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Alt sein in Portugal (5/5)
Unendlicher Spaß im Altenheim

Ins Altenheim abgeschoben zum Sterben? Nicht bei uns, sagen Sofia Nunes und Ângelo Valente. Sie pflegen in Ganfanha do Carmo einen sehr persönlichen Umgang mit ihren Senioren. Und machen sie mit nachgestellten Musikvideos zu Internetstars.

Von Tilo Wagner | 16.03.2018
    Halligalli ist im Altenheim von Sofia Nunes und Ângelo Valente keine Ausnahme, sondern ganz üblich. Ob andere einen sehr persönlichen Umgang mit den Senioren nun unprofessionell finden oder nicht, so sind wir eben drauf, sagt Valente.
    Partymachen ist im Altenheim von Ermelinda Caçador keine Ausnahme, sondern ganz üblich (Deutschlandradio / Tilo Wagner)
    Die Stühle sind zur Seite gerückt, in der Mitte tanzen Jung und Alt, ein Ball fliegt durch die Luft: Das Altenheim in Gafanha do Carmo verwandelt sich am späten Vormittag plötzlich in eine Partylandschaft. Zu den wilden Rhythmen bewegen sich ein paar ältere Damen, ein Mann im Rollstuhl, eine junge Frau mit einer Videokamera und eine Gruppe angehender Pfleger, die zu Besuch in dem Fischerdorf sind.
    In gelöster Stimmung stellen sich die jüngeren Gäste kurz vor: Viele sind arbeitslos und haben den Weiterbildungskurs gewählt, um später einmal in einem Krankenhaus oder Seniorenheim anfangen zu können.
    "Weil wir einfach so drauf sind"
    Ângelo Valente und Sofia Nunes, beide um die dreißig Jahre alt, hören aufmerksam zu. Seit der Eröffnung des Altenheims in Gafanha do Carmo im Jahr 2010 haben die beiden Leiter eine Reihe von Projekten und Ideen verwirklicht. Ihr Ziel: Die Senioren sollen sich richtig wohl fühlen. Ângelo Valente erklärt, was er damit meint:
    "Wenn wir hier wie eine Familie leben und richtige Beziehungen untereinander aufbauen, dann ist es egal, wo wir leben. Wir fühlen uns wie zu Hause. Und normalerweise ist man zu Hause ja auch glücklich. Deshalb pflegen wir Betreuer ein sehr enges Verhältnis zu unseren Senioren. Manche halten das für unprofessionell. Aber für uns ist es eine ganz natürliche Herangehensweise, weil wir einfach so drauf sind."
    Valente, ein sportlicher Typ mit einem breiten Grinsen im Gesicht, ist eigentlich ausgebildeter Animateur. Und das Altenheim sieht manchmal wirklich aus wie ein Freizeitcamp: Im Aufenthaltsraum hängen bunte Portraitfotos an den Wänden, meistens läuft laute Popmusik, auf einer Tafel steht: "Vorsicht, hier gibt's glückliche Menschen!" Für ein portugiesisches Altenheim sei diese Form von Freiheit ungewöhnlich, sagt Sofia Nunes, die Altersforschung an der Universität im benachbarten Aveiro studiert hat:
    "Man verbindet ein Seniorenheim immer mit einer ganzen Reihe von Klischees, zum Beispiel, dass die Leute, die hierherkommen von ihrer Familie alleingelassen wurden. Oder, dass sie hier nur rumsitzen, Fernsehen schauen und schlafen. Und tatsächlich merken wir das in den ersten Tagen. Die Leute glauben, sie würden nur zum Sterben herkommen."
    Klicks für Internetvideos aus dem Altenheim
    Den beiden Heimleitern geht es bei ihrer Arbeit aber nicht um den Tod, sondern ums Leben: Sie fingen an, mit den Senioren das zu machen, was sie schon immer mit ihren Freunden getan hatten: Lustige Fotos und Videos machen und sie ins Internet stellen. Damit wollten sie auch die vielen Familienangehörigen der Bewohner erreichen, die vor allem nach Frankreich oder Deutschland ausgewandert sind.
    "Wir leben hier in einer ländlichen Region, in der viele Senioren keine Gelegenheit hatten, Kontakt mit dem Internet und den sozialen Medien aufzunehmen. Manchmal ging das auch deshalb nicht, weil sie wegen ihrer körperlichen Verfassung zum Beispiel kein Tablet oder Smartphone bedienen können. Wir haben also vor fünf Jahren angefangen, die Videos zu machen und sie ins Netz zu stellen."
    Mit kostenlosen Schneide- und Produktionsprogrammen perfektionierten die beiden Heimleiter ihre Kurzfilme, die immer häufiger im Internet von Leuten angeklickt wurden, die gar nichts mit dem Altenheim zu tun hatten. In einer Persiflage auf ein Video der amerikanischen Popsängerin Miley Cyrus tragen auch die Senioren kurze, eng anliegende weiße Unterwäsche und eine ältere Dame küsst mit ihren knallrot geschminkten Lippen sinnlich ihren Gehstock.
    Unverhoffte Medienkarriere einer 90-Jährigen
    Fast 250.000 Mal ist das Video bereits angeklickt worden, doch in der Kommentarspalte gab es nicht nur Lob und Bewunderung:
    "Viele Leute haben uns vorgeworfen, wir würden hilflose und unschuldige Senioren hemmungslos ausnutzen und damit ihre Würde verletzen. Die Leute glauben, dass die älteren Menschen keinen freien Willen mehr haben; und sie dürfen sich scheinbar auch nicht mehr zu Themen wie Sinnlichkeit oder Sexualität äußern. Es gibt in unserer Gesellschaft die Vorstellung, dass die Menschen mit zunehmendem Alter und höheren Pflegebedürfnissen nicht mehr über sich bestimmen können – das ist einfach falsch."
    Die Dame, die in dem Video ihren Gehstock genüsslich abschleckt, heißt Ermelinda Caçador. Die 90-jährige ehemalige Bäuerin ist Analphabetin und hatte in ihrem Leben außer ihrem Dorf nicht viel gesehen. Durch die Videos ist sie nun zu einem heimlichen Star all derjenigen geworden, die in den Medien in Portugal eine untergeordnete Rolle spielen.
    Ermelinda Caçador erzählt stolz von ihrem Auftritt in einer Late-Night-Show in Lissabon: Mit einer rosa Limousine sei sie vor den Fernsehsender chauffiert worden; und die Moderatorin hätte sie richtig fest in die Arme geschlossen.
    "Wir haben hier in unserem Heim unheimlich viel Spaß. Eigentlich wird es nur am Wochenende traurig, weil dann Ângelo und Sofia nicht hier sind – und sie fehlen uns dann sehr."
    Wenn jemand stirbt, sitzt der Stachel besonders tief
    Auf den ersten Blick scheinen die Gedanken an den Tod im Altenheim in Gafanha do Carmo tatsächlich eine untergeordnete Rolle zu spielen. Doch wenn einer der Senioren stirbt, sitzt der Stachel besonders tief. Ângelo Valente erinnert sich an den Tod von José Coelho, ein alter Fischer aus dem Dorf, der in vielen Videos Rollen übernahm, zum Beispiel trat er mit einer roten Perücke auf dem Kopf in einer neuen Version des Hip-Hop-Songs "Harlem Shake" auf:
    "Ich habe sehr gelitten, denn wir waren sehr eng miteinander verbunden. Herr Coelho war wie ein Großvater für mich. Was mich aber wirklich beruhigt hat, war die Vorstellung, dass er mit seinem Leben hier mit uns sehr glücklich war. Klar, der Tod tut immer weh. Aber wenn der Verstorbene bis zum Schluss glücklich war, ist das etwas, an das wir Überlebenden uns klammern können."