Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Alte Musik
Faszinierende Ansammlung von Neuentdeckungen

Die Musik der wallonischen Brüder Lantins entstand in der frühen Renaissance, in einer Zeit des musikalischen wie gesellschaftlichen Umbruchs. Vieles an dieser Epoche ist rätselhaft. Weshalb etwa haben Geistliche wie die Brüder Lantins innige Liebeslieder geschrieben? Das Baseler Ensembles Le Miroir de Musique hat die Kompositionen zum Großteil erstmals aufgenommen.

Von Rainer Baumgärtner | 31.01.2016
    Die Orgelpfeifen einer Kirchenorgel aufgenommen am 30.11.2012 in einer Kirche in Stadtbergen (Bayern).
    Ob Instrumente außer der Orgel damals überhaupt zum Einsatz kamen, ist umstritten. (dpa / Karl-Josef Hildenbrand)
    Das von Baptiste Romain geleitete Ensemble geht mit seiner CD weit in die Musikgeschichte zurück. Vor 600 Jahren sind die Stücke entstanden, die von den beiden Lantins erhalten sind, und für moderne Ohren klingen ihre Liebeslieder oft herb und fremdartig. Doch trotz der ungewohnten Gesangsharmonien und überkommenen Instrumentalklänge vermag diese Musik, wenn man sich ihr öffnet, einen eigentümlichen Reiz und eine unerklärliche Anziehungskraft auszuüben.
    Hugo de Lantins: Un seul confort pour mon cuer resjoïr
    Ein verbindendes Element vieler Komponisten um 1400 besteht darin, dass über ihre Biographien wenig bekannt ist. So verhält es sich auch bei Hugo, von dem das zuvor gehörte Lied stammt, und Arnold de Lantins. Nur dank Querverweisen von anderen Komponisten und möglichen Bezügen in ihren Werken kann man über ihren Werdegang spekulieren. Der wesentlich bekanntere Komponist Guillaume Dufay hat in einem Frühlingslied seine beiden Kollegen 'Huchon' und 'Ernoul' erwähnt. Und damit hat er offenbar die beiden Priester 'Hugonus' und 'Ernoldus' de Lantins aus dem Bistum Lüttich gemeint, die in derselben Zeit in der Kapelle eines Adeligen der Familie Malatesta in Pesaro tätig waren. Ihr ähnlicher Stil lässt vermuten, dass es sich um Brüder handelt, beweisen lässt sich dies jedoch nicht. Von Arnold ist noch bekannt, dass er zur selben Zeit wie Dufay Sänger der päpstlichen Kapelle in Rom war und 1432 dort gestorben sein dürfte. Von Hugo existieren keine derartigen archivarischen Dokumente, lediglich anhand seiner Werke lassen sich mögliche Verbindungen zu Mäzenen herstellen. Einiges deutet darauf hin, dass ein enger Austausch mit dem ebenfalls aus Wallonien stammenden Dufay bestand, so scheinen ein paar ihrer Werke für denselben Anlass komponiert worden zu sein. Wie auch eine Motette Dufays ist Hugos vierstimmige Motette "Celsa sublimatur victoria" dem Heiligen Nikolaus von Bari gewidmet. Zwei unterschiedliche Texte hat er dabei kunstvoll miteinander verwoben.
    Hugo de Lantins: Celsa sublimatur victoria / Sabine, presul dignissime
    Dies war eine Motette von Hugo de Lantins, eines der wenigen lateinischen und geistlichen Werke auf der neuen CD des Ensembles Le Miroir de Musique mit Werken von Arnold und Hugo de Lantins. Für ein Lied wie dieses mit religiösem Inhalt, das in der Kirche gesungen worden sein könnte, bietet sich eine A cappella-Aufführung an. Denn ob Instrumente außer der Orgel in der Übergangszeit vom Mittelalter zur Renaissance in der Kirche überhaupt zum Einsatz kamen, ist umstritten. Doch auch über die damalige Aufführungssituation weltlicher Kompositionen lässt sich weniges mit Sicherheit sagen. Beispielsweise ist in den Manuskripten oft nur eine der gewöhnlich drei Stimmen mit einem Text versehen. Dies gibt heutigen Interpreten die Gelegenheit, derartige Chansons auf ganz unterschiedliche Weise zu realisieren.
    Hugo de Lantins: Mirar non posso ni conzerner
    Baptiste Romain hat die sich bietenden Möglichkeiten mit seinem Ensemble hier weidlich genutzt. Manche Lieder lässt er rein vokal singen, andere werden von Instrumenten begleitet; manchmal verwendet er nur einen Sänger oder eine Sängerin pro Stimme, manchmal zwei, und während er die Instrumente teilweise die Gesangsstimmen doppeln lässt, übernehmen sie in anderen Stücken die Ausführung von einer oder zwei der Stimmen. Schließlich hat er einige Kompositionen rein instrumental ausführen lassen – von den Brüdern Lantins sind zwar keine Instrumentalstücke überliefert, doch war die instrumentale Aufführung von Gesängen in ihrer Zeit normal. Das folgende Lied von Arnold de Lantins, "Amor dienen und ehren möchte ich am Neujahrstag", hat Le Miroir de Musique mit einer Bearbeitung der Melodie in Form eines schnellen Tanzes ergänzt.
    Arnold de Lantins: Amour servir et honnourer (mit Quaternaria-Arrangement)
    Die Realisation des Chansons "Amour servir et honnourer" als Vokalstück und als Tanzbearbeitung bezeugt die hohe Kunst des Ensembles Le Miroir de Musique. Sein Name 'Spiegel der Musik' ist von einem wichtigen mittelalterlichen Traktat abgeleitet. Erst vor vier Jahren vom französischen Fidel- und Dudelsackspieler Baptiste Romain gegründet, setzt es sich zum Großteil aus Absolventen der Schola Cantorum Basiliensis zusammen, seit Langem eine Kaderschmiede der Alten Musik. Je nach Projekt ruft Baptiste Romain eine unterschiedliche Anzahl an Musikern zusammen, doch allen gemein ist, dass sie – selbst wenn sie sich auch mit späterer Musik beschäftigen – Spezialisten für die Epoche der Frührenaissance sind. An der neuen CD mit Musik von Arnold und Hugo de Lantins waren insgesamt zehn Musiker aus sechs Ländern beteiligt. Alle wirken auch in anderen internationalen Alte-Musik-Ensembles mit, etwa im Huelgas Ensemble oder bei Doulce Mémoire. Der Kern von Le Miroir de Musique, darunter Ensembleleiter Romain, die Sängerin Sabine Lutzenberger und der Lautenist Marc Lewon, bildet auch das Zentrum des von Lewon gegründeten Ensembles Leones. Dieses hat vor wenigen Tagen in der Sparte Alte Musik den renommierten Schallplattenpreis 'International Classical Music Awards' gewonnen. Derartige Auszeichnungen sind in Zukunft durchaus auch für Le Miroir de Musique denkbar.
    Hugo de Lantins: Plaindre m'estuet de ma damme jolye
    Dies war ein Chanson von Hugo de Lantins, die mit den Worten beginnt "Ich muss mich über meine schöne Dame bei allen Liebenden beklagen"; ein traurig-schönes Lied, das ein schockierendes und für die damalige Zeit einmaliges Akrostichon enthält, und zwar die schamlose Beleidigung – verzeihen Sie den ungebührlichen Ausdruck – "Scheißhure"!
    Die Musik der wallonischen Brüder Lantins, die wie viele ihrer franko-flämischen Kollegen nach Italien gingen, entstand in einer Zeit des musikalischen wie gesellschaftlichen Umbruchs. Vieles an dieser Epoche muss uns heute rätselhaft bleiben. Weshalb etwa haben Geistliche wie die Brüder Lantins innige Liebeslieder geschrieben – und weshalb hat Hugo einmal auch noch eine sehr persönlich klingende Verunglimpfung darin versteckt? Was heutigen Musikern bleibt, sind Versuche, die Melancholie der Werke und ihre satztechnische Raffinesse nachvollziehbar zum Leben zu erwecken. Die Brüder Lantins haben jeweils nur etwa zwei Dutzend Kompositionen hinterlassen, zwanzig davon hat Baptiste Romain mit seinem Ensemble Le Miroir de Musique auf sehr sensible und abwechslungsreiche Weise realisiert. Die dritte CD der Baseler Formation ist eine faszinierende Ansammlung von Neuentdeckungen geworden! Der ausgezeichnete Sound der Aufnahme in der kleinen Kirche im südbadischen Schloss Beuggen und das informative und mit Manuskriptabbildungen und Übersetzungen der Liedtexte ausgestattete CD-Beiheft runden die hohe Qualität der Veröffentlichung ab.
    Arnold de Lantins: Puisque je suy cyprianés
    Zum Abschluss der Sendung 'Die Neue Platte' im Deutschlandfunk war dies das Lied eines 'Zypernisierten', das heißt eines in eine Zypriotin Verliebten, von Arnold de Lantins. Es befindet sich auf einer CD mit weltlichen Werken von Arnold und Hugo de Lantins, die das Ensemble Le Miroir de Musique unter der Leitung von Baptiste Romain aufgenommen hat. Erschienen ist sie beim Label Ricercar, das Teil der Outhere Music-Gruppe ist.
    Arnold & Hugo de Lantins: Secular Works. Le Miroir de Musique. Baptiste Romain. Ricercar / Outhere-Music RIC 365 [ISBN 5400439003651] (LC 08851)