Dienstag, 16. April 2024

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Alte Stoffe und junge Regisseure

Die 31-jährige Jorinde Dröse brachte am Thalia-Theater Theodor Storms Novelle "Der Schimmelreiter" auf die Bühne. Und am Schauspielhaus inszenierte der 30-jährige Roger Vontobel Ibsens Jugenddrama "Die Helden von Helgeland" gleich doppelt: im Malersaal und virtuell auf einer Insel im Second Life.

Von Elske Brault | 07.01.2008
    Die starke Hjördis will nur den stärksten zum Manne nehmen: Den nämlich, der den Eisbären in ihrer Schlafkammer erlegt und sich so gewaltsam Zugang zu ihrem Bett erzwingt. Im Dunkel der Nacht erschlägt Sigurd den Bären, behauptet aber, sein Freund Gunnar habe die Heldentat vollbracht. Der schwache Gunnar heiratet also die starke Hjördis, während Sigurd sich mit der zarten Dagny vermählt. Falls ihnen das alles irgendwie bekannt vorkommt: Ja, der Sagenstoff, der den "Helden auf Helgeland" zugrunde liegt, ist eng verwandt mit dem Nibelungenlied. Doch Henrik Ibsen macht daraus ein bürgerliches Beziehungsdrama, in dem zwei Paare nach fünf Jahren Ehe erkennen, dass sie den falschen geheiratet haben.

    "Leb wohl, Gunnars Gattin. Wir werden uns nie wiedersehen. – Er hat mich geliebt. Sigurd, er hat mich geliebt. Er hat mich geliebt!"

    Auf dieser Hollywood-Tonspur bewegt sich das Geschehen zu Beginn: Die sechs Schauspieler sitzen an Computern in einem nüchternen Büroraum und synchronisieren ihre Avatare. Die Geschichte läuft nämlich zugleich im Second Life des Internet ab, wo Computerspezialisten quasi ein Bühnenbild gebaut haben mit grünen Fjorden und Wikingerschiff, verschneiten Höhen und Heldenhalle. Die Zuschauer im Theater sehen das projiziert auf eine riesige Leinwand. Und lachen sich schlapp über die abgehackten Bewegungen der Avatare, über das Schwerterschwingen und Muskelaufpumpen dieser Playmobil-Wikinger. Doch während die Bilder die blutrünstige Heldensage ironisieren, ergreifen einen die echten Gefühle in den Stimmen der Schauspieler. Es ist, als schaue man einem Jugendlichen bei einem komplett bescheuerten Computerspiel zu und interessiere sich plötzlich für die Träume, die er mit diesem Spiel verbindet.

    Dann: Ein Knall, Konfettiregen, Party: Auch im ersten Leben gibt es genügend Plattformen zur Selbstdarstellung. Das zeigt ein Tanz-Wettkampf der beiden Paare Hjördis/Gunnar und Dagny/Sigurd, die sich an erotischen Posen gegenseitig zu überbieten suchen. Obwohl sich rasch herausstellt, dass im Bett in Wahrheit gar nichts in Ordnung ist. Dem dreißigjährigen Roger Vontobel gelingt mit dieser Inszenierung zweierlei: Die überzeugende Wiederbelebung eines vergessenen Ibsen-Dramas und eine vielschichtige Reflexion über das Verhältnis von Internet und Theater, von Spiel und Realität. Am Ende steht Hjördis schreiend auf dem Tisch und fordert die anderen vergeblich auf, bei ihren heldenhaften Phantasien mitzuspielen: Sie will mit Sigurd ein neues Leben beginnen. Der jedoch hat sich in der bürgerlichen Idylle mit Dagny eingerichtet. So scheitert Hjördis 20 Jahre vor Nora am Puppenhaus. Und Jana Schulz als Hjördis macht das zu einem atemberaubenden Erlebnis.

    Ganz anderen Gewalten war einen Abend zuvor der Hauptdarsteller in Jorinde Dröses Schimmelreiter-Inszenierung ausgesetzt: Ole Lagerpusch kämpft als Deichgraf Hauke Haien mit dem Wasser und demzufolge mit einer Erkältung. Schwarz und riesig weit ist die gesamte Bühne, leergefegt bis an die Brandmauer. Wasser ihr beherrschendes Element: Es bedeckt den Bühnenboden, die Schauspieler waten hindurch oder laufen auf Holzstegen darüber. Und Hauke Haien kriegt es gleich eimerweise ab: Seine Mitspieler schütten ihm das Wasser ins Gesicht. Denn Hauke ist von Kindesbeinen an ein Außenseiter. Er hat einen Traum.

    "Hart an dem Deiche da schießt ein starker Meeresstrom hindurch, der fast das ganze Vorland von dem Festland trennt. Und das - lässt sich dämmen. Das lässt sich dämmen! Ein neuer Deich. Mein Deich. Ein großer Schatz. Mein Schatz."

    Da hat sich ein bisschen "Herr der Ringe" in die Storm-Novelle verirrt: Hauke ist hinter seinem Deich her wie das Geschöpf Gollum hinter dem Ring. Jorinde Dröse macht aus dem Deichgrafen einen halbwegs Größenwahnsinnigen. Ole Lagerpusch wandelt sich im Verlauf des Abends überzeugend vom jugendlichen Schwärmer zum unerbittlichen Herrn, der beim Deichbau seine Leute in Sturm und Regen kontrolliert und antreibt. Ein Dauerregen nämlich fällt zum Schluss vom Bühnenhimmel. Statt der Stormschen Sturmflut tritt hier die Klimakatastrophe ein. Die 31-jährige Regisseurin konzentriert sich im Übrigen auf die menschlichen Beziehungen, und für die findet sie überzeugende Bilder: Die Leinwand, auf der Hauke seinen neuen Deich skizziert hat, schleppt seine Frau Elke gebückt auf dem Rücken hinaus: Sie muss seine Arbeit mittragen. Zwei Grubenlampen auf dunkler Bühne, mit denen zwei Schauspieler einander ins Gesicht und in den Zuschauerraum leuchten, beschwören jene Nebelnächte im Watt, in denen die Legende vom Teufelsschimmel entsteht.

    Ganz ohne Videoprojektionen oder aufwendige Requisiten, mit minimalen Theatermitteln löst Jorinde Dröse genial eine Aufgabe, von der man sich doch fragen muss, warum sie ihr gestellt wurde. Autor John von Düffel nämlich hat ganz schön ackern müssen, um den wortkargen Friesen aus Storms Novelle theatertaugliche Dialoge in den Mund zu legen. In der Vorlage erschöpft sich beispielsweise die Liebesgeschichte zwischen Hauke und Elke in einem "Nu, Elke?" "Ja, Hauke." Zwar trifft von Düffel geschickt den Stormschen Ton. Zwar fügt die Zuspitzung auf der Bühne der Geschichte des Schimmelreiters interessante Aspekte hinzu. Aber sie nimmt ihr auch viele. So schön das alles zu sehen ist: Zu lesen ist es noch besser.