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Als ob man lebte

Juozas lag in einem weißen Krankenhausbett, und es tat weh. Das eine Bein war eingegipst, von einem eindrucksvollen Gewicht in der Schwebe gehalten, auch die Brust zierte ein Gipspanzer, der Kopf war mit einem dicken Verband umwickelt.

Elisabeth Fleisch | 16.10.2002
    Der junge Schuldirektor Juozas, verheiratet mit der schönsten Frau des Lehrerseminars und Vater eines zweieinhalbjährigen Sohnes, wurde dreimal von einem russischen Lastwagen überfahren. Nun geht es mit ihm zu Ende, er sieht vor seinem geistigen Auge Bilder aus der Zukunft und vor allem der Vergangenheit an sich vorüberziehen. Bilder wie aus einem Traum oder einem Film.

    Man glaubt, darin mitzuspielen, obwohl man, wie in einem Kaleidoskop, nur Bilder vorgesetzt bekommt und dennoch alles fühlt. Fast so, als ob man lebte.

    Der Autor Teodoras Cetrauskas erzählt in seinem Buch vom Schicksal des Lehrers Juozas und seiner kleinen Familie, das mit der Geschichte seines Landes Litauen untrennbar verbunden ist. Das heroische Märchen, wie sein Roman im Untertitel heißt, enthält eine Menge Anspielungen an die Legenden und historischen Scheidepunkte Litauens:

    In einem Märchen kann man sehr viel sagen, und ich glaube, ich habe sehr viel gesagt von der Geschichte, viele Heiligkeiten habe ich erwähnt, diese Tannenbergschlacht oder dieses Land vom Meer zu Meer, also das ist Anspielung an die Tannenbergzeiten, als Litauen so ein sehr großes Staat war von der Ostsee bis zum schwarzen Meer.

    Nicht zuletzt speiste sich auch von diesen ruhmreichen Zeiten die Motivation der litauischen Partisanen, gegen die sowjetische Besatzung zu kämpfen. Als die russischen Soldaten 1944 in Litauen einmarschierten, erklärten die "Tannenbergland-Männer" ihnen den Krieg. Er dauerte mehr als 50 Jahre. Erst als die sowjetische Armee aus Litauen abzog, verließen die letzten Partisanen die Wälder. Sie sind heute die Helden des Landes und daran wird öffentlich nicht gedeutelt. Cetrauskas aber sieht auch die Kehrseite des Heldentums:

    Man hielt diese Zeit als heroisch, als eine sehr schöne Zeit, aber ich denke, dass jeder Krieg ist keine schöne Zeit fürs Leben und ich hab erzählt, dass es überhaupt nicht so schön war. Irgendwie entheroisiere ich diese Zeit, obwohl ich bin an der Seite der Leute, die dort kämpften.

    In seinem Roman schildert Cetrauskas die Grausamkeiten beider Seiten. Nicht nur die Sowjets, sondern auch die Freiheitskämpfer haben Todesurteile an Unschuldigen vollstreckt.

    Wohin der Schuster verschwunden war, klärte sich dann nach drei Tagen auf, als aus der Mutter der Flüsse seine Beine herausragten, und alle sahen, dass der Schuster sich kopfüber im Wasser befand, als suchte er irgendetwas auf dem Grund des Flusses, als könnten dort Perlen sein. Er tauchte so seltsam auf, weil er einen Stein um den Hals trug. Die krivisch-vaidilutisch-pilenische Gerichtsbarkeit war erbarmungslos, und sie war schnell. Was den Schuster anbetraf, stellte sich heraus, dass man sich geirrt hatte.

    Cetrauskas hat die schweren Zeiten selbst erlebt. Nur unter schwierigen Bedingungen konnte er studieren. Nach dem Studium arbeitete er als Lektor und Übersetzer, übertrug die Werke von Günther Grass, Wolfgang Koeppen, Thomas Bernhard und vielen anderen deutschsprachigen Autoren ins Litauische. Aufgewachsen ist er bei seiner Mutter, denn sein Vater wurde sehr jung von einem Auto überfahren - wie der Protagonist Juozas in seinem Roman. Dieser unterstützt wie alle guten Litauer die Partisanen, aber als er eines Tages verhaftet wird, hat er Zweifel, ob er der Folter gewachsen sein wird:

    Als man ihn abführte ... und in den Keller der Kreiskommandatur steckte, zu dem Mann mit der zerschnittenen Kehle, der verstummt war, dem anderen, der, gestern hineingeworfen, bewusstlos dalag und nur noch röchelte, und noch einem anderen, der von einer Zellenecke in die andere lief und kicherte, da wusste Juozas, was ihn erwartete .... und er zweifelte, ob er gänzlich ohne indianische Erfahrung, würde durchhalten können.

    Deshalb gibt er vor, zur Kooperation mit den Besatzern bereit zu sein. Nach Hause zurückgekehrt, prahlt er, wie er die Russen hinters Licht geführt habe. Die Falle der Spitzel schnappt zu, sein Tod ist nicht mehr abzuwenden. Es ist ein zwiespältiger Heldentod. Denn Juozas ist dem Schlimmsten ausgewichen - der Demütigung und Entwürdigung durch Folter und Gefängnis. Lieber wählt er den Tod, als irgendwann als Krüppel zu Frau und Kind zurückzukehren. Der Autor Cetrauskas stellt die Geschichte des Lehrers den großen Heldenmythen entgegen:

    Wenn man diese Helden schildert in der Literatur, und die Helden so heldenhaft macht, macht man es überhaupt unmöglich einem Menschen zu leben, der vielleicht kein so großer Held ist. Und darum habe ich auch diesen Juozas gezeigt. Ich wollte sagen: Man kann also Mensch bleiben. Er wusste nicht, ob er das aushalten kann. Ich halte ihn für einen Helden, weil er Mensch geblieben ist.

    Stilistisch durchzieht den Roman ein märchenhafter Ton und eine manchmal bittere Ironie. Nur durch die Untertreibung, ja beinahe Verharmlosung kann man das Erlebte für den Leser erträglich beschreiben, sagt Cetrauskas. Ironie ist für ihn nicht nur Stil-, sie ist für ihn Überlebensmittel - wie für sein Alter Ego im Roman, den kleinen Aurelius, von dem es heißt, dass er schon früh in eine ironische Resistenz übergegangen sei.

    Wenn man ironisch ist, kann man durchleben diese Zeiten. Ich bin frei, aber meine Bücher müssen im Ausland erscheinen wie in der Samistadzeit.

    In Litauen ist diese Geschichte, die den Partisanen etwas von ihrem Heldenschein nimmt, nicht willkommen. Kein litauischer Verlag wollte es bisher veröffentlichen. Deshalb erscheint das Buch jetzt im Oberhausener ATHENA-Verlag:

    Dieses Buch erscheint nur deutsch und ich kann nicht sagen, warum. Dieses Buch wurde einige Male vorgeschlagen zu publizieren und bei uns gibt es irgendwelche Kommission, die unterstützt die litauischen Bücher, die geschrieben werden. Die Verleger sind so jetzt, dass sie nur unterstützte Bücher publizieren, und dieses Buch wurde nicht unterstützt. Ich hab das im Jahre 99 geschrieben, drei Jahre, ich warte auf Unterstützung. Ich kann nur raten, warum.