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Als die Welt vom Frieden im Nahen Osten träumte

Im September 1993 tauschen der israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin und PLO-Chef Yassir Arafat eine Grundsatzerklärung über die Autonomie Palästinas aus. 20 Jahre danach behindern 550 israelische Checkpoints, Barrieren und Gatter den Alltag der Palästinenser in den besetzten Gebieten.

Von Torsten Teichmann | 13.09.2013
    Die Stadt Ramallah im Westjordanland. Palästinensische Ministerien, Parteien und Banken haben ihren Sitz in der Innenstadt. In den vergangenen Jahren sind rundherum Wohnhäuser und Bürotürme entstanden – aber auch ein Konzertsaal, eine Grabstätte für Präsident Arafat und: Ein Nationalmuseum ist geplant. Manchen Ecken sehen so aus, als sei bereits ein lebendiger palästinensischer Staat entstanden.

    Die Probleme beginnen, sobald Palästinenser versuchen, die Stadt zu verlassen.

    "Wir fahren jetzt nach Kalandia. Ich arbeite in Jerusalem, also fahre ich die Strecke beinahe jeden Tag. Das ist ein täglicher Trip – eine tägliche Erfahrung, nenne ich das. Denn jeder Tag ist anders, Du weißt nie, was Dich unterwegs erwartet."

    Kalandia ist ein Checkpoint der israelischen Armee. Der Kontrollpunkt steht aber nicht entlang einer Grenzlinie, sondern auf palästinensischem Gebiet. Mit dem Effekt, dass der Armeeposten das Land teilt und eine Seite nun de facto zu Israel gehört.

    Omar Karaji braucht deshalb einen Passierschein der israelischen Behörden. Nur so kann er von Ramallah legal zur Arbeit im arabischen Ostteil von Jerusalem gelangen. Das hatte sich der 36-Jährige anders vorgestellt vor 20 Jahren, als alle plötzlich vom Frieden sprachen:

    "Ich erinnere mich an das Versprechen auf Wandel, auf eine historische Veränderung nicht nur für uns, Palästina und den Konflikt, sondern für den gesamten Nahen Osten. Ich war damals 16 Jahre alt und alles, was sich verändert hat, ist, dass meine Aussichten schlechter geworden sind, nicht besser."

    Geheime Verhandlungen in Oslo
    Auch das israelische Fernsehen ist live dabei, als der Ministerpräsident Itzhak Rabin und der palästinensische PLO-Chef Yassir Arafat in Washington im September 1993 eine Grundsatzerklärung austauschen. Ein Papier, das zuvor in geheimen Verhandlungen in Oslo in Norwegen von beiden Seiten ausgehandelt worden war.

    Maßgeblich daran beteiligt: der stellvertretende Außenminister Israels, Yossi Beilin. Der 65-Jährige ist heute Politikberater. In seinem Büro in Herzliya nördlich von Tel Aviv rauscht die Klimaanlage und drückt ständig kalte Luft in den Raum.

    "Die Atmosphäre in der Zeit vor den Septembertagen 1993 war in Israel geprägt von einem politischen Erdrutsch. Eine neue Regierung kam ins Amt. Rabin war der Ministerpräsident. Er hatte vor den Wahlen ein Abkommen mit den Palästinensern versprochen. Doch die Zeit war verstrichen und nichts war passiert."

    Beilin und seine Mitarbeiter verhandelten in Oslo zunächst ohne Mandat. Später gelingt es Beilin Außenminister Shimon Peres und Ministerpräsident Rabin einzubinden – der widerwillig zustimmt, wie sich Beilin heute erinnert.

    Die palästinensische Führung um Yassir Arafat sitzt zu der Zeit im tunesischen Exil fest – international kaum beachtet. Arafats Berater Nabil Shaath erinnert sich, wie er von den Verhandlungen in Oslo erfuhr: Der heutige palästinensische Präsident Mahmut Abbas gab ihm 1993 im Hauptquartier der PLO in Tunis Papiere in die Hand.

    "Schau, es gab die, die keine Ahnung hatten von Oslo. Die dachten, die zeitgleich in Washington begonnenen Verhandlungen seien wichtig. Aber dort ging nichts voran. Für mich war das nicht wirklich überraschend, was Mahmud Abbas mir in die Hand drückte. Er sagte: Hier ist die Vereinbarung, schließ Dich im Zimmer ein, lies es und sage mir, ob das in Ordnung ist oder nicht."

    Auch in Washington erkennt ein weiterer Politiker, welche Möglichkeiten ein Abkommen bietet. US-Präsident Bill Clinton träumt von einem zweiten Camp David, in Anlehnung an den Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel 1978. Er kann oder will nicht erkennen, dass es für einen historischen Händedruck womöglich noch zu früh ist:

    "Wir sagten, wenn Rabin und Arafat nach Washington kommen, ist das eine dramatische Wende. Andererseits: Die Welt wird glauben, wir hätten Frieden. Die Welt wird nicht verstehen, dass wir nur ein Grundsatzpapier mit 13 Seiten haben."

    Damit ist das Wort Friedensprozess geboren. Dabei geht es um eine Absicht. Eine Erklärung mit dem Ziel, dass die Konfliktparteien, Israelis und Palästinenser, innerhalb von fünf Jahren eine Lösung für ihre Konflikte finden. Was passiert mit den israelischen Siedlungen auf palästinensischem Land? Dürfen palästinensische Flüchtlinge zurückkehren? Wo verlaufen die Grenzen? Was wird aus Jerusalem? Das sind die Fragen, damals wie heute.

    Abhängig vom Wohlwollen der israelischen Soldaten
    Für Frustration, Ärger und wirtschaftliche Verluste in Milliardenhöhe sorgt auch 20 Jahre später noch die fehlende Bewegungsfreiheit für Palästinenser. Die britische Hilfsorganisation Oxfam zählt 550 Checkpoints, Barrieren und Gatter, die den Alltag der palästinensischen Bewohner in den von Israel besetzten Gebieten behindern. Palästinenser wie Omar Karaji sind an Kontrollposten zudem auf das Wohlwollen der diensthabenden israelischen Soldaten angewiesen.

    "Wir sprechen von einem 18- oder 19-jährigen Soldaten mit einem Maschinengewehr. Er sitzt da und entscheidet, ob er Dein Lächeln mag, die Art wie Du auftrittst. Ist er in guter Stimmung an dem Tag oder nicht. Er braucht dann manchmal 15 Minuten um eine Person zu kontrollieren oder eine halbe Stunde. Und manchmal geht es glatt und Du gehst einfach rüber."

    Der Übergang Kalandia erinnert mehr an eine feste Grenze, als an einen militärischen Kontrollposten. Ein hohes Dach überspannt vier Fahrspuren. Es gibt Kontrollhäuschen, israelische Soldaten, Grenzpolizei und Wachtürme. Omar stellt das Auto neben dem Checkpoint ab. Er darf nur zu Fuß passieren.

    An der nächsten Station warten Palästinenser vor einem mannshohen Drehkreuz. Die Stimme einer Soldatin ist zu hören. Die junge Frau in Uniform und mit Pferdeschwanz sitzt hinter einer Panzerglasscheibe. Sie will den Pass sehen. Das Fenster ist nicht größer als 40 mal 20 Zentimeter; ein Bullauge hinter dem sie Kommandos in ein Mikrofon spricht.

    Avichai Stoller war vor Jahren auch als Soldat am Checkpoint. Und er hat an verschiedenen Kontrollposten gedient, auch als Kommandeur. Er beschreibt die alltägliche Situation aus israelischer Sicht:

    "Die Arbeit am Checkpoint macht einen total stumpf. Du wirst zu dieser halbautomatischen, gefühllosen Maschine. Du hörst auf zu denken. Du stehst da, Du zählst die Stunden bis zum Mittagessen, Du zählst die Stunden bis zu Deiner Ablösung. Und die Palästinenser sind in all dem ein Ärgernis."

    Stollers Worte decken sich mit den Erzählungen anderer Soldaten. 20 Jahre nach Oslo ist ein israelisches Besatzungsregime entstanden, das nur noch schwer zu kontrollieren ist. Die langfristigen Folgen sind kaum abzusehen, wenn man bedenkt, dass Checkpoints mittlerweile für viele junge Israelis und für Palästinenser die einzigen Orte sind, an denen sie sich noch begegnen.

    Checkpoint an der Grenze zum Westjordanland
    Checkpoint an der Grenze zum Westjordanland. (Deutschlandradio - Daniela Kurz)
    Israelischer Siedlungsbau nach wie vor Streitpunkt
    Der 30-jährige ehemalige Soldat Stoller macht den Männern von Oslo einen Vorwurf. Die hätten im Frieden leben wollen mit weißen Tauben und Schmetterlingen, sagt er. Aber sie hätten keine Ahnung von der Lage in Ramallah und Gaza gehabt. Sie hätten sich vor der Verantwortung gedrückt, sagt der junge Israeli.

    Die Verträge waren schlecht, davon ist auch der Palästinenser Omar Karaji überzeugt:

    "Nur um Dir ein Beispiel für das 'perfekte' Oslo-Abkommen zu geben: Mein Dorf war in den 90er-Jahren umgeben von einer israelischen Siedlung. Eine Siedlung mit dem Namen Dolev, mit 20 bis 30 Häusern. Nun haben wir vier Siedlungen mit mindestens 500 bis 600 Wohnungen. Und die wachsen. Das Gebiet um mein Dorf wird kleiner und kleiner. Und das passiert im Herzen des Westjordanlandes."

    Der Stopp des israelischen Siedlungsbaus auf palästinensischem Gebiet zählt – heute wie vor 20 Jahren – zu den zentralen Forderungen der Palästinenser. Ein wichtiger Punkt für das Scheitern eines langfristigen Ausgleichs. Yossi Beilin, einer der Architekten von Oslo, erzählt vom Sommer 1993, als die palästinensische Seite bei den geheimen Gesprächen einen Baustopp verlangt. Eine entsprechende Formulierung ist offenbar sogar Teil eines Entwurfs für ein Grundsatzpapier.

    Der israelische Ministerpräsident Rabin und Außenminister Peres lehnen die Gründung eines palästinensischen Staates damals noch ab. Rabin, immer noch widerwillig an der politischen Annäherung beteiligt, ist auf keinen Fall bereit, einen Baustopp festzuschreiben. Er habe den Palästinensern stattdessen sein Wort gegeben, auf weitere Siedlungen zu verzichen, so Beilin. Die Palästinenser vertrauen Rabin.
    "Unterm Strich baute Israel weiter Siedlungen. Und als Netanjahu an die Macht kam - 1997 war das - und wir ihn für die Erweiterung der Siedlung 'Har Homa' kritisierten, sagte er: Zeigt mir den Absatz in den Osloer Verträgen, gegen den ich verstoße."

    Waren es vor 20 Jahren noch 260.000 Siedler, sind es heute 520.000. Die Zahl hat sich verdoppelt - obwohl der Bau von Siedlungen auf besetztem Gebiet gegen internationales Recht verstößt. Beilin sagt, er und seine Mitstreiter hätten die Palästinenser überredet, auf einen schriftlich fixierten Baustopp zu verzichten. Die Friedensbewegung hat sich damit selbst geschadet.

    Was den Kontrollposten Kalandia so sehr zu einer Grenzkontrolle macht, ist die graue Betonmauer, die links und rechts vom Übergang das Land teilt. Der israelische Sperrwall schlängelt sich an der Stelle durch palästinensisches Gebiet. Seine Route hat die israelische Armee einseitig festgelegt. Israel hat de facto eine Grenze gezogen und tausende Palästinenser ausgesperrt. Omar sagt, das sei eine bewusste Entscheidung gewesen:

    "Weißt Du, was in den vergangenen 20 Jahren seit Oslo passiert ist? Es war eine wohlgestaltete Kampagne, um das Gedächtnis der Menschen zu löschen, vor allem der jüngeren Generation. Der Zusammenhang zwischen dieser Seite des Checkpoints und der anderen Seite geht verloren – jeden Tag."

    Mauerbau nach der zweiten Intifada
    Für die israelische Regierung sind der Grenzwall und die vielen Kontrollposten ein Schutz. Ein Schutz vor palästinensischen Terroristen. Vor zehn Jahren hatte der Bau begonnen. Also in der Zeit der zweiten Intifada, des gewaltsamen Aufstands radikalisierter Palästinenser gegen die israelische Besatzung.

    Die Sirenen von Krankenwagen sind in der Nacht vom 1. Juni 2001 zu hören. Rettungskräfte eilen zum Strand von Tel Aviv. Der Palästinenser Saeed Hotari hat sich in einer Diskothek in Tel Aviv, im ehemaligen Delphinarium, in die Luft gesprengt. Er reißt 29 Jugendliche mit in den Tod. Die palästinensische Hamas bekennt sich zu dem Anschlag.

    Die Anschläge, die Bilder von Opfern, die Empörung israelischer Politiker hinterlassen Spuren. Avichai Stoller sagt, er komme aus einer klassischen, liberalen, intellektuellen israelischen Familie. Sie haben an einen Ausgleich mit den Palästinensern geglaubt.

    "Die Intifada war dramatisch. Sie hat im Grunde alles verändert. Alles. Und auf eine Art wurden Menschen wie meine Familie und ich schießwütiger und waren eher bereit in den Krieg zu ziehen als die traditionelle Rechte. Denn die erklärten nur, wir haben es Euch immer gesagt. Und für uns war es der große Verrat."

    Die Folge: Die israelische Armee besetzt auch die autonomen palästinensischen Gebiete wieder. Langfristig gewinnt die politische Rechte mit dem Ruf nach Sicherheit in Israel die Mehrheit. Im Namen der Sicherheit besetzt Israel 67 Prozent des Westjordanlandes. Die Armee operiert auch im übrigen Gebiet. Der Gazastreifen wird von außen kontrolliert und nach der Wahl der Hamas-Organisation 2006 für den freien Warenverkehr abgeriegelt.

    Im Rückblick sagt Yossi Beilin, war es ein weiterer Fehler, die radikalen Gegner eines friedlichen Ausgleichs zu unterschätzen.

    "Ich denke, wir haben die Bedeutung der militanten Gegner auf beiden Seiten nicht bedacht. Ich kann über die israelische Seite sprechen, ich hätte nie gedacht, dass etwas wie das Massaker von Hebron geschehen kann. Ich muss gestehen, das war jenseits meiner Vorstellungskraft. Dass ein Religiöser, ein Offizier der Armee, 29 Jahre alt, ein Mediziner 29 Moslems ermordet – ich hatte nicht gedacht, dass so etwas passieren kann."

    Mit Ministerpräsident Rabin hätten wir es vielleicht geschafft, sagt Beilin. Auch der Palästinenser Nabil Shaath ist überzeugt, dass Rabin den Oslo-Prozess zum Erfolg geführt hätte. Doch Rabin wird am 4. November 1995 von jüdischen Fundamentalisten Igal Amir am Rande einer großen Demonstration in Tel Aviv ermordet.

    Neue Friedensverhandlungen im August
    Nach vielen Monaten des Schweigens verhandeln Palästinenser und Israelis seit Anfang August wieder. Yossi Beilin sagt, reden ist besser als nicht reden. Aber der ehemalige Politiker macht sich auch keine Illusionen mehr:

    "Ich bin im Grunde skeptisch, ob es eine endgültige Einigung geben kann. Das hängt von der Einstellung der israelischen Regierung ab und von Ministerpräsident Netanjahu. Ich glaube nicht, dass Netanjahu schon bereit ist, den Preis zu bezahlen, dessen Wert die gesamte Welt bereits kennt."

    Beilin meint, dass sich die Regierung von Ministerpräsident Netanjahu nicht von der Siedlungspolitik, von der Landnahme und Kontrolle palästinensischen Landes verabschieden kann. Und die Palästinenser sind in zwei Lager gespalten, auch geografisch in Gaza und Westjordanland.

    Omar Karaji fragte, welche Möglichkeiten die Palästinenser denn überhaupt noch haben. Er erzählt von seiner Schulzeit, nur vier seiner 32 Mitschüler seien im palästinensischen Gebiet geblieben. Die anderen leben und arbeiten nun im Ausland. Omar macht sich Sorgen um seine Kinder. Er könne ihnen nicht mehr erklären, was richtig und was falsch ist in diesem Konflikt:

    "Du hast das Gefühl, dass alles sinnlos ist. Die Menschen sagen, für die erste Intifada haben wir Oslo bekommen. Für die zweite Intifada haben wir den Kalandia-Checkpoint direkt in die Nachbarschaft gesetzt bekommen. Bei der nächsten Intifada bauen sie den Checkpoint direkt vor unserer Haustür."

    Der ehemalige Soldat Avichai Stoller hat begonnen, Fragen zu stellen; auch über seine Rolle in der Armee, über seine Erfahrungen und Entscheidungen. Er arbeitet bei der Organisation "Breaking the Silence", die ehemalige Soldaten befragt und Ereignisse dokumentiert.

    "Ich denke, auf den Ruinen von Oslo ist etwas Neues gewachsen. Es gibt eine neue Generation, die versteht, dass wir nicht über Frieden reden können, wenn wir nicht über Gerechtigkeit und über die Bedeutung der Besatzung in dem Zusammenhang sprechen. Was jetzt entsteht, ist eine Friedensbewegung, die sich nicht einmal so nennt. Wir wollen Frieden, aber das ist nicht der erste Schritt. Frieden kann nur das Ergebnis unserer Bemühungen sein."