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Als der russische Winter die Grande Armée besiegte

Die Schlacht am Fluss Beresina besiegelte am 26. November 1812 Napoleons Niederlage im Russland-Feldzug. Getrieben von der russische Armee stoppte der vom Tauwetter angeschwollene Fluss den Rückzug der Grande Armée. Von 70.000 Franzosen erreichten nur 40.000 das andere Ufer.

Von Martin Tschechne | 26.11.2012
    Viel zu spät! Der 19. Oktober war viel zu spät, um Moskau zu verlassen und sich auf den Rückzug zu machen. Napoleon hatte die Hauptstadt erreicht, hatte sich im Kreml einquartiert, doch es war ein Sieg ohne Triumph gewesen. Die Einwohner geflohen, kein Abgesandter des Zaren, der dem Eroberer eine Kapitulationserklärung übergab; stattdessen hatte der russische Gouverneur Feuer legen lassen. Moskau brannte. Die Soldaten der Grande Armee durchwühlten die Ruinen, soffen Weinkeller leer und rissen an sich, was sie noch finden konnten: Kunstwerke, Pelze, Juwelen. Trophäen für die Lieben daheim.

    Und Napoleon - war gelähmt. Ratlos. Später beschrieb einer seiner Offiziere, Philippe-Paul de Ségur, diese gespenstische Lethargie:

    "Er suchte sich zu betäuben, überließ sich dann einer trägen Ruhe, brachte die martervollen Stunden tödlicher Langeweile halb liegend, ja gleichsam empfindungslos zu und schien so, einen Roman in der Hand, die Entwicklung seiner schrecklichen Geschichte abzuwarten."

    In diesen Tagen verlor der Kaiser der Franzosen den Krieg und seinen Nimbus. Hier in Moskau sah er sich als Sieger und zugleich um seinen Sieg betrogen. Zar Alexander und sein Oberbefehlshaber Kutusow indes müssen gewusst haben, dass ihr mächtigster Verbündeter, der russische Winter, schon darauf wartete, die französische Armee endgültig aufzureiben.

    Am 5. November begann es zu schneien, am 7., so notierte der württembergische Offizier Christian Wilhelm von Faber du Faur, der Napoleon und seine in ganz Europa rekrutierte Armee als Kriegszeichner begleitete, am 7. setzte der Winter ein.

    "Man marschierte nun, ohne zu sehen wohin, noch mit wem. Der gewaltige Sturm peitschte Massen von Schneeflocken uns ins Gesicht und schien sich mit Gewalt unserem Marsch widersetzen zu wollen. Pferde kommen auf dem eisigen Boden nicht fort und stürzen; Wagen und Geschütze bleiben aus Mangel an Bespannung stehen, mit erfrorenen Menschen bedeckt sich jetzt die Straße. Doch bald hat der Schnee, wie ein großes Leichentuch, sich auch über sie gebreitet."

    So kamen sie an die Beresina. Der Übergang über den von treibenden Eisschollen bedeckten Fluss am 26. November 1812 markiert das Ende eines Feldzuges, der aus Hybris begonnen worden war und schließlich aus pompöser Anmaßung und mangelnder Übersicht, ja Dummheit - auf beiden Seiten - in die Katastrophe führte.

    Tauwetter hatte eingesetzt, ein Täuschungsmanöver die russischen Truppen in die Irre geführt. General Eblé konnte bei dem Dorf Studjanka zwei Pontonbrücken bauen; und voller Bewunderung beobachtete der Grenadier Francois Pils die holländischen Brückenbauer:

    "Sie gingen mit einer Tapferkeit, die in der Geschichte ihresgleichen sucht, bis zum Hals ins Wasser. Einige brachen leblos zusammen, andere verschwanden mit der Strömung, aber nicht einmal der Anblick eines so entsetzlichen Todes konnte den Eifer ihrer Kameraden schwächen."

    Die Brücken schwankten. Zerbrachen. Mussten neu aufgebaut werden. Die Hütten des Dorfes lieferten das Material dazu. Quälend langsam schob sich das Heer über die brüchigen Konstruktionen. Soldaten regelten den Übergang; Verwundete, Flüchtlinge, Frauen und Kinder, die sich angeschlossen hatten, mussten warten. Es kam zu Streitereien. Es wurde geschossen. Und dann schlugen die Russen zu, von beiden Seiten der Beresina. Christian Wilhelm von Faber du Faur hielt alles fest:

    "Nun erreichten das Elend und die Verzweiflung der hier zusammengekeilten Menge den furchtbarsten Grad. Beinahe kein Schuss fehlte: Die Kugeln und Granaten schlugen in die drangvolle Masse, und das Drängen gegen die Brücke wurde immer rasender. Hügel auf Hügel niedergetretener und erschossener Menschen und Pferde türmten sich auf; wer auf die Brücken gelangen wollte, musste sie kämpfend übersteigen."

    Aus dem Rückzug war panische Flucht geworden. Tausende Soldaten verhungerten, starben an Entkräftung, wurden von Kosaken hingemetzelt oder erfroren, wo sie gingen und standen. Die Temperaturen sanken auf minus 20, 30, am 6. Dezember auf minus 37 Grad. Tags zuvor hatte Napoleon seine Marschälle um sich versammelt, um Entschuldigung dafür gebeten, dass er in Moskau zu lange gezögert habe, und war abgereist in Richtung Paris. Rund eine Million Opfer hatte der Feldzug auf beiden Seiten gefordert. Das Bulletin für die Öffentlichkeit war schon formuliert. Es endete mit den Worten: "Die Gesundheit seiner Majestät war nie besser."