmen gegründet: Scewo. Da alle aus dem Entwicklerteam noch studieren, können sie sich zurzeit nur abends oder am Wochenende dem Projekt widmen. Um es zu finanzieren, haben sie vor kurzem eine Crowdfunding-Kampagne gestartet.
    "Wir bekommen fast täglich E-Mails von Leuten, die den Rollstuhl testen wollen oder die einen kaufen wollen. Und wir müssen immer sagen, dass wir nur einen haben, nur einen Prototypen. Und dann fragen sie: Warum macht ihr nicht schneller? Und ja, wir sind halt noch am Studieren."
    Dass sein Rollstuhl schnell Marktreife erreicht, das wünscht sich auch der Münchner Forscher Bernhard Wolf. In seinem Projekt stand von Anfang an noch eine zweite Neuerung im Vordergrund. Der Rollstuhl soll gleichzeitig als Fahrersitz für Autos fungieren können. Dann könnten Rollstuhlfahrer ihre Einkäufe im Kofferraum verstauen, ins Auto steigen und – je nach Grad der Behinderung – selbstständig nach Hause fahren.
    Wenig Interesse in der Autoindustrie
    Wir hatten versucht, Autofirmen als Partner zu bekommen. Die waren alle ziemlich reserviert. Der Grund liegt einfach daran, dass niemand sagen wir mal ein Fahrzeug bauen möchte, dass in irgendeiner Form etwas mit Behinderung oder mit eingeschränkten Leuten zu tun hat. Autofahren tun immer nur junge, dynamische Leute, so sieht man es ja auch auf den entsprechenden Werbeplakaten.
    Bisher existiert der treppensteigende und theoretisch autotaugliche Rollstuhl nur als Prototyp im Maßstab eins zu zwei. Alle Komponenten sind jedoch so gebaut, dass sie ohne Probleme im Originalmaßstab funktionieren würden. Zurzeit ist Wolf auf der Suche nach einem Partner, der den Rollstuhl fertigen und vertreiben will. Doch diese Suche gestaltet sich schwieriger als gedacht. Für Wolf komplett unverständlich.
    "Und wenn man mal den Markt anguckt, der da bereits da ist und immer größer wird mit eben der älter werdenden Bevölkerung, dann nimmt mich schon Wunder, dass da niemand drauf eingeht."
    Bernhard Wolf weiß auch schon genau, was er tun wird, wenn er eines Tages seinen treppensteigenden Rollstuhl im Originalmaßstab vor sich hat.
    "Na ich denk, ich werd's als erstes sofort ausprobieren. Das ist ja der Spaß an der Geschichte."