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Allzu konjunktivisch

Im April 1843 bekommt der Dichter Hans Christian Andersen, er hält sich gerade in Paris auf, Post von einer Vertrauten aus dem heimatlichen Kopenhagen. Soeben sei dort, schreibt sie ihm,

Von Christoph Bartmann | 23.05.2004
    am literarischen Himmel ein Komet entstanden, unheilsschwanger und unheilvoll; der ist so dämonisch, daß man immer nur liest, ihn unzufrieden weglegt und ihn wieder hernimmt; denn man kann von ihm weder loskommen noch ihn bei sich behalten: ‚Was ist denn das?‘ höre ich Sie sagen. Es ist ‚Entweder-Oder‘ von Sören Kierkegaard. Sie machen sich keine Vorstellung davon, welche Sensation es gewesen ist; ich glaube, seit Rousseau seine Confessions auf den Altar legte, hat kein Buch die Lesewelt so durcheinandergebracht wie dieses. Wenn man es gelesen hat, verabscheut man den Verfasser, man verbeugt sich aber tief vor seinem Intellekt und seinen Kenntnissen; besonders wir Frauenzimmer müssen wütend auf ihn sein; wie ein Mohammedaner läßt er uns dem Endlichen zugehörig sein und schätzt uns nur, weil wir gebären und erfreuen und die Mannsbilder erlösen. Im ersten Teil (einem Opus von 54 Bogen) ist er ästhetisch, will sagen böse; alle Leute loben den zweiten Teil, weil er sein zweites Ich darstellt, das bessere, das sich äußert. Ich bin gerade wegen des zweiten Teils noch wütender auf ihn; dort bindet er die Frau an das Endliche. Im Übrigen verstehe ich ein Viertel des Buches nicht, weil es viel zu philosophisch ist.

    Das waren keine guten Nachrichten für Andersen. Seiner notorischen Ruhmsucht mußte es mißfallen, daß nun in Kopenhagen ein Anderer für die literarischen Sensationen sorgte; und noch schlimmer mußte es sein, daß dieser Andere ihm nichts Gutes wollte. Ein paar Jahre zuvor hatte der damals sechsundzwanzigjährige Theologiestudent Sören Kierkegaard sein erstes Buch mit dem Titel "Aus eines noch lebenden Papieren" auf einen Achtzig-Seiten-Verriss von Andersens zwei Jahre zuvor erschienenem Roman "Nur ein Spielmann" verwendet, ein Vorfall, von dem sich Andersens Verhältnis zu Kierkegaard nie mehr ganz erholen sollte. Nun also diese Meldung vom aufgehenden Stern eines philosophierenden Belletristen, eines Mode-, ja "Damenschriftstellers", wie es später heißen sollte. Eines Autors, der es sich leisten konnte, mit dem Rücken zum Publikum zu schreiben und der trotzdem oder eben deshalb von ihm angebetet wurde. Wahrscheinlich hatte auch die Kopenhagener Freundin von "Entweder-Oder" nur das 130 Seiten lange Tagebuch des Verführers am Ende des ersten, des "Entweder"-Teils gelesen, und wahrscheinlich hatte sie, wie das Gros der Leserschaft, die restlichen 600 Seiten nicht verstanden.

    Wie auch immer, die Sensation war da, verursacht von einem Schriftsteller, der auf unerhörte Weise philosophische Reflexion mit autobiographischer Konfession verband, dies aber keineswegs in erbaulicher Absicht. Von Furcht und Zittern handeln seine Bücher schon im Titel, vom "Begriff Angst" und von der Krankheit zum Tode; und geschrieben sind sie irritierenderweise unter wechselnden Pseudonymen: Viktor Eremita, Vigilius Haufniensis (zu deutsch: Der Beobachter von Kopenhagen), Johannes de Silentio, Constantin Constantius oder Johannes Climacus. Sein in die zehntausende von Seiten gehendes Werk ist das Ergebnis weniger Jahre. Den Rest seines kurzen Lebens sollte sich Kierkegaard dann vor allem der Polemik widmen, dem kräftezehrenden Streit mit der Amtskirche, vertreten durch die Bischöfe Mynster und Martensen. 1855 ist Sören Kierkegaard, der von Jugend an überzeugt war, er werde wie Jesus Christus sein 33. Jahr nicht überleben, zweiundvierzigjährig in Kopenhagen gestorben.

    Wer war dieser Sören Aabye Kierkegaard, dem der dänische Theologe Joakim Garff eine große Biographie gewidmet hat, die nun in deutscher Übersetzung vorliegt; die erste übrigens seit mehr als 60 Jahren und überhaupt erst die dritte (die erste, noch immer hochinteressante Kierkegaard-Biographie hatte 1877 der dänische Kritiker und Nietzsche-Verehrer Georg Brandes vorgelegt). Sören Kierkegaard war, so mag es deutschen Lesern vorkommen, eine Kreuzung aus Nietzsche und Kafka. Mit Nietzsche verbindet ihn die Ecce-Homo-Gebärde, der literarische Größenwahn, die Selbstinszenierung zum menschheits-exemplarisch leidenden, wenn auch natürlich unverstandenen Einzelnen. Aristokratischer Radikalismus, gepaart mit einer reaktionären Haltung im Politischen, ist ihre Geisteshaltung. Mit Nietzsche teilt er auch den Spott über das eigene Land, über nationale Kleingeistigkeit, Scheinheiligkeit und Bigotterie – wobei Kierkegaard freilich ein passionierter Kopenhagener war und blieb, der zwar oft die Wohnungen wechselte, sonst aber ungern reiste und der Dänemark in seinem ganzen Leben nur für drei Berlin-Aufenthalte verließ.

    An Nietzsche erinnern auch die Gerüchte über eine angebliche Nacht im Bordell, die ebenso ein Grund für Kierkegaards fragile Gesundheit gewesen sein könnte wie für seine Misogynie. Frau oder Schrift, das ist das wahre Drama, das wirkliche Entweder-Oder, das Kierkegaard in seinen Schriften als ein philosophisches in Szene setzt und zugunsten der Schriften entscheidet. Die Verlobung, und zwar die gescheiterte oder besser: die von Kierkegaard planmäßig zum Scheitern gebrachte Verlobung mit Regine Olsen rückt den Dänen an die Seite des anderen großen Ver- und Entlobers der Literaturgeschichte, an die Franz Kafkas. Wie Kafka findet Kierkegaard den höchsten Genuß und naturgemäß die tiefste Qual im entschluss- und handlungs-, ja lebenshemmenden Paradox. Wie Kafka schickt Kierkegaard seine Gedanken in eine negative Spirale, wie Kafka pflegt er den Konjunktiv; nicht den der Möglichkeit, sondern den der intellektuell erwiesenen Unmöglichkeit. "Mein Leben ist leider allzu konjunktivisch; Gott gebe, ich hätte ein wenig indikativische Kraft." Kraft etwa zum Heiraten, aber Kierkegaard ist wie Kafka ein Graphomane, der auf Dauer nur einem Herren dienen kann und will. Welchem Herrn aber? Gott? Oder dem intellektuellen Wort? Oder beiden? Auf die alte Schlagerfrage "Kann denn Liebe Sünde sein?" jedenfalls hätte Kierkegaard eindeutig mit Ja geantwortet.

    Garffs fast 1000 Seiten starke Biographie wird wohl auf lange Zeit die umfassendste und verläßlichste Darstellung von Kierkegaards Leben und Werk bleiben. Dabei ist sie weitaus mehr als nur eine gelehrte Materialhalde. Im Gegenteil, es handelt sich um ein geistreich geschriebenes und geradezu munter erzählendes Buch, das stets versucht, die Kierkegaardschen Abstraktionsspiralen zu "erden". Und die Erde seiner Abstraktionen ist nun einmal Kopenhagen, und die Zeit, in der Kierkegaard die moderne Existenzphilosophie begründet, ist Dänemarks "Goldenes Zeitalter", die Jahre zwischen 1815 und 1848. Analog zu Toulmins und Janiks berühmtem Buch "Wittgensteins Wien" könnte Garffs Biographie auch "Kierkegaards Kopenhagen" heißen. Garff stellt die kulturellen Kontexte wieder her, die eine rein ideengeschichtliche Betrachtungsweise üblicherweise ausklammert.

    Er stellt Kierkegaard in eine Umwelt, die (was schon Georg Brandes unangenehm auffiel) vorwiegend aus Theologen besteht, aber eben nicht nur aus ihnen, sondern ebenso aus Handwerkern, Geschäftsleuten oder Prostituierten. Kierkegaard hat sie gekannt, und sie haben Kierkegaard gekannt, denn er war ein Original, ein "character", eine stadtbekannte und gern in Zeitungen karikierte Figur, ein Flaneur auf den Wällen des damals noch ringsum befestigten Kopenhagen, ein Dandy, der das stattliche väterliche Erbe bei seinem Tode nahezu aufgebraucht hatte. Schon der Student hatte sich seine Exzentrik einiges kosten lassen:

    Aus dem in Wolle gezwängten Jüngling, den die Schulkameraden Socken-Sören nannten, entwickelte sich damals ein eitler Dandy, der wie maßgeschneidert zur Spätromantik paßte. Mit Hilfe von Darlehen und Krediten und ganz im Gegensatz zur herrnhutischen Genügsamkeit im Elternhaus hat er sich ungeheure extravagante Marotten angewöhnt. Da gab es einen immensen Konsum an Theatervorstellungen, an philosophischer und ästhetischer Literatur, Cafébesuchen, extravaganten Mänteln (der rotkohlfarbene wird durch einen zitronengelben ersetzt), Hüten, Fiakern, Speisen, Weinen, kistenweise Zigarren der Marken Las tres Coronas und La Paloma mit zugehörigen Futteralen sowie monatlich 500 Gramm Pfeifentabak der venezulanischen Variante Varinas, eine echte, reine und erstklassige Ware, die in Packungen à 6 Rollen in Binsenkörben gestapelt waren. Darüber hinaus figurieren Spazierstöcke, Seidenschals, Handschuhe und anderer Lebensbedarf, darunter etliche Flaschen Eau de Cologne auf den Rechnungen. Ende Oktober hatte ein gewisser Sager dem verschwenderischen Studenten ein Wochendarlehen von 60 Reichstalern vorstrecken müssen, und der Vorstand der Studentenvereinigung kann Ende des Jahres mitteilen, daß Kierkegaard jetzt mit dem Kontingent vier Monate in Verzug sei und daß ihm folglich der Zugang zu den Räumen der Vereinigung verwehrt werde, wenn er den schuldigen Betrag nicht baldigst entrichte. Die Kreditwürdigkeit des allzu spendablen Dandys wird allmählich überschaubar und somit das Aufnehmen neuer Kredite peinlich. ‚Meine Situation, als ich von Rask Geld lieh und Monrad hinzukam‘, berichtet das Tagebuch denn auch voller Scham im Juni 1836, als Kierkegaard das Pech hatte, sich gleichzeitig in der Gesellschaft zweier seiner Gläubiger zu befinden.

    So runden sich Sünde und Schuld, Verschwendung und Schulden zum großen Lebensthema Sören Kierkegaards; wenn er nicht von Gläubigen umgeben war, dann, so könnte man kalauern, bestimmt von Gläubigern. Während man im Thema von Sünde und Schuld das väterliche und puritanische Erbe erkennen kann, erweist sich Kierkegaard, der Schuldner und Verschwender, als Ankömmling in einem neuen, dem Goldenen Zeitalter. Als Kierkegaard 1813 als Sohn eines vermögenden und tief religiösen Wollwarenhändlers zur Welt kam, war es indes noch nicht angebrochen. Im selben Jahr sollte Dänemark zunächst einmal den Staatsbankrott erleiden, verursacht auch durch die Verheerungen der napoleonischen Kriege, in deren Verlauf Kopenhagen im Jahre 1807 von der englischen Flotte in Brand geschossen und weitgehend zerstört wurde. 1814 muß Dänemark überdies die Herrschaft über Norwegen abgeben und fällt vom Status einer europäischen Großmacht auf den eines Kleinstaates zurück, der noch bis 1849 von einem absolutistischen Königtum regiert wird – eine Staatsform, die Kierkegaard stets als die einzig mögliche ansah.

    Im Zuge der zwanziger und dreißiger Jahre jedoch blüht Dänemark ökonomisch und kulturell auf. Die Hauptstadt erhält ein neues, neoklassizistisches Gesicht, die Künste und Wissenschaften erblühen. Goethe und die deutschen Romantiker beflügeln die dänische Dichtkunst, der Physiker Ørsted entdeckt den Elektromagnetismus, der dänisch-römische Bildhauer Thorvaldsen erregt mit seinen Riesenstatuen europaweites Aufsehen, und Hegel ist der Philosoph der Stunde, während gleichzeitig der protestantische Kirchenvater Grundtvig das Dänentum auf eigene, nationalromantische und "nordische" Füße stellt. Es ist ein fruchtbares kulturelles Klima, in dem Kierkegaard aufwächst und in dem er bald beschließt, statt sich irgendeiner herrschenden Strömung anzuschließen, selbst zur Strömung zu werden.

    Literarische, theologische und philosophische Neigungen gehen beim jungen Kierkegaard Hand in Hand. Schon während seines Theologiestudiums hört er hauptsächlich philosophische Vorlesungen (und wird später, um Schelling zu hören, einige Monate in Berlin verbringen). Ein Schulphilosoph sollte er trotzdem nie werden, und ebensowenig ein Berufs-Theologe, auch wenn ihm lange die Möglichkeit vorschwebte, ein Auskommen als Landpastor zu finden. Statt dessen wird Kierkegaard nach dem Bestehen der theologischen Staatsprüfung 1840, was er schon ist: ein freier Schriftsteller, der freieste, wie ihm scheint, den es in Dänemark je gegeben hat, und der erste, der das Wagnis der Freiheit mit dem Vorsatz verbunden hat, den eigenen "Ichsinn" zu erforschen, die eigene "Ichwichtigkeit" (wie Martin Walser es genannt hat) zur Richtschnur seines Schreibens zu erheben. Der Gegenstand diese freien Schreibens ist gleichwohl die Theologie oder richtiger: der Kampf mit ihr. Es ist die Auseinandersetzung mit einem Gott, den Kierkegaard sich in Fortsetzung der väterlichen Tradition nur als einen strafenden, verneinenden Gott vorstellen kann. So etwa in einer Aufzeichnung aus seinen "Geheimen Papieren", die soeben in einer vorzüglich edierten Ausgabe in der "Anderen Bibliothek" erschienen sind:

    Die meisten Menschen kommen denn eigentlich mit dem Religiösen überhaupt nicht in Berührung; sie verbleiben ihr ganzes Leben in einer phantastischen Vorstellung von Gottes Güte und Liebe und davon, daß ihr Trost und Vertrauen außerordentlich würden, wenn sie sich einmal entschließen könnten, in sein Haus zu gehen. O, Ihr Toren – item ihr Pastoren, die Ihr nicht versteht, wenigstens einmal zwischendurch die Menschen aufzupredigen! Ein Pastor sollte sagen: was wollt Ihr eigentlich in der Kirche, habt Ihr wohlbedacht, was Ihr dort erfahren werdet, von welchem Grauen, das die Welt nicht kennt, hier die Rede sein wird; daß hier davon geredet werden wird, daß es nicht böse Menschen sind, die den Guten verfolgen und martern, sondern daß es Gott selbst ist, der in langen, langen Jahren prüft; habt Ihr eine Ahnung davon, was die Grauen der Anfechtung sind? Bleibt daher lieber zu Hause, seht zu, Euch durch die Welt zu stehlen, aber nehmt euch in acht vor Gott.

    Es ist ein auf die Spitze getriebenes protestantisches Zerknirschungs-Bewusstsein, das aus diesen Zeilen spricht. Wer daraus schlau werden will, muß zunächst begreifen, daß ohne diesen negativen Gott Kierkegaards Denken nicht zu denken ist. Es ginge notfalls ohne Welt und bestimmt ohne jede Erfahrung, nicht aber ohne Gott. Dabei ist Kierkegaard nicht etwa fromm; vom regelrechten Christenglauben findet sich in seinen Betrachtungen kaum eine Spur. Wofür genau quält sich Kierkegaard eigentlich so sehr, ist man bisweilen versucht zu fragen? Warum bringt er seine Verlobung unter Aufbietung aller möglichen rhetorischen und psychologischen Kunstgriffe zum Scheitern, warum inszeniert er sich in seinem Tagebuch kalt lächelnd als (theoretischer) Don Juan, warum bietet er ein solches Maß an seelischer Grausamkeit gegen seine Nächsten und sich selbst auf, wenn er ohnehin – sei es nun als treuer Ehemann, als Verführer oder als Zölibatär, jedenfalls als Mensch – in der Sünde lebt? Oft scheint es, als ginge Kierkegaards ganzes Streben auf die Verunmöglichung des Lebens, auf seine rasche Beendigung, auf den baldigen Eingang in eine körperlose Unendlichkeit.

    "Aus eines noch lebenden Papieren", heißt die Schrift von 1839. Für das Jahr 1847 hatte Kierkegaard sein Ableben fest eingeplant, und im Herbst 1855 begibt er sich mit unbestimmten Leiden ins Krankenhaus, und zwar mit dem festen Vorsatz, es nicht mehr lebend zu verlassen. Dieses Todesverlangen ist ein seltsamer Kontrast zu den mächtigen Antrieben, die wenig später als Lebensphilosopie proklamiert werden sollten, zu Nietzsches "Willen zur Macht" oder zu Bergsons "Élan vital". Wollte man dagegen Kierkegaards Programm einen Namen geben, man könnte es die "Selbstreflexion zum Tode" nennen.

    Kierkegaard-Kritik oder auch nur der Versuch seiner philosophischen Bewertung ist jedoch die Sache von Garffs Biographie nicht. Das kann daran liegen, daß sie das Buch eines Theologen und nicht das eines Philosophen ist. Zwar spart Garff nicht mit freundlich-spöttischen Bemerkungen über die Lebens- und Weltferne seines Helden. Andererseits liegt es ihm fern, an Kierkegaard als philosophischem Denkmal zu rütteln. Zu den traditionellen Eigenschaften dieses Denkmals gehört, daß es Hegel entgegen gesetzt wird. Es ist zwar unklar, ob Kierkegaards Hegel-Kritik auf einer breiteren Hegel-Kenntnis beruhte; jedenfalls aber präsentiert man ihn gern als Anti-Hegelianer, als anti-historischen, anti-systematischen Ironiker, der im Vergleich zum Meisterdenker Hegel stets aussieht wie David gegenüber Goliath. So ähnlich sieht es auch Garff, wenn er Kierkegaards Stil für seine lyrischen Effekte, für seine poetischen Reize lobt und ergänzt:

    Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß die Schriften nur Narreteien ohne philosophisches und theologisches Gewicht seien, zweifellos ist es jedoch ein langer Weg zu Hegel, dessen monströsem ‚System‘ und totalitären Neigungen Kierkegaard bezeichnenderweise schon frühzeitig mit virtuose Frechheit zu begegnen lernte. (...) Wenn es das charakteristische Merkmal Hegels ist, daß er sich auf einem so hohen Abstraktionsniveau bewegt, daß Assoziation und Phantasie dem Leser zu Hilfe eilen müssen, wenn man gerade ausatmet unter der Anstrengung des Begriffs, dann ist bei Kierkegaard das Gegenteil der Fall: Kaum ist man zu einer komplizierten dialektischen Operation eingeliefert worden, wird man auch schon auf einen Erholungsurlaub in eine Schrift geschickt, die sich expressiv, pastos, merkwürdig von innen erhellt ausbreitet.

    So sieht es Garff, aber er verkennt dabei den Stilisten Hegel. Und er preist Kierkegaard für Qualitäten, die man in seinen Schriften oft mit der Lupe suchen muß. Leser etwa von "Entweder-Oder", die eingangs zitierte Kopenhagener Dame eingeschlossen, können davon ein Lied singen. Den "expressiven" Kierkegaard findet man nicht so leicht in seinen offiziellen Schriften; was auch erklären mag, warum sie damals wie heute zwar viele Verehrer, doch vergleichsweise wenige Leser gefunden haben. Eher schon findet man ihn in den nachgelassenen Papieren, deren deutsche Auswahl Klaus Harpprecht mit einem klugen Nachwort begleitet hat, das an einer Stelle ebenfalls das Verhältnis von Kierkegaard zu Hegel beleuchtet. "Nichts wäre ihm fremder gewesen", so Harpprecht über Kierkegaard, "als die Parole der Hoffnung, die der junge Hegel den beiden Stubengenossen Hölderlin und Schelling im Tübinger Stift in seinen Briefen und Karten nachrief: ‚Reich Gottes‘."

    Joakim Garff
    Kierkegaard. Biografie
    Carl Hanser Verlag, 832 S., EUR 45,-

    Sören Kierkegaard
    Geheime Papiere
    Die Andere Bibliothek im Eichborn Verlag, 340 S., EUR 27, 50