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"… als entgleite ihm die ohnehin recht brüchige Realität"

Mit seinem Roman "Imperium" ist der Schriftsteller Christian Kracht 2012 in die Schusslinie des Feuilletons geraten. Ihm wurde unterstellt, sich als literarischer Türsteher von rechtsreaktionären Gedanken zu betätigen. Inzwischen ist ein differenzierterer Blick auf das Buch möglich.

Von Eckhard Schumacher | 12.05.2013
    Eckard Schumacher ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie an der Universität Greifswald. Zu seinen Forschungsgebieten zählen Medientheorie und Neue Medien, Gegenwartsliteratur sowie Tourismus und Literatur. Mit Christian Kracht beschäftigte er sich unter anderem in dem 2009 veröffentlichten Aufsatz "Omnipräsentes Verschwinden. Christian Kracht im Netz."

    "… als entgleite ihm die ohnehin recht brüchige Realität" - Über das Schreiben und Verschwinden bei Christian Kracht


    "... in manchen Momenten ist ihm, als entgleite ihm die ohnehin recht brüchige Realität, so auch jetzt ..."

    Was wir hier, "jetzt", im dritten und letzten Teil von Christian Krachts Roman "Imperium", eher beiläufig über eine Romanfigur erfahren, bleibt nicht auf diese Figur beschränkt. So wie der als "Gouverneur Hahl" eingeführten Romanfigur die Realität, genauer: die "ohnehin recht brüchige Realität", nicht nur "jetzt", sondern "in manchen Momenten" zu entgleiten scheint, so scheint einem auch als Leser, als Leserin, die Realität dieses Romans immer wieder erneut zu entgleiten.

    Manchmal bemerkt man es nicht gleich, gelegentlich zeigt es sich erst im Rückblick, wird es erst vor dem Hintergrund eines spezifischen Detailwissens erkennbar. Und häufig vollzieht es sich, wie im Fall von Gouverneur Hahl, im Modus des Möglichen, der fast unmerklich auch in den Modus des Fantastischen übergehen kann. So erfahren wir nicht etwa, dass Gouverneur Hahl die Realität entgleitet, ihm "ist" nur so, es bleibt bei einem vagen, kaum verlässlichen, irritierend oszillierenden Als-ob, das sich nicht zuletzt auch auf den Leser überträgt:
    Was ist das für eine Realität, die Christian Krachts "Imperium" präsentiert? Und was lässt sie, nicht nur für Gouverneur Hahl, "brüchig" erscheinen? Nachdem der Roman im vergangenen Jahr zunächst aus ganz anderen Gründen Aufsehen erregt hat, lohnt es, ihn mit ein wenig Distanz zu den Aufregungen um den Autor, der anlässlich der Publikation von "Imperium" als "Türsteher der rechten Gedanken" diffamiert wurde, noch einmal neu zu lesen.

    Eine Verlagerung des Blickwinkels vom Autor auf den Text, von der vermeintlichen Ideologie zu den beobachtbaren Schreib- und Erzählverfahren, kann dem Text nicht nur neue Perspektiven eröffnen, sie kann auch verdeutlichen, warum der Debatte um den Autor die Realität des Romans zunehmend entglitten ist.

    "Unter den langen weißen Wolken, unter der prächtigen Sonne, unter dem hellen Firmament, da war erst ein langgedehntes Tuten zu hören, dann rief die Schiffsglocke eindringlich zum Mittag, und ein malayischer Boy schritt sanftfüßig und leise das Oberdeck ab, um jene Passagiere mit behutsamen Schulterdruck aufzuwecken, die gleich nach dem üppigen Frühstück wieder eingeschlafen waren. Der Norddeutsche Lloyd, Gott verfluche ihn, sorgte jeden Morgen, reiste man denn in der ersten Klasse, durch das Können langbezopfter chinesischer Köche für herrliche Alphonso-Mangos aus Ceylon, der Länge nach aufgeschnitten und kunstvoll arrangiert, für Spiegeleier mit Speck, dazu scharf eingelegte Hühnerbrust, Garnelen, aromatischen Reis und ein kräftiges englisches Porter Bier."

    Folgt man den ersten Sätzen des ersten Kapitels, schaut man sich das Personal, die Schauplätze und das historische Setting von Krachts "Imperium" an, spricht zunächst vieles dafür, dass es sich um einen vergleichsweise konventionellen, realistisch erzählten historischen Roman handelt.

    Aber man ist gleichwohl bereit anzunehmen, dass vor etwa einhundert Jahren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Zeitalter des Kolonialismus, tatsächlich hätte beobachtet werden können, was hier von einem zwar gelegentlich etwas unbeholfen beschreibenden, jedoch gleichwohl entspannt über den Dingen schwebenden, lang gedehnten, ein wenig manieristisch, aber ruhig entfalteten Satzperioden zugeneigten Erzähler vergegenwärtigt wird.

    Protagonist ist ein "kokovorer Sonnemensch"
    Erzählt wird eine in ihren Grundzügen authentische, durch historische Referenzen und Fakten belegte Geschichte, die Geschichte des August Engelhardt, eines ebenso merkwürdigen wie bemerkenswerten Aussteigers, der nach einer Ausbildung zum Apothekerhelfer, bewegt durch die Lebensreformbewegung, im frühen 20. Jahrhundert in die deutschen Kolonien in der Südsee aufbricht. Dort, im sogenannten Schutzgebiet Deutsch-Neuguinea, gründet er den "Sonnenorden", eine quasireligiöse Gemeinschaft, die die lebensreformerischen Ideale des Nudismus und Vegetarismus auf eine neue, nicht mehr durch die kleinbürgerlichen Konventionen des Wilhelminischen Reiches beschränkte Weise realisieren soll.

    Auf der Insel Kabakon erwirbt Engelhardt eine Kokosplantage und widmet sich, weitgehend ungetrübt durch ökonomisches Geschick oder auch nur Interesse, der ideellen Ausarbeitung und praktischen Umsetzung des Kokovorismus. Befreit von den Sorgen um Kleidung, Wohnung und Nahrung, orientiert sich der "kokovore Sonnenmensch", wie man einer Schrift des historischen August Engelhardt entnehmen kann, allein an der Frucht, die der Sonne am nächsten reift und die den Menschen, der sich allein von ihr (und mithin dem Licht der Sonne) ernährt, letztlich in einen gottähnlichen Zustand der Unsterblichkeit führen soll.

    Auf Kabakon halten sich nie mehr als fünf seiner Anhänger auf, einige von ihnen sterben dort oder kurz nach dem Aufenthalt aus nicht in jedem Fall geklärten Gründen, so etwa 1904 der Helgoländer Heinrich Aueckens und ein Jahr später Max Lützow, ein Berliner Musiker.

    Beide, Aueckens und Lützow, spielen auch in Krachts "Imperium" eine Rolle, so wie der Roman eine Reihe von weiteren historischen Personen und Schauplätzen des sich imperial ausdehnenden Deutschen Reiches der Jahrhundertwendezeit integriert, darunter in zentraler Funktion den damaligen Verwaltungssitz von Deutsch Neuguinea, die Stadt Herbertshöhe auf der Insel Neupommern, und den dort ansässigen Verwalter, den eingangs angeführten Gouverneur Albert Hahl.

    Dass wir es nicht nur mit einer realitätsgetreuen Wiedergabe einer historisch verbürgten Episode aus der Geschichte der deutschen Kolonialzeit zu tun haben, zeigt sich nicht zuletzt an der Hauptfigur des Romans, an August Engelhardt. Im wirklichen Leben im Jahr 1919 auf der Insel Kabakon tot aufgefunden, wird Engelhardt im Roman erst nach Beendigung der Zweiten Weltkriegs von amerikanischen Marineeinheiten auf einer der Solomon-Inseln in einer Erdhöhle entdeckt, zum Skelett abgemagert, aber lebend. Als Überlebender eines längst vergangenen Imperiums lernt der, wie es im Schlusskapitel heißt, "sonderbar kräftige Alte" auch noch Eigentümlichkeiten eines neuen Imperiums kennen, etwa eine ...

    "... sich in der Mitte leichte verjüngende Glasflasche" mit "einer dunkelbraunen, zuckrigen, überaus wohlschmeckenden Flüssigkeit", "stark rhythmische, doch überhaupt nicht unangenehm klingende Musik" und "ein mit quietschbunten Soßen bestrichenes Würstchen, welches in einem daunenkissenweichen, länglichen Brotbett liegt."

    Die freie Ausgestaltung der Lebensgeschichte des Protagonisten, die auch deren Verfilmung in Hollywood mit einschließt, markiert eine Form der Abweichung von der realen Geschichte, die den Roman unübersehbar als Fiktion ausweist. Es finden sich aber auch noch weitere, nicht minder signifikante Abweichungen von dem, was man der üblichen Geschichtsschreibung entnehmen kann. Besonders deutlich wird dies an der Figur des Gouverneurs Hahl, der als historische Figur zugleich wie eine Schaltstelle zu einem anderen Verständnis von Realität fungiert - und dem diese vielleicht auch deshalb in manchen Momenten zu entgleiten scheint.

    So gehört etwa die Person, die Hahl im Roman in seiner Funktion als Gouverneur engagiert, um den als nicht mehr tragbar eingestuften Engelhardt ermorden zu lassen, nicht mehr zum Personal der Kolonialgeschichte des Deutschen Reiches. Kapitän Christian Slütter ist eine fiktive Figur, die allerdings - wie auch seine rätselhafte Begleiterin Pandora - in der Welt der Fiktion durchaus real existiert. Sie ist einem Klassiker der Südseeliteratur entnommen, einem berühmten Comic, Hugo Pratts "Südseeballade", mit der er im Jahr 1967 die später weitverzweigte Geschichte des Abenteurers Corto Maltese beginnen lässt.

    Ohne dies auch nur in Ansätzen zu markieren, geschweige denn zu kommentieren, verschränkt Kracht in seinem Roman Versatzstücke aus der Kolonialgeschichte des Deutsches Reiches mit fiktiven Figuren und Schauplätzen, die, zunächst entworfen in fiktionalen Zusammenhängen, im Comic, in der Literatur, im Film, nunmehr zu konstitutiven Bestandteilen dessen werden, was Krachts "Imperium" als Realität präsentiert. So finden die Amerikaner den fiktionalisierten August Engelhardt am Ende von Krachts "Imperium" nicht von ungefähr auf einer jener real existierenden Solomon-Inseln, die am Anfang von Hugo Pratts "Südseeballade" den Ort markieren, an dem im Jahr 1913, also zur Zeit des real existierenden Engelhardt, der fiktive Corto Maltese auf einem Floß entdeckt wird.

    Nicht nur in dieser Hinsicht irritiert der Roman das Verhältnis von Fakt und Fiktion. So wie fiktive Figuren aus anderen fiktionalen Welten wie selbstverständlich zu Akteuren in Krachts quasihistorischem Panorama werden, so lässt er in diesem auch Figuren erscheinen, die sich ohne größeren philologischen Aufwand als Hermann Hesse, Franz Kafka oder Thomas Mann identifizieren lassen. Er versetzt sie aber an Schauplätze und verwickelt sie in Konstellationen, die nicht, zumindest nicht ganz der historischen Wirklichkeit und der durch diese eröffneten Möglichkeiten entsprechen.

    Pseudohistorische Referenzen
    Kracht verschiebt die Zeitachsen, verrückt die Schauplätze und Figuren, Orte und Zeiten aber immer nur gerade so weit, dass das, was er darstellt, auf den ersten Blick durchaus auf eine tatsächliche Begebenheit verweisen könnte und sich erst bei genauerem Betrachten als Fiktion erweist.

    Für den Roman wie auch darüber hinaus für Krachts Schreibverfahren ist es dabei durchaus kennzeichnend, dass dieses Strukturprinzip der minimalen, jedoch signifikanten Verschiebung im Text selbst auf bemerkenswerte Weise vorgegeben und reflektiert wird, nämlich in Form einer minimal verschobenen Darstellung einer historisch belegten Verschiebung. Der einschlägigen Geschichtsschreibung ist zu entnehmen, dass im Jahr 1910 der Sitz des Gouverneurs für Deutsch-Neuguinea aus klimatischen und verkehrstechnischen Gründen von Herbertshöhe an den wenige Kilometer entfernten Ort Rabaul verlegt wurde.

    Dieses historische Szenario findet auch Eingang in Krachts "Imperium", erscheint dort allerdings auf etwas andere Weise. Während August Engelhardt im Rahmen einer Reise zu den Fidschi-Inseln feststellt, dass das Städtchen Suva auf Fidschi auf den ersten Blick Herbertshöhe ähnelt, und es Engelhardt auch in weiteren Hinsichten so erscheint, als schaue er in einen, wie es im Text heißt, "verrückten Zerrspiegel", wird in seiner Abwesenheit in Herbertshöhe …

    "… nach kurzer Diskussion entschieden, die Hauptstadt von Deutsch Neu Guinea abzubauen und keine zwanzig Kilometer weiter die Küste hinauf neu zu errichten, immer noch in der Blanchebucht, in nächster Nähe des Vulkans, an einem Ort namens Rabaul. [...] Man ordnete an, dass sämtliche Häuser, die fein säuberlich auseinandergebaut, zu Bretterstapeln und Nagelkisten geschichtet und mit den exakten Bauplänen zu ihrer Wiedererrichtung versehen worden waren, durch den Urwald getragen werden sollten."

    Da dies in Abwesenheit von Engelhardt geschieht, stellt sich bei dessen Rückkehr (und nach den erwähnten, durch verzerrte Ähnlichkeitserscheinungen ausgelösten Irritationen auf den Fidschi-Inseln) eine durchaus grundlegende Verwirrung ein, wenn er bemerkt, …

    "… dass er sich gar nicht im ihm vertrauten Herbertshöhe befand, sondern die Häuser, Palmen und Alleen auf höchst irritierende Weise verschoben zu sein schienen."
    Es ist kaum zu übersehen, dass das, was hier auf der Ebene der Narration als Verwirrspiel zwischen Fakt und Fiktion entfaltet wird, in mehrfacher Hinsicht zugleich ein Strukturprinzip des Romans beschreibt. Ein Strukturprinzip, das nicht nur Orte, Zeiten und Figuren betrifft und sich nicht nur auf Verschiebungen und Überlagerungen der Grenzen zwischen Fakt und Fiktion beschränkt, sondern ebenso grundlegend wie abgründig auch Krachts Schreibverfahren und Erzählweise prägt. Nicht erst mit dem Roman "Imperium", sondern genau genommen seit seinem ersten, 1995 erschienenem Roman "Faserland" ist Krachts Schreiben durch eine Kopplung von Aufnehmen und Verschieben geprägt, vollzieht Kracht im Schreiben etwas, das man als Wiederholung mit Differenz beschreiben könnte.
    In diesem Sinn heißt Schreiben bei Kracht immer auch Überschreiben. Kracht bezieht sich im Schreiben fast durchgehend auf bereits vorliegende Konstellationen, auf Vorgefundenes. Er schreibt auf der Grundlage von Vorlagen, die überschrieben, dabei aber nicht vollständig überdeckt, nicht ganz ausgelöscht werden, sondern im Verschwinden noch durchscheinen, oder zumindest noch durchzuscheinen scheinen. So erinnern Krachts Texte durchaus an Palimpseste, jene antiken oder mittelalterlichen Schriftrollen, deren Beschriftung abgeschabt, aber nicht vollständig entfernt wurde und die in diesem nicht vollständig gereinigten Zustand wieder neu beschrieben wurden.

    Auf vergleichbare Weise arbeitet auch Kracht auf der Grundlage von bereits beschriebenen Vorlagen mit schon vorliegenden Texten. Palimpsestartig scheinen sie durch seine Texte durch, werden stellenweise, bruchstückhaft, sichtbar. Zugleich werden sie aber auch durch andere Texte zum Verschwinden gebracht, durch andere Vorlagen überdeckt, überlagert, überbordet. Nicht immer ist dabei klar zu erkennen, ob es diese Vorlagen überhaupt gibt, oder ob hier nur der Eindruck erweckt wird, man habe es mit leicht verzerrten (oder verblassten) Palimpsesten zu tun. Dies betrifft die unzähligen Kolonialismusklischees, die der Roman aufreiht, und den korrespondierenden Südseeromantikkitsch nicht weniger als die Erzählmuster, die auf die historischen Formen der Robinsonade und des Abenteuerromans verweisen.

    Zahlreiche Wegweiser im Text
    Dass dabei immer mehr als nur eine Vorlage verarbeitet (oder zumindest angedeutet) und mithin immer mehr als nur eine Geschichte erzählt wird, bestätigt sich in den Wegweisern, die sich im Text finden, und in den wenigen greifbaren Selbstbeschreibungen des Autors ebenso wie in Zuschreibungen von anderen. So ist der Vorwurf des Autors Marc Buhl durchaus nachvollziehbar, Kracht habe Elemente aus dessen Roman "Das Paradies des August Engelhardt" übernommen, der ein Jahr vor "Imperium" erschienen ist und sich ebenfalls in leicht fiktionalisierender Form eben der Figur widmet, die auch Kracht ins Zentrum seines Romans rückt.

    Aber Kracht beschränkt sich nicht auf diese Vorlage, überschreibt nicht nur sie, lässt nicht nur sie im Kosmos seines "Imperiums" verschwinden. So wie die Kritik mit guten Gründen Hermann Melville, Joseph Conrad und Jack London in Krachts "Imperium" entdeckt, verweist der Autor selbst ebenso schlüssig auf Erich Kästner und präsentiert den Roman als Ergebnis des Vorhabens, "kästnerisch" zu schreiben. Nicht minder deutlich scheinen im Text auch die Schreibweisen jener Autoren durch, die im Roman, wie skizziert, als quasihistorische Figuren auftauchen, etwa Hermann Hesse oder, kaum zu übersehen und von der Kritik vielfach hervorgehoben, Thomas Mann.
    So spricht einiges dafür, dass etwa das "kräftige englische Porter Bier", das in der bereits zitierten Eingangspassage von "Imperium" zum Frühstück gereicht wird, gleichsam noch aus Thomas Manns "Zauberberg" stehen geblieben ist. Die vage Vermutung, die Krachts Schilderung aufrufen kann, wird durch einen Blick in den "Zauberberg", dessen Geschehnisse sich ebenfalls zu Beginn des 20. Jahrhunderts zutragen und der auch in weiteren Hinsichten hier aufschlussreich ist, schnell bestätigt. Schon dem jungen Hans Castorp wird, erfahren wir bei Thomas Mann, "täglich zum dritten Frühstück [...] ein gutes Glas Porter" gegeben, ...

    "- ein gehaltvolles Getränk, wie man weiß, dem Dr. Heidekind blutbildende Wirkung zuschrieb und das jedenfalls Hans Castorps Lebensgeister auf eine ihm schätzenswerte Weise besänftigte, seiner Neigung, zu ‚dösen', [...] nämlich mit schlaffem Munde und ohne einen festen Gedanken ins Leere zu träumen, wohltuend Vorschub leistete."

    Bereits diese kurze Passage aus dem "Zauberberg" kann verdeutlichen, dass in Krachts "Imperium" nicht nur das Bier aus Thomas Manns Roman auf dem Frühstückstisch stehen geblieben ist. So wie die "gleich nach dem üppigen Frühstück" eingeschlafenen Passagiere die Annahme nahelegen, dass in Krachts "Imperium" die im "Zauberberg" beschriebene Wirkung des Biers mehr als nur durchscheint, so scheint sich Kracht auch in den erzählerischen Duktus des Zauberbergs einzuschreiben, selbst dann, wenn die Geschehnisse einen etwas anderen Verlauf nehmen - wie im Fall der Porterbier trinkenden Pflanzer, mit denen die Eingangsszene des Romans fortgesetzt wird:

    "Gerade der Genuss des letzteren schuf unter den rückreisenden Pflanzern, die sich - in das weiße Flanell ihrer Zunft gekleidet - auf den Liegestühlen des Oberdecks der Prinz Waldemar eher hingeflezt als anständig schlafen gelegt hatten, für eine überaus flegelhafte, fast liederliche Erscheinung. Die Knöpfe ihrer am Latz offenen Hosen hingen an Fäden lose herab, Soßenflecken safrangelber Curries überzogen ihre Westen. Es war ganz und gar nicht auszuhalten. Blässliche, borstige, vulgäre, ihrer Erscheinung nach an Erdferkel erinnernde Deutsche lagen dort und erwachten langsam aus ihrem Verdauungsschlaf, Deutsche auf dem Welt-Zenit ihres Einflusses."

    So wie nicht immer deutlich wird, ob Krachts Darstellungen auf Transformationen tatsächlich vorliegender Vorlagen aufbauen oder diese nur nachahmen, so ist auch nicht immer eindeutig zu entscheiden, ob wir es bei Krachts Überschreibungen mit dem Verfahren der Persiflage oder mit dem des Pastiches zu tun haben, das dem Erzähltheoretiker Gérard Genette zufolge im Unterschied zur Persiflage nicht auf satirische Effekte setzt.

    Unabhängig von diesen begrifflichen Feinunterscheidungen führt Krachts "Imperium" aber unübersehbar vor Augen, dass die Transformationen und Nachahmungen hier nicht zuletzt Effekte des Komischen erzeugen. Dies gilt für die nicht unaufdringlich durch Adjektivanhäufungen in Szene gesetzten Kolonialismusklischees ebenso wie für die Darstellungen der deutschen Pflanzer, Beamten und Lebensreformbewegten, die allesamt als merkwürdige, skurril verzerrte, gleichsam objektiv komische Gestalten erscheinen.

    Verstärkt werden diese Effekte noch durch den merkwürdig über den Dingen schwebenden Erzähler, dessen heitere Souveränität letztlich kaum weniger komisch erscheint als die Figuren, über die er berichtet und über die er sich vermeintlich ironisch erhebt. Immer wieder erneut zeigt sich, dass der "Nebel der erzählerischen Unsicherheit", auf den der Erzähler an einer Stelle des Romans explizit verweist, durch ihn selbst erzeugt wird. In immer wieder neuen Konstellationen präsentiert sich, unfreiwillig oder nicht, der vermeintlich allwissende Erzähler als hochgradig unzuverlässige Instanz, dem das, was er als Realität präsentiert, permanent entgleitet.

    Auch diese Form des Entgleitens wird im Text reflektiert, und auch in diesem Fall fungiert die Figur des Gouverneurs Hahl als eine Schaltstelle für die entsprechende Reflexion. In einer seiner vielen Prolepsen entwirft der Roman eine Nachgeschichte von Albert Hahl, der als wiederum leicht skurriler Privatgelehrter erscheint, der seine Philosopheme und Visionen in "langen Briefen eines alternden Mannes" verbreitet, "der nicht mehr im Mittelpunkt steht". Einer dieser fiktiven, im Kontext der Fiktion aber durchaus wirkungsmächtigen Briefe öffnet den Blick auf Möglichkeiten medial vermittelter Komplikationen, die nicht zuletzt auf die Geschichte verweisen, in denen von ihnen berichtet wird:

    "Auch der Philosoph Edmund Husserl erhält Post von Albert Hahl, eine dicht beschriebene, achtzigseitige Epistel, in der ausgeführt wird, wir Menschen würden in einer Art hochkomplexem Kinofilm oder Theaterstück leben, aber nichts davon ahnen, da die Illusion vom Regisseur so perfekt inszeniert sei."

    Auf diese Weise wird gegen Ende des Romans eine Vorstellung wieder aufgenommen, gleichsam nochmals projiziert, die schon zu Beginn der Geschichte eine nicht unwichtige Rolle spielt, da sie eben diese irritiert und ihren Realitätsstatus ganz grundsätzlich infrage stellt. Im zweiten Kapitel, das die Hauptfigur mittels einer erzählerischen Rückblende nach Ceylon versetzt und in Form einer Analepse eine Vorgeschichte zum ersten Kapitel und damit zur Ankunft von August Engelhardt in Herbertshöhe erzählt, gerät die weiterhin gelassen erzählte Erzählung kurzzeitig aus den Fugen.

    Denn das, was erzählt wurde und erzählt wird, erscheint plötzlich als Teil einer kinematografischen Projektion, die aufgrund einer kleinen, aber folgenreichen Störung den Ablauf der Zeit, der erzählten Zeit wie der Erzählzeit, irritiert - und doch gerade so wieder zur Ankunft in Herbertshöhe und damit in die erzählte Zeit des ersten Kapitels führt. Im Verlauf einer nachmittäglich trägen Zugfahrt "beginnt plötzlich", wie es im zweiten Kapitel des Romans heißt, "der Kinematograf zu rattern":

    "Ein Zahnrad greift nicht mehr ins andere, die dort vorne auf dem weißen Leintuch projizierten, bewegten Bilder beschleunigen sich wirr, ja sie laufen für einen kurzen Augenblick nicht mehr vorwärts, wie vom Schöpfer ad aeternitatem vorgesehen, sondern holpern, zucken, jagen rückwärts; Govindarajan und Engelhardt treten verharrenden Fußes in die Luft - fidel anzusehen - und hasten rückwärts Tempelstufen herab, überqueren ebenfalls rückwärts gehend die Straße, immer stärker flimmert der Lichtstrahl des Projektors, es knackt und knistert, und nun wird alles augenblicklich formlos (da wir kurze Zeit in das Bhavantarabhava Einsicht haben, den Moment der Wiederverkörperung), und dann manifestiert sich, nun freilich richtig herum und wieder in exakter Farbig- und Geschwindigkeit, August Engelhardt in Herbertshöhe (Neupommern) sitzend, im Empfangssalon des Hotels Fürst Bismarck, daselbst auf einem durchaus gemütlich zu nennenden Bast-Sofa (australisches Fabrikat), mit dem Herrn Hoteldirektor Hellwig (Franz Emil) im Gespräch, dabei eine Tasse Kräutertee auf den Knien balancierend, die ceylonische Analepse hinter sich lassend. Hellwig raucht."

    Erst am Ende des Romans wird deutlich, dass es sich hier nicht nur um eine akzidentelle, punktuelle Irritation des Erzählflusses handeln könnte, sondern um eine Szene, die ganz grundlegende Fragen zum Status der Realität, der Erzählung und des Erzählers aufwirft. Denn das Ende des Romans führt in der Schilderung der Anfangsszene der Verfilmung des Lebens von August Engelhardt nicht nur an den Anfang der Erzählung zurück. Während "Hunderte Projektoren" flirren und, wie es im Roman heißt, "ihre von wild tanzenden Staubpartikeln begleiteten Lichtnadeln auf Hunderte Leinwände" werfen, eröffnet sich im Rückblick, vom Ende des Romans her, auch die Möglichkeit, die Erzählung als eine rekursiv angelegte, medial vervielfältigte narrative Schleife zu begreifen, die nicht vorwegnimmt, sondern vielmehr reproduziert, was sich bei genauerem Hinsehen von Beginn an als Projektion erweist:

    "Die Kamera fährt nah heran, ein Tuten, die Schiffsglocke läutet zu Mittag, und ein dunkelhäutiger Statist (der im Film nicht wieder auftaucht) schreitet sanftfüßig und leise das Oberdeck ab, um jene Passagiere mit behutsamem Schulterdruck aufzuwecken, die gleich nach dem üppigen Frühstück wieder eingeschlafen waren."

    Im Rahmen der Erzählung, die in "Imperium" präsentiert wird, wiederholt sich so ein Prinzip, mit dem Kracht auch in anderen Texten arbeitet, dem er seine Texte und auch sich selbst geradezu systematisch aussetzt. Das, was man als mediale Vervielfältigung begreifen kann, erweist sich zugleich als spezifische Form einer mise en abyme, einer differenziellen Wiederholung, bei der das, was reproduziert wird, zunehmend aus dem Blick gerät, sich der Wahrnehmung entzieht, entgleitet, wenn nicht gar in den Endlosschleifen der Reproduktion verschwindet.

    Kracht greift auf filmische Verfahren zurück
    Nicht zum ersten Mal praktiziert und reflektiert Kracht diese Form der Darstellung im Rekurs auf den Film, auf Verfahren der filmischen Aufzeichnung und Reproduktion. So muss man nicht auf Peter Weirs "Truman Show" verweisen, auch ein Blick auf Krachts in vielen Hinsichten eng mit "Imperium" verknüpften Roman "1979" führt hier einschlägig relevante Verfahren vor Augen. Was in "Imperium" als ein narrativ entfaltetes Entgleiten der Realität begriffen werden kann, präsentiert sich in 1979 im Modus des Verschwindens und damit im Rekurs auf ein Motiv, das Christian Kracht als Autor von Beginn an in eben dem Maß verfolgt, in dem es auch seine Texte bestimmt. Die Texte reflektieren es, lassen es diffundieren, schicken es in Wiederholungsschleifen, bis zu dem Punkt, an dem es sich selbst verflüchtigt.

    "Er drückte einen Schalter, und auf dem Monitor war jetzt der kleine Fernseher selbst zu sehen, in sich hundertmal gebrochen und verkleinert; er verlor sich in der Mitte des Bildschirmes im Unendlichen …"

    … beschreibt der Erzähler in "1979" jenen "kleinen alchimistischen Trick", mit dem eine Romanfigur eine Überwachungskamera sich selbst aufzeichnen und das aufgezeichnete Bild dadurch zugleich, in Form einer medial induzierten mise en abyme, so verkleinern lässt, dass der Eindruck entsteht, es würde verschwinden. Es verschwindet aber letztlich ebenso wenig wie das, was sich in Krachts "Imperium", das immer auch ein medial vervielfältigtes Imperium der Zeichen ist, als Realität präsentiert.

    Krachts Schreibverfahren ermöglichen vielmehr gerade durch die Überlagerung von Fakten und Fiktionen, durch das Prinzip des vielfachen Überschreibens, einen geschärften Blick auf reale, historisch belegte Begebenheiten wie auf deren Verwicklung in Fiktionen und Projektionen. So kann sich, wie im vorliegenden Fall, ein so umfassendes wie genaues Panorama der Kolonialzeit gerade dadurch entwickeln, dass ganz unterschiedliche Perspektiven nebeneinander gerückt werden, ohne sie vorab festgelegten Lesarten zuzuordnen, ohne sie auch ideologisch greifbar zu machen.

    An die Stelle des Fantasmas einer eindeutig erfassbaren Realität oder politisch eindeutiger Positionierungen rückt dabei eine Form des Schreibens, die durchaus fantastisch genannt werden kann. Nicht nur die vermeintliche Vergangenheit, auch das, was wir als Gegenwart wahrnehmen, kann auf diese Weise verblüffend präzise dargestellt und zugleich als fragwürdige Projektion ausgewiesen werden.