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Amelia Gentleman
"Der 'Windrush'-Verrat"

Briten jamaikanischer Herkunft verloren plötzlich ihre Rechte, ihre Versicherung, ihre Jobs. Das war kein Versehen, wie die Journalistin Amelia Gentleman darlegt, sondern ein Plan. Ein Signal an alle Migranten, sich in Großbritannien weder zuhause noch sicher zu fühlen.

Von Sandra Pfister | 09.12.2019
Demonstranten in London fordern am ersten offiziellen Windrush Tag Gerechtigkeit für die sogenannte Windrush Generation. (22. Juni 2019)
Demonstranten in London fordern Gerechtigkeit für die sogenannte Windrush Generation (imago / Wiktor Szymanowic)
In Zeiten, in denen Zeitungen sterben, zeigt sich hier, wie beharrliche, investigative Recherche Menschen retten und Politiker zu Fall bringen kann. Amber Rudd, Innenministerin unter Theresa May, musste im vergangenen Jahr zurücktreten, nachdem die "Guardian"-Reporterin Amelia Gentleman aufgedeckt hatte, dass die britische Regierung Hunderte von legalen Einwanderern aus der Karibik zu Illegalen deklariert hatte. 164 von ihnen wurden verhaftet, viele abgeschoben. Viele verloren ihre Jobs, ihre Renten, ihre Krankenversicherung oder wurden obdachlos.
Die Grundidee, härter gegen Migranten vorzugehen, ein "hostile environment" zu schaffen, eine feindselige Umgebung, in der sich Illegale nicht mehr wohlfühlten, geht bereits auf David Cameron’s konservative Regierung zurück. Das Innenministerium unter Theresa May ermunterte damals ausdrücklich zum Denunziantentum: Wer glaube, dass sein Nachbar illegal hier sei, solle ihn bitte verpfeifen.
Drohungen aus dem Nichts
Welche Saat auf dem Humus des "hostile environment" aufging, wurde erst vor gut zwei Jahren deutlich, als sich die Rentnerin Paulette Wilson an den "Guardian" wandte.
"Das Innenministerium hatte Paulette mehrfach geschrieben und ihr gesagt, dass sie illegal hier sei, obwohl sie schon seit 50 Jahren in Großbritannien gelebt hatte. Als wir uns trafen, hatte sie gerade eine Woche in Haft verbracht, im Detention Centre, und ihr wurde gesagt, dass eine Deportation nach Jamaica unmittelbar bevorstand. Jamaica, da war sie seit 50 Jahren nicht mehr gewesen. Sie wusste nicht, warum sie zur Zielscheibe des Innenministeriums geworden war. Sie sah sich selbst als Britin."
Nachdem der "Guardian" über ihren Fall berichtet hatte, meldeten sich immer mehr Menschen, die vor 50 Jahren aus Jamaica eingewandert waren und denen das Innenministerium nun Probleme machte. Allmählich kristallisierte sich heraus, dass ihre Zahl in die Tausende ging.
"Und ich habe Silvester Marshall getroffen, der als Teenager aus Jamaica kam und der sein ganzes Leben hier verbracht hatte. Ihm wurde mitgeteilt, dass er 54.000 Pfund für die Strahlentherapie bezahlen müsse gegen seinen Prostata-Krebs, weil Beamte nicht anerkannten, dass er hier legal lebte. Er bekam seine dringend benötigte Krebsbehandlung nicht, weil er keine 54.000 Pfund hatte. Er war 1973 legal hierher gekommen."
Neu-Briten nach Jahrzehnten nicht mehr willkommen
Die "Guardian"-Reporterin kennt inzwischen Hunderte solcher Fälle. In ihrem Buch fokussiert sich Amelia Gentleman auf eine Handvoll Betroffener.
"Anar Hibit verlor seinen Job, als das Innenministerium ihn als illegalen Einwanderer einstufte. Er konnte nicht mehr nach Hause fliegen, als seine Mutter im Sterben lag. Er zeigte mir seinen Pass von 1960, als er mit seiner Mutter aus Jamaica kam, damals war er drei. Da steht 'British Passport' drauf, und er sieht den Pässen, die britische Bürger damals, in den 60ern und 70ern, hier im Vereinigten Königreich hatten, sehr ähnlich. Man kann hier auch den Stempel sehen, den die Einwanderungs-Behörde bei seiner Ankunft hinein gestempelt hat. Er besagt, dass man ihm eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung gewährt."
Eine Reise von Jamaika nach London wurde 1960, das ruft die Autorin in Erinnerung, als Inlandsreise innerhalb des British Empire betrachtet – in etwa so, wie wenn heute ein Schotte von Glasgow nach London fliegt.
Das Buch ist ein Lehrstück darüber, wie ambivalent Großbritannien mit Einwanderern umgeht. Und es zeigt: Großbritannien war nach dem Zweiten Weltkrieg bei weitem nicht so multikulti wie viele annehmen. Zwar lud die Regierung nach dem Krieg offiziell Einwanderer aus den Commonwealth-Staaten ein, denn sie brauchte dringend Arbeitskräfte für Bauindustrie und Verkehrsbetriebe. Doch sie rechnete insgeheim nur mit "weißen" Interessenten aus Kanada oder Neuseeland, wie die Autorin ausführt. Es kamen aber vorwiegend Schwarze aus den Karibikstaaten, formal Briten. Bürger des Commonwealth, die im Krieg an der Seite der Briten gekämpft hatten.
Was der Windrush-Skandal für EU-Bürger bedeuten kann
Den Start dieser Einwanderungswelle symbolisierte ein Schiff aus der Karibik, genannt "Windrush", das am 22. Juni 1948 mit 500 Jamaikanern an Bord in England landete. Es waren häufig Kinder dieser Passagiere der Windrush, die jetzt fälschlicherweise vom britischen Innenministerium als Illegale gebrandmarkt wurden, daher der Name "Windrush-Skandal".
Dass die britische Regierung sie loswerden wollte, mit allen Mitteln, da ist sich Amelia Gentleman sicher.
"Der Windrush-Skandal war kein Versehen. Er war die direkte Konsequenz einer Reihe harter politischer Maßnahmen, die die Einwanderungszahlen dadurch reduzieren sollten, dass man Leute aus Großbritannien rausschmiss, und dadurch, dass man denen, die ohne Papiere hier waren, das Leben zur Hölle machte. Konservative Minister hätten gerne, dass wir diesen Skandal als unglücklichen bürokratischen Fehler im Gedächtnis behalten [...]. Aber das war eine durchdachte Strategie."
Doch nach der Publikation der Artikel tat sich erst mal: nichts. Die Regierung May hielt still, duckte sich weg. Erst als die Staatschefs der Karibik im April 2018 zum Commonwealth Summit in London zusammenkamen und Druck machten, entschuldigte sich Theresa May dafür, dass so viele britische Einwanderer als Illegale behandelt worden waren. Inzwischen haben 6.000 von ihnen legale Papiere bekommen.
Für EU-Staatsbürger, die sich derzeit in Großbritannien registrieren lassen müssen, um eine Aufenthaltsgenehmigung für die Zeit nach dem Brexit zu bekommen, ist der "Windrush-Skandal" ein Alarmzeichen. Das sieht auch Gentleman so, denn:
"Es gibt eine wachsende Nervosität, wie das gleiche Department es hinkriegen wird, die 3,5 Millionen EU-Bürger zu registrieren, die nach dem Brexit eine formale Bestätigung ihres Status brauchen werden. Das wird der Test sein, ob das Innenministerium irgendetwas daraus gelernt hat. [...] Die Labour-Abgeordnete Yvette Cooper hat davor gewarnt, dass das 'Windrush auf Steroiden' werden könnte."
Amelia Gentleman, die "Guardian"-Reporterin, die all das aufgedeckt hat, hat auch enormen persönlichen Mut bewiesen. Denn sie ist verheiratet mit Jo Johnson, der nicht nur Bruder von Boris Johnson ist, sondern auch als Staatsminister für Universitäten in genau der Regierung May arbeitete, die Amelia Gentleman ständig angriff.
Amelia Gentleman: "The Windrush Betrayal. Exposing the Hostile Environment",
Guardian Faber Verlag, 336 Seiten, 19,76 Euro.