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Am Bodensatz des Denkens

"Indem ich plausibel machen kann: Das Denken beginnt längst bevor das beginnt, was wir so das Denken nennen, nämlich in ganz halluzinatorischen Prozessen, von denen wir all noch Rückstände im Traum erleben, hatte ich einen bestimmten Zugang in die Denkdimension der Halluzination, des Unbewussten und damit auch des menschlichen Trieblebens."

Von Thomas Kleinspehn | 06.01.2009
    Unser Denken über Träume verstehen: das ist der Kern von Christoph Türckes neuestem Buch zur "Philosophie des Traums". Allerdings führt der Titel den Leser ein bisschen in die Irre. Denn der Leipziger Philosoph begibt sich eigentlich auf die Suche nach dem "Bodensatz des Denkens", nach der Funktion des Unbewussten in unserer Kultur. Für ihn ist Denken viel mehr als eine einfache kognitive Tätigkeit. Vielmehr lägen die Antriebskräfte dafür im Triebleben der Menschen, in seinen Ängsten und Wünschen. So in guter psychoanalytischer Tradition betrachtet, aber doch weit darüber hinausgehend, erscheint es als Triebaufschub, als Werkzeug. Mit dieser Form der Sublimierung kann der Mensch - anders als die übrigen Lebewesen - Bilder verinnerlichen, die ihm dabei helfen, sich eine Vorstellung von der Welt zu konstruieren, die sie erträglicher macht.

    "Das hat nämlich damit zu tun, dass man versucht, von traumatischen furchtbaren Erfahrungen loszukommen, dass man sich gewissermaßen einen inneren Schonraum bildet. Das ist überhaupt die Urbewegung der Einbildung, die Herstellung eines inneren Schonraums, in dem man unerträgliche Reize und Impulse so nachbearbeiten kann, dass man allmählich mit ihnen zu Recht kommt. Und dazu dienen diese merkwürdigen Formen der Verdichtung, der Verschiebung und der dritte ist die Umkehrung ... Wenn man sich das klarmacht, dann sieht man plötzlich: Denken hat in seiner Elementarfunktion ganz viel mit Bild zu tun - Einbildung heißt ja innere Bilder herstellen - und es ist in seiner Elementarbewegung so etwas wie ein Schutzmechanismus und das ist etwas, was in der Philosophie bisher kaum aufgedeckt worden ist."

    Auf dem Weg des Aufdeckens neuer Zusammenhänge mutet der Professor an der Leipziger Hochschule für Graphik und Buchkunst sich selbst und seinen Lesern einiges zu. Das Ergebnis ist nämlich nur zu haben, über einen Rekurs auf die Geschichte der drei zentralen Begriffe: Traum, Trieb und Wort. Denn das Versagen von Trieben, das Umleiten in Rituale und andere Repräsentationen stelle den Kern unserer Kulturleistungen dar. Wir haben alle "die Altsteinzeit in uns", wie Türcke sagt, aber eben modifiziert und gesellschaftlich geformt. Entscheidend ist die Verarbeitung. Das Wort bildet sich aus der jeweiligen Erschütterung über die äußere Natur - oder allgemeiner über die äußere Welt. Sie verändert sich stetig, wiederholt sich aber in ihren Grundmustern immer wieder. Zum Wort gehören deshalb die Wiederholung und das, was Freud "Wiederholungszwang" genannt hat. Auf der Alltagsebene wäre das der immer wiederkehrende Versuch des Menschen, sich mit seiner eigenen und der äußeren Natur auseinander zu setzen - Triebe in Bildern zu bändigen. Der Traum ist hier näher am Wunsch als das Wort und die Sprache selbst. Diese historische Darstellung der Zivilisierung der Triebe, die man in Träumen und Worten erkennen kann, macht den Hauptteil von Türckes Buch aus. In ihm sucht er nach den Wurzeln des kollektiven Bewusstseins in der Vorgeschichte, wo es in Ritualen und Kulten noch näher an den Träumen oder am "Primärprozess" gewesen sei, wie Türcke das mit Rückgriff auf die Psychoanalyse nennt. Richtig spannend wird seine Studie allerdings erst im recht kurzen letzten Kapitel. Hier schlägt er implizit eine Brücke zu seinem früheren Buch über die "erregte Gesellschaft", in dem er unsere Erlebnisgesellschaft pointiert dargestellt hatte. In seinem jüngsten Buch stellt er die Frage neu, was mit den Träumen und den inneren Bildern im Zeitalter der visuellen Flut geschieht. Für Türcke ergibt sich mit den maschinell hergestellten Bildern und vor allem der Dominanz der Bildschirme ein qualitativer Sprung, der eigene Repräsentationen und Verarbeitungsprozesse in Frage stellt.

    "Wir haben es mit einer technischen Einbildungskraft zu tun, deren Bildniederschlag sowohl ein inneres Bild des Apparats ist, als auch ein äußeres, insofern als alle möglichen Menschen gleichzeitig dieses Bild anschauen können. Meine inneren Bilder sehe nur ich, ich kann sie sprachlich übersetzen nach außen. Ich kann sie malerisch übersetzen, aber ich kann sie nicht unmittelbar übersetzen... Wir haben es in dieser genialen Erfindung der Bildmaschinerie zugleich zu tun mit einer Veräußerung und Entäußerung der menschlichen Einbildungskraft. Einerseits ist es eine gewisse Verlängerung. Der Film kann in großartiger Weise Dinge erhellen ... und trotzdem findet da so etwas statt wie eine Veräußerung und Entäußerung."

    Die inneren Bilder werden von den äußeren bestimmt. Der Mensch werde, wie schon im Arbeitsprozess, auch hier abhängig von der Maschine. Dadurch ändern sich, das ist Türckes These, die Grundlagen für das Denken. Es löst sich zumindest teilweise vom Wiederholungszwang und den inneren Verarbeitungsprozessen von Trieben, was Türcke "Sedimentierung" nennt. Von den inneren Prozessen gelöst werde Denken jetzt hauptsächlich von äußerer Erregung der Bilder bestimmt - ein technischer Wiederholungszwang.

    "Der geht in gewisser Weise diesen Weg des sedimentierenden Wiederholens rückwärts und löst durch seine distraktive, seine zerstreuende Kraft tendenziell diese Niederschläge von Erregung zu Kultur wieder auf ... Und diese Desedimentierung ist in der Tat etwas, dessen Tragweite man m. E. wirklich erst zu sehen bekommt, wenn man sich getraut, die Berührung der Extreme, die Wiederkehr des Archaischen in der Hochtechnologie zu thematisieren. Nur dann kommt man wirklich ganz unter die Oberfläche der Prozesse, die gegenwärtig ablaufen. Und wenn wir schon Philosophie machen, dann soll sie einerseits aktuell sein ... und sie andererseits nicht nur in ihrer Oberflächenstruktur beschreiben, sondern wirklich zeigen, was ist, um es mit einem alten philosophischen Begriff zu sagen, das Wesen der Sache."

    Doch genau an dieser Stelle hätte man sich gewünscht, dass Türcke das "Wesen der Sache" nicht nur ausführlicher, sondern auch über die Philosophie hinaus betrachtet hätte. Denn genau in diesem letzten Kapitel, das nicht mehr nur versucht, zentrale Begriffe neu zu bestimmen, sondern sich tatsächlich auf die Spuren der postmodernen Erlebnisgesellschaft mit ihren Bilderfluten begibt, hätte ein interdisziplinärer Ansatz viel versprechend sein können. Schließlich wagt sich ja der Leipziger Philosoph durchaus auf das philosophiefremde Terrain der Neurowissenschaften und der Psychoanalyse, bleibt aber weitgehend bei deren Gründervater stehen und lässt neuere Ansätze zur visuellen Gesellschaft aus den Kultur- und Sozialwissenschaften außen vor. Vielleicht begreift er allerdings das Buch auch nur als Vorarbeiten für ein weiteres, in dem aus dem letzten Kapitel ein eigenständiges Werk wird, das sich mit inneren und äußeren Bildern in der technischen Zivilisation beschäftigt. Es könnte sehr spannend sein, wenn Türcke sich getraut, hier den Heimathafen der Philosophie zu verlassen und dann wirklich zu neuen Gebieten vorzustoßen.

    Christoph Türcke: Philosophie des Traums, C.H. Beck 2008 Preis: 24,90 Euro