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Alptraum Irak

Das Exil ist eine Einbahnstrasse, sagt der seit 1980 in Deutschland lebende irakische Romancier Najem Wali. Deshalb gab es nach dem Sturz Saddam Husseins für ihn auch nur Reisen in die alte Heimat, aber kein definitives Zurück. Den jahrzehntelangen Alptraum der Iraker hat Najem Wali jetzt in seinem Roman "Jussifs Gesichter" verarbeitet.

Von Christoph Vormweg | 01.08.2008
    Verwirrend ist dieser Roman von der ersten Seite an. Das "Wort vorweg" schreibt nicht etwa Najem Wali, auch nicht der Ich-Erzähler des Romans, ein Arzt aus Bagdad. Vielmehr meldet sich Jussif Mani, die Hauptfigur, aus dem "Krankenhaus der Gerichtsmedizin". Seine Lebenserzählung, die er dem Arzt auf Tonband gesprochen hat, sei - wie er behauptet - "eine Sammlung von gefälschten und angeeigneten Geschichten". Denn anders hätte man im Irak, dem "Land der Gedemütigten und der Siegreichen", die Jahre "der Willkür und Gewaltherrschaft" nicht überstehen können. Najem Wali:

    "Man fälscht, um zu überleben. Das ist nicht nur in Irak passiert. Es ist auch in vielen Gesellschaften passiert innerhalb der Zeit eines Diktators und nach dem Sturz des Diktators. Das haben wir auch in Deutschland nach 1945 oder auch vor 1945 in der Zeit des Nazi-Regimes. Ich kann mir vorstellen, dass auch andere Verfolgte, auch Juden, andere Identitäten übernommen haben."

    Jussifs Problem: Seine ständigen Identitätswechsel haben zu einer fortschreitenden Identitätsverwirrung geführt. Er erkennt sein wahres Gesicht nicht mehr. Als besonders fatal entpuppt sich der Identitätstausch, zu dem ihn sein Bruder Junis überreden konnte. Denn Junis gehörte zu den Schergen Saddam Husseins und konnte Jussif so die eigene Schuld in die Schuhe schieben. Zur Identitätskrise kommt deshalb der Verfolgungswahn, die Angst vor den Rächern.

    "Hier ist bei uns auch nach dem 9. April 2003 ein Phänomen aufgebrochen, wo ich viele Geschichten gelesen habe oder von Leuten gehört habe innerhalb bestimmter Familien, wo ans Licht kam, dass einer der Brüder, der größere oder der kleinere, je nachdem, Henker war. Mit dem Regime hat er der Familie nachspioniert, hat sogar den anderen Mitgliedern der Familie Schaden zugefügt - das erinnert uns natürlich etwa auch an die DDR-Zeit, als wir raus bekommen haben, dass viele, sogar Ehepaare, sich gegenseitig ausspioniert haben."

    "Jussifs Gesichter" ist eine düstere, abgründige Parabel. Der familiäre Auslöser für den beschriebenen Bruderkrieg war das immer wieder beschworene "Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt". Beide hatten sich als Jugendliche in sie verliebt, Junis aber den Kürzeren gezogen. Aus Rache versah er einen Kuchen mit Nägeln, den Jussif dem Mädchen überbrachte. Das Mädchen starb, und der Unschuldige ging ins Jugendgefängnis - ein Drama, das sich seit dem Sturz des Diktators auf allen gesellschaftlichen Ebenen wiederholt. Nichts ist mehr so, wie es scheint. Die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verschwimmen. Die postdiktatorischen Traumata entwickeln ihre zerstörerische Eigendynamik.

    "Gerade nach grausamen Zeiten, nach Kriegen und Diktatur, versucht man wirklich zu sagen: lieber nicht erinnern, weil: Es kann mich schmerzen, den anderen schmerzen. Und die Leute sagen: Wir fangen von Neuem an. Und daher blühen Konflikte immer wieder auf, also diese Konflikte werden vertuschelt und später tauchen sie auf. Das sehen wir jetzt auch im Libanon, wo jetzt nach 18 Jahren Ruhe alles wieder anfängt. Denn man hat nie die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen."

    In Najem Walis Roman gibt es keine Klarheit, nur den Teufelskreis von Mutmaßungen und Bruchstücken der Erinnerung. Jussif ist - wie es heißt - "auf der Flucht vor sich selbst zu sich hin": eine paradoxe Lage, die keine wirkliche Lösung zulässt. Den Strudel der Erinnerungen an Gefängnis, Folter und Militärdienst verschachtelt Najem Wali dabei mit Jussifs Eindrücken beim Umherirren durch das nächtliche Bagdad. So folgen wir ihm ins Leichenschauhaus, wo verzweifelte Hinterbliebene vergeblich nach Gewissheit suchen; oder zum gewieften Ausweisfälscher Josef K. Zielort am Ende der Nacht ist schließlich die sogenannte Mekka-Bar:

    "Das ist für mich hier: Das ist ein Synonym natürlich in dem Roman für einen Ort, wo Leute hin gehen und sozusagen am Tisch der Verzweiflung teilnehmen, dass sie da sitzen und ihren Kummer und ihre Traurigkeit mit dem Arrak, dem Alkohol auskippen. Also vergessen Sie nicht: Bars waren immer in solchen Ländern, in diktatorischen Ländern - das ist eine Art Parlament, wie ein Bundestag hier, wo die Leute hingehen und saufen, dann haben sie keine Angst und dann können sie frei reden, also meistens Männer natürlich. Das ist eine geschlossene Männergesellschaft."

    "Jussifs Gesichter" hätte ein großer Roman werden können. Der starke Beginn ließ es erhoffen: die überzeugend verwirrende Roman-Anlage, die Tatsache, dass Jussifs Qual von der ersten Seite an buchstäblich zur Qual des Lesers wird. Doch läuft die Darstellung der Identitätsverunsicherung bald eigentümlich leer, denn Najem Wali vergisst, die immer wiederkehrenden Motive sprachlich zu vertiefen, zu variieren. Mit anderen Worten: Es mangelt an der Umsetzung des Alptraums in Sprachbilder. Das betrifft auch die Beschreibung vieler der am Rande erwähnten existenziellen Dramen. Die Redundanz wird zum Killer der Leselust. Die Sogkraft des Anfangs verpufft.

    Auch das Finale in der Mekka-Bar bestätigt das. Es wird viel und intelligent beredet und analysiert: vor allem die Schwierigkeiten des Erzählens über die Geschehnisse im heutigen Irak. Najem Walis Prosa aber bleibt zu beschaulich, zu konventionell. In seinem ersten ins Deutsche übersetzten Roman "Die Reise nach Tell al-Lahm" hat er seine literarischen Kapazitäten jedenfalls besser ausgereizt. Vielleicht war er zu befangen. Vielleicht hätte er mehr zeitliche Distanz zum Stoff benötigt. Schließlich gehört es zu den schwersten literarischen Herausforderungen, den Schrecken zu erzählen, ihn in Sprache zu verwandeln.

    "Ich habe vieles bei mir vereinnahmt von alten Büchern, die ich gelesen habe, oder Erfahrungen und Experimenten, aber während des Schreibens ist mir nicht bewusst, welches Phänomen ich benutze. Also das Sisyphos-Phänomen ist auch da, weil: Das ist auch das Schicksal jetzt vieler Individuen innerhalb des Iraks. Das ist: Man kommt immer vom Regen in die Traufe, also auch viele im Irak haben gedacht, dass sie vielleicht durch eine neue Identität ein neues Leben aussuchen. Nun: Sie wälzen immer denselben Stein. Sie gehen nach oben und dann müssen nach unten zurückkehren."

    Najem Wali: Jussifs Gesichter
    Roman aus der Mekka-Bar
    Aus dem Arabischen von Imke Ahlf-Wien
    Carl Hanser Verlag, München 2008, 268 Seiten, 19,90 Euro