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Alternative Universitäten in der Türkei
Mut zur Bildung nach dem Putschversuch

Tausende Dozenten wurden nach dem Putschversuch in der Türkei suspendiert oder gefeuert. Trotzdem lehren viele weiter - an alternativen Universitäten wie der in Kocaeli bei Istanbul. 19 Professoren und Dozenten haben diese Alternative für Studenten ins Leben gerufen.

Von Luise Sammann | 19.10.2016
    Eine Studentin der Schulpädagogik schreibt am 17.10.2012 während einer Vorlesung in einem vollen Hörsaal in der Universität in Tübingen (Baden-Württemberg) mit.
    Die Dozenten und Professoren an der alternativen Universität Kocaeli beweisen Mut, aber haben auch nichts mehr zu verlieren. (picture alliance / dpa - Jan-Philipp Strobel)
    Etwa 250 Menschen drängeln sich in einem kleinen Saal im türkischen Kocaeli, gut eine Autostunde von Istanbul entfernt. Die Luft im Raum ist schlecht, die Stimmung dafür umso besser. Und das, obwohl das Thema, zu dem der kleine Mann im Anzug referiert, alles andere als amüsant ist: "Parallelen zwischen deutschen Universitäten des Jahres 1933 und türkischen im Jahr 2016" hat er seinen Vortrag genannt.
    "Die Türkei von heute ähnelt den Anfängen der Nazizeit in Deutschland sehr, dementsprechend sollten wir auf alles gefasst sein! Auch in Deutschland traf es damals mit dem Universitätsgesetz als erstes die kritische Wissenschaft."
    Ein erschreckend aktueller, treffender Vergleich, findet Student Ege, der sich nach der Veranstaltung draußen eine Zigarette anzündet.
    "Weil sie überall an den türkischen Unis die Freiheit einschränken, seit der Ausnahmezustand ausgerufen wurde. Sie verbieten politische Aktivitäten, lassen keine Diskussionen mehr zu. Was sie wollen, das sind nicht-denkende Studenten, die nur noch wie Roboter alles nachplappern."
    Kocaeli Solidaritäts-Akademie
    Kein Wunder also, dass die heutige Vorlesung nicht etwa an einer staatlichen Uni stattfindet, sondern an der Kocaeli Solidaritäts-Akademie. Die 19 Professoren und Dozenten, die die alternative Mini-Universität zu Beginn des Monats ins Leben gerufen haben, beweisen mit ihrer Themenwahl Mut. Allerdings haben sie auch nicht mehr viel zu verlieren. Im Rahmen des Ausnahmezustandes wurden sie über Nacht fristlos entlassen. Der inoffizielle, aber allseits bekannte Grund: Sie gehören zu den Unterzeichnern der Initiative "Akademiker für den Frieden".
    Januar 2016. Die Gewalt zwischen Türken und Kurden im Südosten der Türkei erreicht ihren blutigen Höhepunkt. Mitten in Wohngebieten fliegt das türkische Militär Einsätze gegen kurdische PKK-Kämpfer. Ganze Städte stehen wochenlang unter Ausgangssperren. Die Leiche eines kleinen Mädchens muss von ihrer Familie über zwei Tage im Gefrierschrank gelagert werden.
    Weil sie das Bild der zehnjährigen Cemile nicht mehr loslässt, unterschreiben 1.128 Universitätsangestellte kurz darauf einen Aufruf an die AKP-Regierung.
    "Als Akademiker dieses Landes werden wir nicht schweigen und uns nicht zu Komplizen derer machen, die dieses Massaker begehen", heißt es in ihrer Erklärung.
    Die Reaktion folgt prompt: 30 Minuten lang beschimpft Staatspräsident Erdogan die Unterzeichner in einer Rede, unterstellt ihnen mit ihrem Aufruf, die verbotene PKK zu unterstützen.
    "Es besteht kein Unterschied, ob jemand Kugeln im Namen einer Terrororganisation schießt oder ob er Propaganda für sie macht", so Erdogan.
    Verlust sämtlicher Gehalts- und Rentenansprüche
    Als ein gutes halbes Jahr später der Ausnahmezustand ausgerufen wird, folgt die Rache, so empfinden es die fristlos entlassenen Akademiker. Als angebliche Terrorunterstützer verlieren sie nicht nur ihre Anstellungen, sondern auch sämtliche Gehalts- und Rentenansprüche. Nilay, Medizinprofessorin, kann die Tränen nur schwer zurückhalten.
    "An dem Tag, an dem wir vorübergehend festgenommen wurden, veröffentlichten die AKP-nahen Medien hier unsere Fotos und Namen, machten uns zur Zielscheibe. Wenn wir auf die Straßen gehen, kann uns jederzeit jemand erkennen und angreifen."
    Hakan Kocak, Wirtschaftswissenschaftler, nickt zustimmend. Auch von den eigenen Kollegen seien sie ausgegrenzt worden.
    "Einige sagten ganz direkt in der Presse: Unsere Kollegen wurden gefeuert, weil sie PKK-Unterstützer sind."
    Doch anstatt sich dem politischen, medialen und gesellschaftlichen Druck zu beugen, setzten sich die entlassenen Wissenschaftler zusammen und gründeten die Kocaeli Solidaritäts-Akademie. Jede Woche laden sie nun im Seminarraum der örtlichen Lehrergewerkschaft zu offenen, kritischen Vorlesungen ein.
    "Wir wollen zeigen, dass wir ganz bewusst hier in der Stadt bleiben und uns nicht vertreiben lassen", so Onur Hamzaoglu, Professor für öffentliche Gesundheit.
    "Und, dass wir weiter lehren und forschen werden, auch ohne offizielle Universitätstitel."
    In mehreren türkischen Städten entstehen in diesen Tagen weitere sogenannte Solidaritäts-Akademien. Trotz Entlassungen, Drohungen und Verhaftungen: Wir geben uns nicht kampflos geschlagen, heißt die Botschaft ihrer Gründer.