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Als Kinderärztin in Mogadischu
"Fast alle Tode meiner Patienten wären vermeidbar"

Lul Mohamud Mohamed studierte Medizin in Somalia, bevor dort der Bürgerkrieg und Hunger ausbrachen. In Berlin wurde sie zur Kinderärztin ausgebildet, praktizierte in London - und obwohl ihre Heimat in Trümmern lag, kehrte sie dorthin zurück. Seitdem kämpft sie gegen die hohe Kindersterblichkeit in Somalia.

Von Bettina Rühl | 11.08.2018
    Die somalische Kinderärztin Lul Mohamud Mohamed vor dem Banadir-Krankenhaus in Mogadischu
    Die somalische Kinderärztin Lul Mohamud Mohamed vor dem Banadir-Krankenhaus in Mogadischu, wo sie die Kinderstation leitet (Deutschlandradio/ Bettina Rühl)
    Die Kinderärztin Lul Mohamud Mohamed spricht mit leiser Stimme, fast sanft. Aber der Eindruck täuscht: Lul kämpft um das Leben der vier Monate alten Amina und ihrer 18-jährigen Mutter Sadia. Die beiden sind Ende Juli zu Lul gekommen, die die Kinderstation im Banadir-Krankenhaus in Mogadischu leitet.
    "Sadias Sohn ist vor ein paar Tagen gestorben, vielleicht wegen Cholera. Sie trauert sehr. Außerdem ist sie selbst krank geworden, sie hat Diarrhö. Genauso wie die kleine Amina. Beide haben wässrigen Durchfall. Der Junge ist auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Die Leute kommen manchmal einfach zu spät."
    "Jede Nacht stirb mindestens ein Kind"
    Unter dem Kleid der jungen Mutter zeichnen sich die Knochen ab, sie wirkt schwach und zerbrechlich. Sadia ist ein Flüchtling, wie fast die Hälfte von Luls Patienten. Sadia floh mit ihren Kindern vor neun Monaten aus einem der vielen umkämpften Gebiete in Somalia, seitdem lebt sie ohne jede Unterstützung in einem der improvisierten Flüchtlingslager in Mogadischu.
    Landesweit sind etwa 800.000 Menschen auf der Flucht vor Hunger, Dürre, Überschwemmung und Krieg. Zehntausende sind in der Hauptstadt gestrandet und versuchen dort zu überleben, mit viel zu wenig Nahrung. Vielen Patienten, die zu ihr kommen, kann Lul nicht mehr helfen:
    "Ja, jede Nacht stirbt mindestens ein Kind. Manchmal sogar drei oder vier. 80 Prozent der Patienten auf dieser Station sind schwer unterernährt, das gilt für die Kinder, die Mütter und die Neugeborenen."
    Somalische Flüchtlingskinder in einem Hilfslager außerhalb von Mogadischu
    Somalische Flüchtlingskinder in einem Hilfslager außerhalb von Mogadischu. Viele kommen aus den von Hitze und Dürre betroffenen südlichen Landesregionen und leiden an Mangelernährung. (AFP / ;Mohamed Abdiwahab)
    Mit DAAD-Stipendium nach Berlin
    Lul ist eine klein gewachsene, mütterlich wirkende Frau – und von einer Ausdauer, die man leicht unterschätzt. Seit Jahrzehnten versucht die Ärztin, dem großen Sterben in Somalia etwas entgegen zu setzen. Die 56-Jährige hat ihr Examen als Medizinerin gemacht, noch bevor der Bürgerkrieg 1991 in Somalia begann. Mitte der 90er-Jahre bekam sie ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, machte ihren Facharzt in Berlin. Von dort aus zog sie zunächst nach London, wurde britische Staatsbürgerin und kehrte sechs Jahre später in ihre Heimat zurück. Das war 2005, und ihr Land lag in Trümmern.
    "Ich bin zurückgekommen, weil meine Mutter hier alleine war, alle meine Geschwister waren geflohen. Außerdem wollte ich den Menschen hier helfen, wir haben in Somalia kaum Kinderärzte. Als ich wiederkam, war das Krankenhaus wegen des Krieges geschlossen, es gab kein Personal mehr. 2007 hatten wir einen Cholera-Ausbruch, da habe ich das Krankenhaus wieder eröffnet und die Kinderstation wieder aufgebaut. Wir waren die einzigen, die ein Zentrum speziell für Cholera-Patienten hatten."
    Grund für Unterernährung sind Dürre und Überschwemmungen
    Anfangs waren Lul und ein paar Helferinnen alleine. Deswegen fing sie an, Nachwuchs auszubilden, unterrichtete in Mogadischu an einer privaten Universität. Von den heute 30 Ärztinnen und Ärzten der Abteilung hat sie, wie sie sagt, die meisten geschult. Hilfsorganisationen helfen bis heute mit Medikamenten, medizinischen Geräten und Verbrauchsmaterial. Seit 2012 hat Somalia wieder eine international anerkannte Regierung. Und Lul hoffte anfangs, dass die Not der Bevölkerung damit abnehmen werde. Vergeblich.
    "Wir haben wieder mehr unterernährte Patienten, der Grund dafür sind momentan vor allem Dürre und Überschwemmungen. Und bei starkem Regen sind Cholera und wässriger Durchfall viel häufiger als sonst. Außerdem haben wir neuerdings wieder viele Kinder, die unterernährt sind. Zurzeit sind es 130 bis 140. Jedes unserer Betten ist belegt."
    Menschen waten mit Fernsehern und Körben auf den Schultern durch die Fluten nach einer Überschwemmung in Somalia
    Der Tropensturm "Sagar" führte im Mai zu Überschwemmungen in Somalia (AFP / Mohamed Abdiwahab)
    Einige Viertel Mogadischus boomen
    Diese Entwicklung ist auf den ersten Blick erstaunlich, denn einige Viertel der somalischen Hauptstadt boomen geradezu. Ein Beispiel unter vielen: die schicke "Mogadishu Mall", ein Einkaufzentrum mit spiegelnden Fliesen und den bislang einzigen Rolltreppen des Landes. Sie wurde im vergangenen Jahr eröffnet.
    Immer mehr Hotels und Geschäftshäuser werden hochgezogen, erste Appartementblocks entstehen, im Zentrum unterscheiden sich die Mieten kaum von denen in Städten wie Rom, manche liegen sogar darüber. Aber nur ein paar Kilometer entfernt, liegen ganze Viertel bis heute in Trümmern. Zwischen den Ruinen stehen die Zelte von Flüchtlingsfamilien, weit außerhalb der Stadt liegen die riesigen Lager der Vertriebenen.
    "Die meisten Reichen haben ihr Geld im Ausland verdient, oder sind hier Geschäftsleute. Nichts davon schafft Arbeitsplätze. Die Kluft zwischen Arm und reich wird größer."
    "Regierung könnte Gesundheitssystem mehr fördern"
    Die fatalen Folgen sieht Lul jeden Tag in ihrem Krankenhaus.
    "Manchmal bin ich wütend, weil fast alle Tode meiner Patienten vermeidbar wären. Wir könnten sie verhindern, wenn unser Gesundheitssystem besser und effektiver wäre. Wenn die Regierung sich mehr Mühe geben würde Steuern einzutreiben, könnte sie das Gesundheitssystem fördern - schließlich ist sie dafür verantwortlich. Die Steuerzahler haben ein Recht auf bestimmte staatliche Leistungen. Dazu gehören ein funktionierendes Gesundheitswesen, Sicherheit und Bildung."
    Neben ihrer Arbeit als Ärztin versucht Lul die Politik zu drängen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, statt nur bei ausländischen Organisationen um Hilfe zu bitten. Dass ein Staat gegenüber seinen Bürgern auch Pflichten hat, ist einer der wichtigsten Gedanken, die sie aus Europa mitgenommen hat.