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Alphabet der Irrtümer

2005 debütierte sie mit dem Gedichtband "kochanie ich habe brot gekauft". Mit dieser ersten Veröffentlichung gewann sie 2006 als bisher jüngste Autorin den renommierten Peter-Huchel-Preis. Uljana Wolf, 1979 in Berlin geboren, lebt in ihrer Heimatstadt und in New York. Sie ist auch als Übersetzerin aus dem amerikanischen Englisch und als Herausgeberin tätig.

Eine Rezension von Michaela Schmitz | 22.12.2009
    Was, wenn der Reisende in der Fremde fremd bleibt und dem Heimkehrer auch und dem Heimkehrer auch die Heimat fremd geworden ist? Mit dem typischen Silberblick des Zurückgekehrten staunt er über die fremd vertraute Welt und horcht in sich hinein. Doch wer "doppelt sieht", dem zeigt auch das Ich sich gespalten. Und wer in den Worten Halt sucht, wird dort auch nur "falsche freunde" finden.
    "falsche freunde" heißt der neue Gedichtband von Uljana Wolf. Die Autorin selbst dazu:

    "falsche freunde ist ein Begriff für Wortpaare in zwei verschiedenen Sprachen, die gleich aussehen oder gleich klingen, aber ganz unterschiedliche Bedeutung haben. Ich kannte das aus dem Englischunterricht noch. Also ein Beispiel, zum Beispiel Gift im Deutschen ist eben das Gift, im Englischen ist gift ein Geschenk. Sieht ganz genau so aus. Oder become und bekommen. diese Worte, die eben ähnlich sind und die man gerne verwechselt.
    Mich haben diese Worte damals schon vor Jahren im Englischunterricht interessiert. Nicht, weil ich sie als Fehlerquellen gesehen habe, sondern eigentlich als Quellen von ehrlichen Verwechslungen und Neuschöpfungen. Und dieses ganze Konzept sozusagen des Fehlers als poetische Quelle war für mich interessant."

    Wer "doppelt sieht", macht Fehler. Aber der Fehler entlarvt die Wahrheit als Möglichkeit. Dadurch öffnet sich der Blick auf die Welt, und das Missverstehen wird kreativ. Ein poetisches Potenzial, das Uljana Wolf in ihrem erstem Zyklus "DICHTionary", ein deutsch-englisches Wörterbuch, zu Gedichten macht. Sie nimmt sprachliche Missverständnisse beim Wort und führt sich und den Leser vergnügt in die Irre. Ihr "DICHTionary" ist ein lyrisches Wörterbuch der inszenierten Verwechslungen mit heiteren Pointen zum Staunen und Schmunzeln. Wie im folgenden Gedicht, von der Autorin selbst gelesen:

    "island – iceland – island – island – instance ~z – igel

    bei aller liebe, auch auf reisen, führen wir uns zuweilen in die irre. for instance island: i say geysers, you say eyes; they're watching us, you say, nay, i say, they're blinded like a hedgehog in the fog. zuhause das gleiche spiel. ich will die igel auf dem feld gewinnen lassen, dich dagegen plagen hasen, die das nachsehen haben. in letzter instanz kommt ein eagle geflogen und stiehlt uns, irgendwie unverfroren, die show."

    Die Wörter und ihre Bedeutung geraten in Schwingung, die Sprache wird federleicht. Die Fantasie übt sich am Alphabet und erfindet fantastische Kombinationen. So kann man in Wolfs Prosagedichten Enkel am elften Finger schaukeln und Pferde fliegen sehen. Der kleinste Buchstabe bekommt Post, und der Leser lernt, mit dem Magen zu lesen. Immer überraschend, oft ausgelassen und vergnügt, manchmal melancholisch, gelegentlich sanft wie die zärtliche Liebesklage einer Strandschnecke.

    "welle wink winkel
    wär ich ein uferschneck, or more sophisticated: wentletrap, wühlte mich das meer vor deine füße, doch du suchtest, pulend, stur, dem namen nach in meinem haus die weißen treppen nur, und dunkle winkel. draußen gäb ich, ach vergeblich, mit fühleraugen winke, algenschminke an der wange, wissend, dies wird niemals gut, das heißt mit wellen enden. bloß ein rauschen bleibt zuletzt in deinem ohr."

    Bedeutungsverschiebungen beim Übersetzen sind hier mehr als nur Anlass für vergnügte lyrische Sprachspiele. Beim Übersetzen wird deutlich, wie Sprache unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung formt. Beschäftigung mit dem Übersetzen ist Spracherweiterungsprogramm und Seelenerkundung in einem, so Uljana Wolf,

    " ... weil Nachdenken über das Eigene und das Fremde einfach ne gute Möglichkeit ist, Identität als solche infrage zu stellen, Authentizität. Das ist ja auch der Punkt, warum Übersetzung so spannend ist, weil das irgendwann infrage stellen kann, was ist das Original, was ist die Übersetzung, woran binden wir eigentlich unsere Auffassung von eigen und fremd und so weiter."

    Um reale Grenzüberschreitungen geht es im zweiten Teil des Gedichtbandes. "Alien I: Eine Insel" heißt der erste Zyklus. Er handelt von "Ellis Island". Die Insel vor New York war lange Zeit Sitz der Einreisebehörde und zentrale Sammelstelle für Immigranten in die USA. Zwischen 1892 und 1954 kamen etwa 12 Millionen Einwanderer hier an. Eine wenige Minuten dauernde medizinische Untersuchung entschied über ihr weiteres Schicksal. Schon das unsichere Treppensteigen über die 50 Stufen zum Registrierraum konnte darüber entscheiden, ob jemand gehen musste oder durch die Tür "Push to New York" geschickt wurde. Kranke, Analphabeten oder Kriminelle etwa durften nicht einreisen.

    "Und dann bin ich darauf gestoßen, dass auch diese Inspektoren eben eine Art Alphabet hatten, das heißt, sie hatten nicht viel Zeit, sie mussten schnell entscheiden und sie mussten schnell ein Zeichen geben, sie konnten ja keine Akten ausfüllen. Und deshalb haben sie den Einwanderern einfach einen Buchstaben mit Kreide auf den Mantel gezeichnet, falls es etwas zu beanstanden gab. Das eben an mit x – suspected mental defect, vermutliche Geisteskrankheit, bis hin zu Füße, Schwangerschaft, Kropf, Gesicht, f face war auch einfach ein Begriff. Und so wurde der ganze Körper abgearbeitet. Und als ich dieses Alphabet sozusagen gefunden hatte, da war mir klar, okay, das ist das Gegenstück zu dem Alphabet, was ich gerade mit den falschen freunden gemacht habe."

    Auch "auf Ellis Island hatte das Schicksal die Gestalt eines Alphabets", zitiert die Autorin einen Bericht. Mithilfe des Alphabets wird kategorisiert, gekennzeichnet und aussortiert. "G" steht hier nicht für Glück, sondern für "goiter", Kropf. Uljana Wolf buchstabiert in ihren Gedichten über "Ellis Island" das Alphabet der Tränen; durchdrungen von einem "prüfblick, den wir durch die Zeiten spüren".

    "x suspected mental defect
    x marks the spot? und ob. wir, überführt allein durchs irre hiersein, auf der stelle, am kopf der steilen treppe, in sechs sekunden ist alles entdeckt: wir sind die stelle selbst. stinkende inseln. in tücher gehüllt, üble see im leib, imbecile, labil, im besten fall bloß durch den wind. ein flatternder zettel zwischen den zähnen, name, passage, die schatzkarte. selbst ausgegraben, selbst hergetragen. in der gepäckstation: "ein blick auf die bündel, ich weiß alles. die knoten verraten den knüpfer, seine zitternde hand."

    Die Grenzkontrollen unserer globalisierten Welt sind andere geworden. Die Arbeitsnomaden der Postmoderne führen ein Leben im Transit. Heimat ist überall, Heimat ist nirgendwo. Fremde ist kein Ort, sondern ein Zustand. Genau das beschreibt Uljana Wolf in ihren Gedichten im letzten Zyklus "Alien II – liquid life". "liquid life" zitiert einen zentralen Begriff des Philosophen Zygmunt Baumann. Seine These: Alle Strukturen der modernen Lebenswelt sind liquid, flüssig geworden.

    "Mir war dieser Begriff deshalb wichtig, weil, ja weil er sehr gut angebracht ist, auch um die Grenzerfahrung, die wir heute haben, beim Einwandern oder beim Überschreiten der Grenze zu beschreiben. Der Körper immer noch eine Grenze spielt, eine Rolle spielt, wenn wir die Grenze überschreiten, aber er ist flüssig geworden, er ist ein Datenpaket, dass uns sozusagen vorausreist und dann mit uns abgeglichen wird, wenn wir die Grenze überschreiten: Fingerabdruck, Iris-Scan und so weiter und so fort. Und das sozusagen als Beispiel für die prekäre oder ständige Unsicherheit, die Baumann beschreibt."

    "There is no privacy", heißt es bei Uljana Wolf. Mit zunehmender Freiheit steigt das Bedürfnis nach Sicherheit. Macht bewegt sich in der Postmoderne mit der Geschwindigkeit elektronischer Signale, so Baumann. Das Individuum wird als biometrisches Datenpaket gespeichert, das Leben zum elektronischen Fingerabdruck. Uljana Wolf macht biometrische Texte zum Ausgangspunkt ihres letzten Zyklus'. Die Gedichte sind Streichungen oder Auslöschungen dieser Dokumente. Dabei verlieren die Wörter an poetischer Gravitation. Sie sind, als seien sie explodiert, über die Seite zerstreut. Die Autorin selbst liest ein Gedicht aus "liquid life":

    "Durch Piktogramme wird der Teilnehmer

    gültig

    frei und gleich

    Im inneren
    erzeugt

    der lokale

    Andere
    manuelle Grenz
    Spuren im Bereich B

    des
    Teilnehmer s"

    "look on my card" heißt es im letzten Gedicht von "falsche freunde". Doch das Leben ist mehr als ein Datenpaket. Und kleine Fehler können große Rechensysteme lahmlegen. Kreative Fehler werden in "falsche freunde" zu Quellen sanfter poetischer Subversion. Uljana Wolfs Gedichte sind ein poetischer Widerspruch gegen das Leben im Scheckkartenformat und ein überzeugendes Plädoyer für kreatives Missverstehen – am stärksten im Zyklus "DICHTionary" und "Alien I: eine Insel."
    Die Autorin und Übersetzerin weiß: Fehler gehören zum Leben wie Missverstehen zur Übersetzung. Übersetzen ist für Uljana Wolf keine Tätigkeit. Übersetzung wird in ihren Gedichten zu Poesie. Poesie, so ein Diktum von Novalis, ist Übersetzung. Uljana Wolf buchstabiert das Alphabet der Irrtümer auf der Suche nach dem Punkt, wo Verstehen und Missverstehen sich überschneiden wie zwei im Unendlichen sich kreuzende Parallelen – und findet tatsächlich immer wieder erstaunliche poetische Übersetzungen für das Unübersetzbare.

    Uljana Wolf: "falsche freunde"
    kookbooks 2009, 88 Seiten, 19,90 EUR