Dienstag, 23. April 2024

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Altphilologe: Lateinunterricht gehört zu den "interessantesten didaktischen Experimentierfeldern"

Caesar, Ovid, Cicero - Generationen von Schülern haben sich durch den Lateinunterricht gequält. Die Zeiten des Paukens und reinen Übersetzens sind aus Sicht des Altphilologen Bernhard Zimmermann vorbei. Heute sei Latein im Trend und werde weitaus spielerischer und mit mehr Bezug zum Alltag vermittelt.

Bernhard Zimmermann im Gespräch mit Christoph Heinemann | 31.08.2012
    Christoph Heinemann: Mit ihrem Latein am Ende ist laut Redewendung eine Person, die nichts mehr zu sagen hat. Heute gilt als global mundtot, wer des Englischen nicht mächtig ist. Das Angelsächsische in seiner britischen und amerikanischen Ausprägung gilt als Lingua franca – auch in Europa, dessen Gelehrte sich vor gar nicht so langer Zeit noch selbstverständlich lateinisch unterhielten oder schrieben.

    Das gibt es auch heute noch: Der Fernsehsender 3SAT strahlte einmal die Sendung "Kulturzeit" in Latein aus. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ließ das Interesse an der alten Sprache nach. Seit rund zehn Jahren erfreut sich Latein aber wieder einer wachsenden Beliebtheit. Rund zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler – etwa 800.000 Pennäler – lernen Latein, Platz drei hinter Englisch und Französisch. Und das freut den Vorsitzenden des Altphilologenverbandes.

    Wir sind in Freiburg mit Professor Bernhard Zimmermann verbunden. Er lehrt Altphilologie an der Albert Ludwigs Universität. Salve magister!

    Bernhard Zimmermann: Salve!

    Heinemann: Den Rest jetzt bitte auf Deutsch. – Wie erklären Sie sich die – Pardon: Jetzt kommt ein französisches Wort – Renaissance des Schulfachs Latein?

    Zimmermann: Ja, es gibt da, denke ich, eine ganze Reihe von Gründen. Das ist, glaube ich, sehr vielschichtig. Wir haben ja seit etwa zehn Jahren, wie Sie gesagt haben, vielleicht sogar zwölf Jahren, eine richtige Renaissance des Lateinunterrichts an den Schulen. Aber auch an den Universitäten wird das Fach Latein wieder sehr stark nachgefragt, nach der Flaute der 80er- und auch frühen 90er-Jahre. Ich denke, es hat zunächst einmal damit zu tun, gerade auch aufgrund der Aktivität des Altphilologenverbandes, der sehr in die Öffentlichkeit gegangen ist, um auf die Wichtigkeit des Lateins hinzuweisen, die Öffentlichkeit, gerade Eltern und auch größere Schüler und Schülerinnen, dass Latein wieder mehr in den Blickpunkt geriet, eben Latein als eine Sprache, die sozusagen als Reflexionssprache in erster Linie dazu dient, dazu helfen kann, moderne Fremdsprachen, aber auch das Deutsch besser zu durchdringen.

    Deutsch und vor allem auch Englisch und Französisch wird ja in der Schule kommunikativ in der Regel unterrichtet, das heißt, man macht das im Dialog, während Latein ja eben nicht im Dialog, nicht gesprochen wird. Es gibt zwar auch diese Tendenz, dass man versucht, ein bisschen Latein zu reden, aber im Prinzip wird Latein ja vom Blatt studiert und daran wird, wenn man so will, nicht gelernt, wie Sprache funktioniert.

    Heinemann: Können Sie fließend Latein sprechen?

    Zimmermann: Ich denke nicht. Das kann man üben, aber wir machen es in der Universität nicht. Also, ich glaube nicht, dass ich es fließend kann.

    Heinemann: Gut, okay. – Bleiben wir kurz an der Universität. Es fehlen Lateinlehrer!

    Zimmermann: Ja, immer noch. Es wird inzwischen allerdings dieser Lehrermangel etwas abgebaut. Gerade in Süddeutschland, Bayern und Baden-Württemberg dürfte der eklatante Lateinlehrermangel inzwischen bald behoben sein. In anderen Bundesländern ist es immer noch stark, da wird immer noch händeringend nach Lateinlehrerinnen und Lehrern gesucht.

    Heinemann: Herr Zimmermann, Sie kennen das Argument: Wer noch so gut Latein, dafür aber kein Wort Englisch spricht, der hat es heute schwer in der Wirtschaft oder auch in der Wissenschaft. Sie haben ein paar Gründe genannt. Warum sollten generell junge Leute heute Latein lernen?

    Zimmermann: Es ist ja auch so, dass von den Altphilologen, also von Latein- und Griechischlehrern, ja nicht propagiert wird, dass man nur Latein, oder nur Griechisch, also nur die beiden alten Sprachen lernt, sondern gerade – ich denke, das ist auch ein Grund, weshalb Latein so boomt in den letzten Jahren – das als didaktisches Modell eingeführt wurde. Man braucht moderne Fremdsprachen, Englisch in erster Linie, aber auch Französisch, plus Latein, sodass man moderne Fremdsprachen in Verbindung mit Latein lernt. Das sogenannte Biberacher Modell, das vor etwa 15 Jahren gerade hier in Süddeutschland von dem Ort Biberach ausgehend, wo es zum ersten Mal praktiziert wurde, eingeführt wurde.

    Heinemann: Aber können vor Lachen bei G8, also bei der verkürzten Gymnasialzeit.

    Zimmermann: Ja, ich denke schon. Wenn man gleich in Klasse 5 damit beginnt, parallel Englisch und Latein zu lernen, kann das, wenn man so will, einen richtigen Synergieeffekt haben, dass dadurch auch die Englischkenntnisse, Deutschkenntnisse, eventuell auch Französischkenntnisse, die Beherrschung der Sprache von der grammatischen Seite her besser werden, gestützt werden. Sodass auch der Nachteil des G8 sozusagen auf diesem Weg vielleicht etwas ausgeglichen werden kann.

    Heinemann: Haben Sie als Schüler begeistert Grammatik gepaukt?

    Zimmermann: Ich glaube nicht – nein. Es wird aber auch nicht mehr gepaukt. Das Pauken, wie das in den 70er-Jahren war, als ich ins Gymnasium ging, das ist schon längst ad acta gelegt im Lateinunterricht. Wenn Sie die neueren Lateinlehrbücher ansehen, die sind wirklich hervorragend didaktisch aufgemacht. Es wird sehr viel spielerisch gemacht, sehr viel mit Musik, mit kleinen Sketchen etc. gearbeitet, es wird Alltagsleben in Rom anhand solcher Texte in Latein eingeführt. Also, es ist nicht mehr das Pauken, es wird sehr viel jetzt auch auf anderem Weg tatsächlich gelernt.

    Heinemann: Herr Professor Zimmermann, haben Sie Verständnis für Hörerinnen und Hörer, denen sich im Nachhinein, also post festum, die Nackenhaare hochstellen bei der Erinnerung an den ACI oder den Ablativus absolutus? Oder anders gefragt: Was raten Sie Lateingeschädigten?

    Zimmermann: Ich denke, dass man das durchaus nachvollziehen kann, dass es sehr viele Lateingeschädigte gibt. Ich denke, in meiner Generation zwischen 50- und 60-Jährigen wird das bestimmt häufig der Fall sein. Man stößt auch gerade an der Universität immer wieder bei Kollegen auf eine gewisse Zurückhaltung, was Latein angeht, die eben in solchen Crashkursen das sogenannte Latinum an der Uni nachgemacht haben. Das sind natürlich die Negativseiten.

    Aber ich denke, man kann ihnen raten, auf dem Umweg über die Kultur wieder zu Latein zurückzufinden, indem man, wenn man in Italien ist, versucht, vielleicht mal eine Inschrift zu entziffern, in der Kirche eine Inschrift zu lesen und dadurch wieder sich mit Latein etwas auf diesem Level dann auseinanderzusetzen und zu bemerken, man kann ja doch mit den Lateinkenntnissen, die man damals sich wahrscheinlich mit Mühe und Not anpauken ließ, noch einiges anfangen, oder das wieder etwas zu beleben.

    Heinemann: Damals, haben Sie gesagt. Ich habe in meinem Lateinbuch mal geblättert, "Ars Latina", kennen Sie vielleicht auch noch. Die Jahre sind nicht ganz spurlos an dem Buch vorübergegangen, habe ich dann auch noch mal festgestellt. Wenn man die Texte übersetzt, dann hatten wir Schüler eigentlich den Eindruck, dass sich die Römer von morgens bis abends mit irgendwem herumgeprügelt haben. Welches Bild von den – entschuldigen Sie das Wort – Sprachusern vermitteln heutige Lateinbücher?

    Zimmermann: Es wird da sehr viel mehr jetzt Wert gelegt auf den gesamten kulturellen Kontext, dass man also auch das Leben in Rom, das ja nicht nur aus Krieg führen und Politik auf dem Forum bestand, dies mit einzubeziehen, vor allem auch die Alltagskultur mit reinzunehmen und eben auch schon früh, was ja auch wichtig ist, das vergisst man häufig im Zusammenhang damit, dass man Latein nur als diese Stützsprache zum Erlernen anderer Fremdsprachen nimmt, dass eben es eine ganz reiche lateinische Literatur gibt, die nun gar nicht so voll ist von Krieg und Politik, wie man es vielleicht aus dem Schulunterricht noch weiß. Es gibt ja neben Cäsar eine Vielzahl anderer Autoren, die großartige Literatur geschrieben haben.

    Heinemann: Wie kann ein Lateinlehrer das alles lebhaft herüberbringen?

    Zimmermann: Wir machen vom Altphilologenverband, wo ich ja momentan der Vorsitzende bin, alle zwei Jahre einen großen Bundeskongress, der dieses Jahr in Erfurt war, wo wir solche neuen didaktischen Modelle vorstellen, durchspielen, und da war ich selber – ich komme ja nicht aus der Schule, sondern von der Universität – wirklich in großem Maße erstaunt, welche interessanten Dinge da praktiziert werden, also über die Musik zum Latein zu kommen, dass man lateinische Lieder mit den Schülerinnen und Schülern gerade in der Unterstufe singt und dadurch in die Sprache einführt.

    Über kleine Theaterstücke: Wir hatten dieses Jahr einen Regisseur, Georg Rotering, der schon viele antike Stücke gemacht hat, zu Gast, der versucht hat, anhand von Theatertexten die antike Kultur auf diese spielerische Art und Weise nahezubringen. Auf der Ebene auch des Rätsels etc. Es wird also spielerisch und didaktisch da sehr viel gearbeitet, sodass, glaube ich, der Lateinunterricht – ich kann das wirklich, glaube ich, sagen – momentan wirklich zu den interessantesten didaktischen Experimentierfeldern gehört.

    Heinemann: …, wobei ja das Latein, das in der Schule unterrichtet wird und wurde, eigentlich so nie gesprochen wurde, oder nur von sehr wenigen Hochgebildeten. Der Straßenrömer hat doch wahrscheinlich die Deklinationen und die Konjugationen auch fehlerhaft, wenn überhaupt gebraucht.

    Zimmermann: Sicher! Da hat man die schönen Beispiele, die Graffiti aus Pompeji, wo man sieht, wie so der Unterschichtenrömer, der ungebildete Römer sein Latein an die Wand geschrieben hat. Ja, man muss davon ausgehen, dass sie wirklich zwei Sprachebenen hatten: die gesprochene Umgangssprache des einfachen Mannes und die hohe Literatursprache, die eben von den Dichtern, den Autoren verwendet wurde. Also praktisch eine zweisprachige Gesellschaft, kann man fast sagen.

    Heinemann: Herr Professor Zimmermann, diejenigen, die heute Latein lernen, sind zum Teil schon die Enkel der 68er-Generation. Ist die neue Liebe zur alten Sprache vielleicht auch eine Art Gegenbewegung, zurück zu bildungsbürgerlichen Werten, die den 68ern ja als spießig galten?

    Zimmermann: Ich bin nicht ganz sicher, ob das tatsächlich als Gegenbewegung aufzufassen ist. Ich glaube eher, es sind ganz verschiedene Gründe. Der erste mag tatsächlich eine "Rückkehr" zu diesen bildungsbürgerlichen Werten sein. Der andere ist das, was einer Ihrer Kollegen von der "Süddeutschen Zeitung", Schloemann, bei einem Vortrag vor ein paar Jahren mal gesagt hat, dass in Deutschland, im deutschen Feuilleton, im deutschen Fernsehen und auch in den Medien insgesamt eine Liebe zur Antike wiedererwacht ist, die die Rätsel der Antike immer mehr ins Zentrum rücken – denken Sie an die Frage, wo Troja wirklich war, wo Homer herkommt, was ja das Feuilleton vor ein paar Jahren seitenweise gefüllt hat.

    Also es ist ein wiedererwachtes Interesse an der Vergangenheit festzustellen. Und ich denke auch, dass eben diese Argumente, ganz pragmatische Argumente eine große Rolle spielen, dass man statistisch bemerkt hat, dass Schülerinnen und Schüler, die Latein plus eine andere Fremdsprache gelernt haben, tatsächlich besser abschneiden. Solche Dinge sind, glaube ich, auch gar nicht zu unterschätzen, dass Eltern eben sehen, damit können wir für unsere Kinder ein Plus in der schulischen Karriere, ein Plus in der Berufskarriere sozusagen erwirtschaften, dass das vielleicht sogar ein ganz beträchtliches Argument ist für Eltern, ihre zehnjährigen Kinder dann Latein lernen zu lassen.

    Heinemann: Der Freiburger Altphilologe Professor Bernhard Zimmermann, der Vorsitzende des Deutschen Altphilologenverbandes. Danke schön für das Gespräch. Und wie haben sich Lateiner verabschiedet?

    Zimmermann: Ja die sagten auch "Salve".

    Heinemann: Salve, Herr Professor.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.