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Am Rande der Gesellschaft

Im Hitzesommer 2003 starben in Frankreich besonders viele Menschen: 15.000 Hitzeopfer waren zu beklagen, alte Menschen, weil sie die Hitze nicht verkraften konnten, aber auch weil sie nicht richtig versorgt wurden. Im französischen Wahlkampf wurden das Problem der Altersarmut nur gestreift. Dabei altert - trotz der hoher Geburtenrate - auch die französische Gesellschaft und das Defizit der Rentenversicherung steigt permanent.

Von Bettina Kaps | 19.04.2007
    Ein sandiger Platz im Osten von Paris. Es ist Donnerstag, 19 Uhr. Wie jeden Abend reihen sich auch heute wieder mehrere hundert Menschen zu einer Warteschlange auf. Vor allem Ausländer - und alte Menschen. Der Lastwagen der Heilsarmee rollt an. Frauen und Männer in den blauen Uniformen der Freikirche tragen Plastikkanister mit Suppe aus dem LKW. Andere tüten Konserven, Brot und Orangen ein. Eine schmächtige Frau in schwarzer Daunenjacke und weißen Schlappen steht an, um sich eine Mahlzeit abzuholen.

    " Ich brauche unbedingt einen Kühlschrank, weil jetzt der Sommer kommt. Aber ich schaffe es nicht, das Geld zusammen zu sparen. Bisher stelle ich meine Vorräte immer auf den Balkon. Und ich kaufe nur das Nötigste, damit nichts verdirbt. "

    Georgette ist 76 Jahre alt. Jahrzehnte lang hat sie in der Textilindustrie geschuftet, hat am Fließband gestanden, verschweißt und verpackt. Jetzt lebt sie vom Altersminimum, das sind 621 Euro im Monat. Mit dieser bescheidenen Summe müssen in Frankreich 600.000 Rentner auskommen. Immer mehr können sich davon nicht mehr ernähren und müssen zur Suppenküche gehen, sagt Major Dominique Gloriès von der Heilsarmee.

    " Wir sehen hier viele 60, 70 und sogar 80-Jährige, die sich regelmäßig eine Mahlzeit abholen. Diese Menschen haben fast keine Einkünfte. Die meisten müssen mit dem Altersminimum auskommen. In einer Stadt wie Paris ist es unmöglich, davon zu leben, wenn man eine Miete bezahlen muss und sich normal kleiden und ernähren will. "

    In der Schlange steht auch Pierre, ein noch junger Rentner mit spiegelblanker Glatze und einem breiten Lachen. Der ehemalige Postbote hält auf sich: er trägt Schlips und einen schwarzen Blouson aus Kunstleder. 44 Jahre seines Lebens hat er gearbeitet, die meiste Zeit Pakete ausgetragen. Dass er im Alter mal so knapp bei Kasse sein würde, hat er sich nicht ausgemalt. Pierre ist eigens mit dem Zug aus der Vorstadt nach Paris gekommen, denn in seiner Umgebung gibt es keine Armenspeisung.

    " Unsere Renten sind zu niedrig. Ich muss mit 800 Euro im Monat auskommen. Dabei war ich Beamter. Das ist zu wenig. Olivier Besancenot und Arlette Laguiller, die Kandidaten der Extrem-Linken fordern jetzt laut, dass die Renten erhöht werden müssen. Die anderen Präsidentschaftskandidaten sagen es auch, sogar die Spitzenkandidaten, Segolene Royal und Nicolas Sarkozy. Ich hoffe wirklich, dass sie die Renten nach den Wahlen ein bisschen anheben werden. Wir haben einfach zu wenig Kaufkraft. "

    Das größte Versprechen gibt der Zentrumspolitiker Francois Bayrou ab. Er will das Altersminimum auf 90 Prozent des Mindestlohns festsetzen, das wäre ein Plus von 264 Euro. Nicolas Sarkozy will das Altersminimum um 155 Euro pro Monat anheben. Segolene Royal verspricht, die Mindestrenten zu erhöhen, und zwar um 30 bis 50 Euro im Monat.
    Die Hilfsorganisationen kritisieren schon lange, dass das Altersminimum weit unter der Armutsgrenze für Alleinstehende liegt, derzeit beträgt die Differenz rund 200 Euro. Aber dass die Präsidentschaftskandidaten ihr Versprechen auch einlösen werden, das glaubt Claire Pinard von der französischen Hilfsorganisation "Freunde alter Menschen" nicht.

    " Ich halte diese Versprechen nicht für realistisch, schließlich erklärt niemand, wo das Geld herkommen soll. Deshalb befürchte ich, dass es sich um ein reines Wahlkampfversprechen handelt, das keine Folgen haben wird. "

    Claire Pinard meint, dass es die Kandidaten auf die Stimmen der Rentner abgesehen haben. Ihre eigentliche Sorge gilt aber einer anderen Entwicklung:

    " Wir sind vor allem deshalb beunruhigt, weil wir zusehen müssen, wie das System der häuslichen Pflege liberalisiert wird. Früher war jeweils ein akkreditierter Verein dafür zuständig, alle Pflegeanträge aus seinem Einzugsbereich zu bearbeiten. Neuerdings herrscht auf diesem Gebiet Konkurrenz. Seit einem Jahr kann es ein Verein ablehnen, diese oder jene Person zu übernehmen. Somit wächst die Gefahr, dass die schweren Fälle, die besonders verwirrten Menschen und diejenigen, die wenig Geld haben, auf der Strecke bleiben. "

    Claire Pinard sieht erste Ansätze dafür, dass sich eine Zwei-Klassengesellschaft entwickelt zwischen pflegebedürftigen alten Menschen, die sich Pflege und ärztliche Versorgung leisten können und solchen, die dafür kein Geld haben.