Samstag, 20. April 2024

Archiv


Alptraum mit Bildern

Harmloser könnte kein Buch beginnen. Jürgen sieht ein Video seiner Geburt und wie er zu Hause von glücklichen Eltern zärtlich in die Wiege gelegt wird. Wir haben es aber mit "Geister" zu tun, dem zweiten Buch Thomas von Steinaeckers, der bereits in seinem vielgerühmten Debüt "Wallner beginnt zu fliegen" Identitätsspaltungen aller Art vorgenommen hat - ein vom Vater lange verdrängter Konflikt drohte dort verspätet auszubrechen, der Sohn sich beim Zappen zwischen verschiedenen Lebensrollen allmählich selbst zu verlieren. Auch in "Geister" trägt die Hauptfigur an einer schweren Bürde.

Von Anja Hirsch | 18.12.2008
    "Jürgen fällt auf, dass er ja in der Wiege seiner Schwester liegt (...)

    Und dann hat Ulrike tatsächlich da gestanden. Für den Bruchteil einer Sekunde hat Jürgen sie für eine Sinnestäuschung gehalten, seine Schwester, in der rechten Hand den Teddybären, in der linken die Gießkanne, rote Gummistiefel, Zahnlückengrinsen, genau wie auf dem Foto, dem Lieblingsfoto der Eltern ... "

    Verschwommen schiebt sich diese Fotografie über den Film, der hier läuft - kein harmloses Video, sondern eine Dokumentation, die der Jugendliche mit seinen Eltern gerade sieht: Jürgens Schwester Ulrike war zum Zeitpunkt von Jürgens Geburt schon verschwunden, als Sechsjährige von der Schule nicht nach Hause zurückgekehrt. Auch Jahre später fehlt noch jede Spur von ihr. Jetzt hat ein Regisseur den Fall verfilmt, der neu aufgerollt wird, weil es Täter-Hinweise gibt. Ein Alptraum, gepaart noch mit medialer Gier. Von Steinaecker erzählt aus der Perspektive des Bruders, der zwischen Ulrikes Kinderzeichnungen aufwächst. Notwendig hat er unter den hilflosen Blicken der Eltern eine Lücke zu füllen. In der sechsten Klasse spricht Jürgen kaum; im Internat später, wo niemand den Fall kennt, trägt er gerne Metaller-Outfit und zupft wie alle pubertierenden Möchtegernhelden die imaginäre E-Gitarre. Eigentlich fällt er hier nicht weiter auf. Mit unglaublicher Ruhe, einer schlichten, klaren Sprache und nur kleinen Vorboten hier und da entfaltet Thomas von Steinaecker eine Atmosphäre der Unwirklichkeit.

    "Er müsste eigentlich noch Mathe vorbereiten für morgen, aber er ist so platt, dabei hat die Woche noch gar nicht angefangen (...) Im Waschraum schraubt er den Verschluss der Tube ab, quetscht die Zahnpasta auf die Bürste, weiß, rot, blau, und putzt sich die Zähne; der Kachelboden ist eiskalt an den nackten Füßen, hat er das geträumt? Ja, er war gerade eben definitiv nicht im Waschraum, er hat ja noch seine Socken an und liegt auf dem Bett."

    "Mutabor", "Spuk" heißen die Kapitel, in denen Jürgen sprunghaft zum Krankengymnasten heranwächst, Frau und Tochter hat, einem dubiosen Typen nach Ungarn folgt, weil dort angeblich seine Schwester Ulrike gefunden wurde - eine falsche Fährte, wie sich herausstellt. Und irgendwann heißen die Kapitel gar nicht mehr: Comics beginnen den Text zu durchbrechen und das Leben der verlorengegangenen, mit Jürgen gealterten Ulrike zu zeigen: Seit Jahren schon, so erfährt Jürgen erst jetzt, elaboriert eine Zeichnerin mit eben dieser Figur, nachdem sie von dem schrecklichen Fall gehört hatte; die Serie unter dem Namen "Ute" hat viele Fans. Nun will die Zeichnerin den schwesterverwaisten Bruder gerne einmal kennenlernen - immerhin hat sie sich Ulrikes Leben geborgt und weitergesponnen. Das klingt zunächst etwas geschmacklos. Doch dem Autor geht es keineswegs darum, nun etwa Bilder von Kindesmisshandlungen Revue passieren zu lassen, um die Schrecken aus den Tagesnachrichten in der Literatur noch zu verdoppeln. Von Steinaecker bleibt ganz bei Jürgen. Ihn interessiert, was die Bilder mit ihm machen. Immerhin rühren sie gewaltig an ein längst verdrängtes Trauma und spielen mit dem Schlimmsten und Schönsten: der letzten, verbliebenen Hoffnung.

    "6 Uhr 01. Klackernd tippt er die inzwischen schon wie oft eingegebene Tastenkombination ..."

    Längst lebt Jürgen wieder getrennt von seiner Frau und der elfjährigen Clara. Er massiert Kurgäste in einem Wellness-Center. Das an sich ist schon eine künstliche Welt - die Comics aber wirken auf ihn wie echt, und begierig wartet er nun täglich darauf, zu sehen, wie es Ulrike alias Ute ergangen ist, wie sie wenigstens auf dem Papier ein ganz normales Leben lebt. Voraussehbar nimmt das Projekt Ausmaße einer Sucht an.

    "Etwas Seltsames ist geschehen. Sein Kopf hat sich entleert. Seine Gedanken sind aus seinem Gehirn als Bilder, Halluzinationen sozusagen, vor seine Augen gewandert, obwohl er die doch geschlossen hatte. (...) Jürgen sieht sein Leben vor sich. Seine Wohnung in Prien, die Räume des Centers. Das alles aber anormal, nun ja: bunt."

    Dass ein Buch so schön nach Farbe riecht, wäre wohl kein ausreichender Grund zur Lektüre. "Geister" integriert die mit klaren, minimalistischen Strichen gezeichneten Strips von Co-Autorin Daniela Kohl aber keineswegs beliebig. Das sollte man auch erwarten von Thomas von Steinaecker, der über "Literarische Fototexte" am Beispiel von Brinkmann, Kluge und Sebald 2007 seine Dissertation publizierte. Das Thema lässt ihn offenbar nicht los. Die eigene Umsetzung ist raffiniert: Er lässt seine Figuren nicht einfach in den Comic übertreten, sondern hält die Ebenen lange auseinander: Jürgen ist sich der Gefährdung bewusst. Gerade dadurch entfaltet das erfundene Bild magische Anziehungskraft. Dass Jürgen sogar selbst als Utes Freund darin vorkommt, gefällt ihm bald sehr - der Comic sichert also regelmäßig wiederkehrende Momente narzisstischer Selbstbespiegelung. Das darf dann ruhig auf Kosten eines öffentlich geteilten Lebens geschehen - die zahllosen Klicks der Fans scheinen das Vergnügen noch zu vermehren. Nur für die Zeichnerin wird die Bekanntschaft zu Jürgen bald unbequem: Ihr Ideenspender will gerne eigene Episoden beisteuern; am Autoren-Sammelblick auf den Alltag findet er nämlich tatsächlich Geschmack, etwa wenn er Patientinnen aus dem Schlammbad steigen sieht:

    "Wie wäre es, wenn sie eine Narbe hätte, denkt Jürgen, geb' ich ihr eine Narbe, während er noch immer da steht und auf die inzwischen zugeschwenkte Tür schaut.

    Unter dem Schlamm war ihre Haut vernarbt.

    Warum nicht? Ein guter Satz. Aber wie weiter?"

    Nun, die eigene, pubertierende Tochter Clara, selbst Fan der Ute-Comics, gebe noch eine Menge Bildmaterial ab. Diesen Gedankengang, diesen Übergriff führt von Steinaecker aber nicht mehr weiter aus. Es wäre auch zu unübersichtlich. Längst hat er ja ein riesiges Problemfass aufgemacht und notwendig beim Lesen Assoziationsketten in Gang gebracht: Mit einer samplerähnlichen Erzähltechnik, die gerne alles mit Schnellvorlauf beschleunigt, inszeniert er subjektgefährdende Rollenspiele, vergleichbar dem Eintauchen in computergenerierte Parallelwelten. Insofern ist auch "Geister" wieder ein Zeitroman, der nicht nur Realitätsflucht verhandelt, sondern Möglichkeiten und Gefahr interaktiver Spiele illustriert, die Lust am veröffentlichten Leben untersucht und der Verwandlung von Menschen in Figuren beiwohnt, ganz zu schweigen von den psychologischen Implikationen, mit denen Thomas von Steinaecker seine Geschichte unterfüttert. Das ist alles ganz schön viel, aber nicht erzählt mit dem pädagogischen Zeigefinger: Diese Themen laufen notwendig mit, stören aber nie den Lesegenuss, der sich einer zunehmenden Verschleierung von Realität verdankt; Dramatisches entsteht hier ohne sprachliche Künstlichkeit. Die komplizierte Konstruktion ist also sinnvolle Kulisse. Vordergründig aber spüren wir förmlich die unheimliche Lust der Figur an der Flucht. "Geister" erzählt beunruhigend von wachsender Abhängigkeit und gestaltet den Vorgang der Selbstentfremdung mit Mitteln, die bei Brinkmann und anderen Autoren wurzeln. In der Hand von Thomas von Steinaecker werden sie zu eigenen Werkzeugen: Er schrumpft seine Hauptfigur gewissermaßen mit Absicht auf Zweidimensionalität zusammen. Diese Intention ist neuartig. Dahinter gähnt abgrundtief eine Ausweglosigkeit, die lähmt.

    Thomas von Steinaecker: Geister. Roman. Mit Comics von Daniela Kohl. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2008, 204 Seiten, 19,80 Euro