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"Am Grund des Universums" von Norbert Scheuer
Wie Träume, die man beim Aufwachen vergessen hat

"Am Grund des Universums" heißt der jüngste Roman von Norbert Scheuer, der im Zweitberuf als Programmierer bei der Telekom arbeitet. Das Werk reiht sich ein in ein wachsendes Universum von sich kreuzenden Lebensläufen und Geschichten, die rund um den Ort Kall in der Eifel angesiedelt sind.

Von Christoph Schröder | 01.09.2017
    Norbert Scheuer beim "Bücherfrühling" von Deutschlandradio Kultur auf der Leipziger Buchmesse 2015
    Norbert Scheuer beim "Bücherfrühling" von Deutschlandradio Kultur auf der Leipziger Buchmesse 2015 (Deutschlandradio / Andreas Buron)
    Im Café des Supermarktes von Kall in der Eifel konzentriert sich die ganze Welt. Hier holen die Menschen am Morgen ihr Frühstück. Hier verbringen sie ihre Mittagspause. Hier erzählen sie sich den neuesten Klatsch und Tratsch, betrachten und kommentieren die Weltnachrichten aus dem Fernseher in der Ecke – oder schlagen einfach die Zeit tot. Schon Norbert Scheuers letzter Roman "Die Sprache der Vögel" nahm seinerzeit in jenem Supermarktcafé seinen realen Ausgangspunkt: Scheuer, der in Kall lebt, begegnete dort im Winter 2005/2006 immer wieder einem leicht verwahrlost aussehenden, bärtigen Mann im Bundeswehrparka.
    Der Mann führte stets eine Schildkröte bei sich und hatte ein beträchtliches biologisches Wissen. Er war als Soldat von einem Afghanistan-Einsatz nach Deutschland zurück gekommen und verschwand nach einigen Monaten wieder aus Kall. Doch wurde er Scheuer zur Inspiration für seine Hauptfigur Paul Arimond.
    Antiker Chor im Eifel-Café
    Nun also wieder das Café. Die Stammgäste sind die alten Pensionäre von Kall. Sie sind immer dort, wo gerade etwas geschieht. Norbert Scheuer hat ihnen im neuen Roman quasi die Rolle des antiken, alles kommentierenden Chors zugedacht.
    "Die Grauköpfe sind eine fünf- bis zehnköpfige Hydra, der nichts entgeht, die immer dort ist, wo in Kall und Umgebung gerade etwas abgerissen oder gebaut wird. Sie wissen über alles Bescheid. Die Grauköpfe erkennen sofort, ob jemand neu ins Urftland gezogen oder nach Jahrzehnten wegen einer Beerdigung, Hochzeit oder sonstiger familiärer Angelegenheiten zurückgekehrt ist. Sie lesen den Leuten an ihren Gesichtern ab, was sie hier wollen."
    "Am Grund des Universums" schließt zeitlich an den Romanvorgänger an. Doch inzwischen kristallisiert sich ohnehin heraus, dass Norbert Scheuer nicht ein Buch nach dem anderen schreibt, sondern eine untergründige Vernetzungsarbeit betreibt. Er webt ein Geflecht aus Personen, Konstellationen, Beziehungen, in das sich eine Figur nach der anderen einfügt.
    Passionierte Scheuer-Leser werden die ehemalige Gaststätte Arimond mit angeschlossenem Hotel wiedererkennen, die der Schauplatz des Romans "Unterm Rauschen" war. Gérard Roussel, der angeheiratete Wirt, ein Säufer, der regelmäßig seine Frau verprügelte, taucht im neuen Buch als ein Forscher wieder auf, der im nahe gelegenen Stausee nach Gegenständen gesucht hat, die Geschichten über den Ort erzählen könnten.
    Oder Herr Vincentini, der im Roman "Peehs Liebe" eine nicht unbedeutende Rolle einnimmt: Seinerzeit war er noch als Vertreter für ein Gerät namens "Perseus" durch die Lande gereist. Der "Perseus", so versprach Vincentini einst, sei ein Massagegerät, das Wunder bewirken könne. Irgendwann bekam er Ärger mit der Justiz; nun hat er sich als Untermieter in der Villa der verwitweten und pensionierten Lehrerin Sophia Molitor niedergelassen.
    Auch der Afghanistan-Veteran ist wieder da
    Auch Paul Arimond, der Afghanistan-Veteran, ist nach Kall zurückgekommen, im Rollstuhl, nach einem langen Aufenthalt im Militärkrankenhaus, traumatisiert und ohne soziale Bindungen. Das Ende von "Die Sprache der Vögel" ließ vermuten, Paul könnte ums Leben gekommen sein. Doch den Anschlag in Afghanistan hat er überlebt, wie wir nun im neuen Roman erfahren:
    "Auf dem Weg vom Militärlager zum Flugplatz wurde der Mannschaftsbus, in dem Paul mit Kameraden gesessen hatte, in die Luft gesprengt. Taliban hatten den Jeep mit einem Bus voller TNT gerammt. Wie durch ein Wunder war Paul bei dem Anschlag nicht umgekommen. Er hatte den Moment der Explosion erlebt, als würde er auf einem Feuerball hochgeschleudert: es war gleißend hell und vollkommen still dort oben."
    Paul freundet sich mit Nina an, einer Außenseiterin, die zwar schreiben aber nicht lesen kann und ihre Notizhefte mit für sie selbst unverständlichen Aufzeichnungen vollkritzelt. Ninas Großvater Darius wiederum war Sophias große, unerfüllt gebliebene Liebe. So hängt alles mit allem und jeder mit jedem zusammen in Kall. Was sie möglicherweise eint, all diese Menschen, ist zum einen die Unabdingbarkeit, mit der sie in ihrer Landschaft und in ihrer Herkunft verwurzelt sind. Dabei ist, das muss man betonen, Norbert Scheuers zarte, wie hingetupfte Prosa frei von jeglichen Sentimentalitäten und Klischees vom wahlweise harten oder alternativ-idyllischen Landleben. Alles ist, wie es ist.
    Tiefer Wunsch nach Entkommen in Gegenwelten
    Zum anderen ist es die Sehnsucht nach Ausbrüchen in unterschiedlichsten Erscheinungsformen, die sich als Gedankenspiel und Grundmotiv durch sämtliche von Scheuers Büchern zieht. In "Die Sprache der Vögel" waren das Fliegen und die intensive Beschäftigung mit der Ornithologie Ausdruck des tiefen Wunsches nach dem Entkommen in Gegenwelten. Im neuen Roman wiederum fliegen die Gedanken hoch, in alle Richtungen. Da gibt es angeblich einen versteckten Silberschatz, der in den Gängen unter dem Dorf lagert. Ninas seit langem verschollener Bruder befindet sich, so ihr Parallelentwurf zur Wirklichkeit, auf ausgedehnter Schiffsreise über die Weltmeere. Und dann ist da noch jener seltsame Mann, der nun tatsächlich den weitreichendsten und versponnensten Plan aller Einwohner von Kall hatte:
    "Der Betriebselektriker Lünebach hatte lange Zeit im Lafarge Zementwerk alle technischen Anlagen gewartet, arbeitete danach einige Jahre auf Montage, bis er, schwer erkrankt und von seltsamen Ideen besessen, nach Kall zurückkehrte. Er musste in Frührente gehen und begann auf dem verwahrlosten Siedlungshof seiner inzwischen verstorbenen Eltern mit der Konstruktion und dem Bau eines Raumschiffs, das, alle technischen Ausfälle überstehend, bis zum Ende des Universums fliegen sollte."
    Geschichten, Mythen, Träume, Legenden und die Realität des Supermarktcafés – all das steht gleichberechtigt nebeneinander, ist verknüpft zu einer schwebenden Erzählung. Norbert Scheuer hat seine Perspektive radikalisiert. Es gibt nicht den einen Protagonisten; Scheuer lässt seine Figuren auf der Bühne von Kall auf- und wieder abtreten. Er hat den Blick und den Handlungs- und Zeithorizont erweitert. Man kann jeden einzelnen von Scheuers Romanen mit Genuss lesen, ohne die voran gegangenen Bücher zu kennen. Auch das ist keine geringe Kunst. Doch die Komplexität dieser vermeintlich so einfachen Menschen und ihrer Daseinszusammenhänge erschließt sich erst im Panorama des Gesamtwerks.
    Auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis vermisst
    "Strukturwandel" – ein Wort, das Norbert Scheuer niemals in einen seiner Romane hineinschreiben würde. Es ist zu explizit, zu deutlich. Und doch ist es letztendlich genau das, was "Am Grund des Universums" als heimlicher Motor antreibt und in ein zunehmend surreales Szenario hineinführt: Der Stausee im Ort soll vergrößert und in ein touristisch attraktives Gelände umgewandelt werden, um dem Dorf Besucher und Geld zuzuführen. Die Menschen verkaufen ihre Grundstücke an zwei dubiose Investoren. Für die Vergrößerung muss der See leergepumpt werden. Und so kommt es, dass, beobachtet von den Blicken der Grauköpfe, ein Lastwagen nach dem anderen durch Kall fährt – voll beladen mit den erzählten und unerzählten Geschichten, die sich als Gerümpel am Grund des Sees abgelagert haben.
    "Neunundvierzig Bierflaschen, Teile eines zersägten Jagdgewehrs, Lünebachs Sprengbunker, Teile einer Monstranz, das Geschirr eines Grubenpferds, eine chinesische Schatulle mit aufgeweichten Briefen und Fotografien, eine Holzkaffemühle, eine zugenagelte Kiste mit Reichs- und Wehrmachtsflagge, Reste eines alten Klepper-Faltboots, ein Hundeskelett mit Fell in einem Plastikeimer."
    Seine Geschichten, sagt Norbert Scheuer, sollen wie Träume sein, die man nach dem Aufwachen vergessen hat. Daraus spricht ein Übermaß an Bescheidenheit. Wenn es einen Roman gibt, der in diesem Jahr schmerzlich auf der Longlist des Deutschen Buchpreises fehlt, dann ist es "Am Grund des Universums". Immerhin ist Scheuer für den renommierten Wilhelm-Raabe-Literaturpreis nominiert. In seinem Nachwort dankt der Autor den alten Männern im Supermarktcafé von Kall für ihre Gesellschaft und ihre Erzählungen. Das Urftland ist auch dank ihnen als literarischer Schauplatz fest in der Landkarte verankert.
    Norbert Scheuer: Am Grund des Universums
    C.H. Beck Verlag, München
    240 Seiten, 19,95 Euro