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Amartya Sen
"Die Idee der Gerechtigkeit"

Die Demokratie ist für den Nobelpreisträger Amartya Sen die Grundvoraussetzung für soziale Gerechtigkeit. Informations-, Meinungs- und Redefreiheit ermöglichten die persönliche Entwicklung. Hinzu kommen Faktoren wie Bildung und soziales Umfeld.

Von Martina Wehlte | 26.02.2018
    Nobelpreisträger Amartya Sen
    Nobelpreisträger Amartya Sen im Dezember 2017 (dpa / EPA / Abir Abdullah)
    Der indische Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen, Nobelpreisträger für Ökonomie von 1998, hat ein großes Thema: Was ist und wie erlangt man soziale Gerechtigkeit für das Individuum in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext? Er hat diese Frage in zahlreichen Schriften unter speziellen Teilaspekten und aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Dabei hat er sich mit luzidem Scharfsinn in bewussten Gegensatz zu klassischen und neoklassischen Theorien der Nationalökonomik gestellt. Die Summe seiner Erkenntnisse hat der heute Dreiundachtzigjährige in seinem umfangreichen Werk "Die Idee der Gerechtigkeit" gezogen. Darin stellt er die Frage:
    "Auf welche Merkmale der Welt sollen wir uns bei der Beurteilung einer Gesellschaft und der Einschätzung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit konzentrieren?"
    Den traditionellen Maßstab der Wirtschaftswissenschaftler, die Zahlen zum Bruttonationaleinkommen beziehungsweise Bruttoinlandsprodukt, hält Amartya Sen hierzu für wenig aussagekräftig, da sich gesellschaftliche Verwerfungen und wachsende soziale Ungerechtigkeit daraus nicht erkennen lassen. Er sieht auch nicht die Erwerbsquellen, Einkommen, Besitz und die so ermöglichte Befriedigung materieller Bedürfnisse des Einzelnen als hinreichenden Gegenstand der Sozialanalyse. Sondern er verlangt die Berücksichtigung weiterer Faktoren, zum Beispiel der städtebaulichen Infrastruktur, des Bildungsangebots, des Sozialgefüges oder der familiären Situation. Diese Faktoren - schreibt er - eröffnen oder verstellen dem Individuum persönliche Handlungsspielräume, nämlich ob es ein ihm wichtiges Ziel verfolgen oder den Weg dorthin selbst bestimmen will.
    Die Freiräume der persönlichen Entwicklung
    Welche Chancen der Einzelne hat, ein Ziel selbstbestimmt zu wählen und zu erreichen, ist der Maßstab für Amartya Sens methodisch komparativen Befähigungsansatz:
    "In diesem Ansatz wird der individuelle Vorteil gemessen an der Befähigung einer Person, die Dinge zu tun, die sie mit gutem Grund hochschätzt."
    Der Freiraum für diese Dinge kann auch der Allgemeinheit von Nutzen sein, etwa in Form eines Ehrenamtes oder anderweitigen Engagements, beispielsweise für die Erhaltung einer Tierart, die vom Aussterben bedroht ist. Um unseren Nachkommen mindestens den gleichen Entscheidungsspielraum zu geben wie wir ihn haben, müssen wir Verantwortung für unsere Hinterlassenschaft hinsichtlich der Umwelt übernehmen. Das bedeutet für Amartya Sen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung auch ein vernünftiges und wirksames Eingreifen in natürliche Prozesse:
    "Zum Beispiel können bessere Bildung und mehr Arbeitsplätze für Frauen dazu beitragen, dass die Fertilitätsrate niedriger wird, und damit kann langfristig die Belastung durch globale Erwärmung und fortschreitende Zerstörung natürlicher Lebensräume verlangsamt werden."
    Das sei tatsächlich eine Grundvoraussetzung für die Rettung der Erde, aber es lasse sich erahnen, wie groß die Widerstände und wie lang der Weg zum Ziel sein werden.
    Demokratie als wichtigste Voraussetzung für Gerechtigkeit
    Amartya Sen will mit seinen Ausführungen eine Entscheidungsbasis für praxisorientierte Überlegungen und Handlungen schaffen, indem er die tatsächlichen Möglichkeiten der Lebensführung und menschliche Verhaltensmuster im gesellschaftlichen Rahmen analysiert. Weder die Utopie idealer Gerechtigkeit bei Thomas Hobbes, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant sind seine Sache noch die Konzentration auf Grundgüter in der Theorie seines Fachkollegen John Rawls. Die Conditio sine qua non für Gerechtigkeit ist in seinen Augen die Demokratie. Ihre wichtigsten Merkmale sind Informations-, Meinungs- und Redefreiheit. Dem Autor ist es ein besonderes Anliegen deutlich zu machen, dass Demokratie auch in nichtwestlichen Ländern funktionieren könne, wenn auch die innovative Kraft und Wirkung ihrer institutionellen Formen heute von Westeuropa und Nordamerika ausgingen.
    Amartya Sens fünfhundert Seiten starkes Buch ist ein intellektuelles Schwergewicht in akademischer Tradition. Akribisch setzt sich der Autor mit der wissenschaftlichen Literatur zum Thema auseinander, um seine Theorie der Gerechtigkeit auf sichere Füße zu stellen. Das komplexe Gedankengebäude dürfte so manchem unzugänglich bleiben, wie schon ein Blick in den auf Überarbeitung dringenden Wikipedia-Eintrag zu dem renommierten Autor erkennen lässt. Doch sowohl der methodische Ansatz, das Erkenntnisinteresse, als auch die Kriterien Amartya Sens sind überzeugend, weisen der Wirtschaftswissenschaft neue Wege und sind auf die Praxis von Ökonomen gut anwendbar. Es ist zu wünschen, dass die Grundzüge seiner Theorie zu dem eminent wichtigen Thema Gerechtigkeit derart vermittelt werden, dass sie zum Standardwissen breiter interessierter Kreise und zum Bestandteil eines reflektierten Schulunterrichts werden.
    Amartya Sen: "Die Idee der Gerechtigkeit"
    dtv, 14,90 Euro, 493 Seiten.