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Alte Stoffe an der Bastille

Die Zuschauer nähern sich der Lebenswelt des Warlords Macbeth aus der Luft - aus der Perspektive von Google Earth. Indem die Musik einsetzt, zoomt die Ansicht eines Städtchens senkrecht von oben auf den Marktplatz herunter. Der Ort ist von Giebelhäuschen umgeben, wie sie gerne nach Kriegseinwirkung rasch und preisgünstig wieder hochgezogen werden. Ein trüber Morgen, die Wolken hängen tief und ziehen träge vorüber.

Von Frieder Reininghaus | 07.04.2009
    Auf dem hermetisch geschlossenen Platz treffen die vom Feldzug zurückkehrenden Offiziere auf die "Hexen" - es sind die Frauen des Ortes, deren Outfit und Kleidung aussehen wie auf aktuellen Fotos aus Osteuropa. Dann schwingen die fulminanten Projektionen die Zuschauer wieder in die Lüfte. Und von Neuem fährt der Zoom hinunter. Diesmal gezielt auf das ansehnlichste Haus der Stadt zu und gewährt dann durch das Panoramafenster den Blick in einen kahlen, allzu aufgeräumten Salon (der Übergang von der virtuellen Bildern zum realen ist perfekt gemacht).

    Hinterm Gaze-Vorhang befindet sich offensichtlich eine Machtzentrale. Deren Bemannung zeichnet sich durch kühlen postsozialistischen Charme und die neueste russische Kleiderordnung aus: Wie auf einem schon etwas vergilbten Foto Dmitris Tiliakos, der Titelheld, und Violetta Urmana, seine stämmige Lady, eine wuchtige Sopranistin - und eine Gesellschaftsdame, die ihre Umgebung mit Zaubertricks nervt. Die beiden planen Aufstieg und Machterhalt, gehen dabei bekanntlich über Leichen.

    Dmitri Tcherniakovs belebt das Erstarrte, lässt das Leben erstarren. Sein Hyperrealismus rückt Shakespeares Plot in scharfes aktuelles Licht. Zum Beispiel schaukelt der Schaukelstuhl noch weiter, während Macbeth längst aufgestanden und aus dem Bild gelaufen ist, um eine neue fatale Anordnung zu treffen. Nicht nur der bisherige Machthaber Duncan, eine gespenstisch joviale Peinlichkeit, wird ja aus dem Weg geschafft, sondern es muss noch so mancher dran glauben - an zweiter Stelle der Offizierskollege Banco.

    Der soll mit seiner ganzen Familie, der eine große Zukunft prophezeit wurde, liquidiert werden. Der stimmgewaltige Ferruccio Furlanetto wird nicht blutig niedergemetzelt, sondern bleibt einfach auf dem Marktplatz liegen (als wäre es ein Journalist vor der Kreml-Mauer). Überhaupt vermeidet Tcherniakovs Regie drastisch sichtbare Grausamkeiten und Blutbäder. Gerade auch am Schluss, dem Macbeth in Unterhosen entgegensehen muss.

    Den Stadtplan, dessen animierende Betätigung die Gelenkstellen zwischen den Tableaus erfüllte, hält er bis kurz vorm prosaischen Ende in der Hand. Die Leute, die auf dem Marktplatz den "Patria-Chor" angestimmt hatten, stellen das Ausreißen von Bäumen pantomimisch dar - und setzen sich als "Wald von Birnam" in Bewegung.

    Teodor Currentzis holt mit überbordendem Körpereinsatz ein Äußerstes aus der von Stefano Secco angeführten Offiziersriege heraus, aus dem Chor und dem fulminanten Orchester. Die Pariser Nationaloper liefert mit diesem "Macbeth" ein europäisches Spitzenspiel - östlich-westlich ausbalanciert, hochglänzend und abgründig zugleich.