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Amerika "hat sich wieder erfahren in der Solidarität"

Obama habe in der Krise "mit der richtigen Mischung von Empathie und Entschlossenheit reagiert" und seine Führungsstärke bewiesen, sagt Karl Kaiser. Die Sicherheit von Großveranstaltungen müsse in Zukunft verbessert werden, so der Politologe, der in Harvard lehrt.

Karl Kaiser im Gespräch mit Christiane Kaess | 22.04.2013
    Christiane Kaess: In den USA bewegen die Anschläge von Boston immer noch die Gemüter. Alle Aufmerksamkeit richtet sich jetzt auf die weiteren Ermittlungen.

    Am Telefon ist jetzt Karl Kaiser, ehemals Direktor der Gesellschaft für Auswärtige Politik und jetzt Politikwissenschaftler an der Harvard Universität. Guten Morgen, Herr Kaiser.

    Karl Kaiser: Guten Morgen, Frau Kaess!

    Kaess: Herr Kaiser, Sie haben die Verfolgungsjagd auf den zweiten, zunächst flüchtigen Verdächtigen insofern miterlebt, dass Sie selbst in Ihrer Wohnung festsaßen. Es ist ja immer noch nicht klar, ob es Hintermänner gab. Sie haben die Angst vor Ort erlebt. Was merkt man in Boston und Umgebung jetzt noch von den Ereignissen der letzten Tage?

    Kaiser: Wir waren ja alle eingeschlossen in der Universität. Studenten wie Professoren mussten in ihren Büros oder zuhause bleiben. Jetzt herrscht große Erleichterung, hier und dort sogar festliche Stimmung. Gestern war das große Spiel der Boston Red Sox, das Symbol von Boston, und das war eine große Feier. Erleichterung also überall.

    Kaess: Dass es Hintermänner geben könnte und eventuell die Gefahr immer noch da ist, das spielt im Moment keine große Rolle?

    Kaiser: Das ist jetzt bei den Institutionen, die das prüfen. Es gibt natürlich viele, viele Fragen, nach den Motiven, nach möglichen Helfern. Aber das läuft jetzt einen bürokratischen Gang. Die Bevölkerung ist erleichtert, denn es war, obwohl es ein sehr tragisches Ereignis gewesen ist: Auch etwas Gutes ist dabei herausgekommen. Amerika hat sozusagen sich wieder mal erfahren in der Solidarität. Es hat in einer Zeit, wo ja die Parteien sehr zerstritten sind, wieder große Gemeinsamkeit gegeben. Und jetzt geht es weiter. Man fragt natürlich auch, welche Konsequenzen zu ziehen sind, und da ist manches neu zu überdenken.

    Kaess: Es gibt eine Diskussion über die mutmaßlichen Täter. Obama hat die Frage gestellt – das haben wir gerade gehört im Beitrag -, wie kann es sein, dass die beiden, die im Land lebten und studierten, zu so einer Tat fähig waren. Wie sehr bewegt diese Frage nach Integration im Moment die Gemüter?

    Kaiser: Diese Frage ist nicht neu. Es hat ja schon mehrere Attentäter gegeben, die eigentlich integriert waren, die also den amerikanischen Traum an sich erfahren hatten und dennoch dann interne Terroristen wurden. Einige sind natürlich von außen beeinflusst worden, das ist hier ja wahrscheinlich auch der Fall, wir werden es erfahren. Es gibt auch schon eine Diskussion, ob sich dies auswirkt auf die jetzt laufende Diskussion über eine Reform der Einwanderungsgesetze.

    Kaess: Glauben Sie, das wird sich auswirken?

    Kaiser: Ich glaube, da wohl weniger, denn die Auswirkung wird woanders stattfinden, namentlich bei neuen Maßnahmen der Prävention, denn diese Ereignisse am vergangenen Montag haben ja doch gezeigt, dass weiche Ziele in einer modernen Gesellschaft sehr angreifbar sind.

    Kaess: Um welche Präventionsmaßnahmen könnte es da gehen?

    Kaiser: Man wird die Sicherheit bei solchen Großveranstaltungen verbessern müssen und sich darüber Gedanken machen und auch überlegen, ob man mögliche Täter besser erfassen kann mit besseren Methoden. Das wird alles jetzt überprüft werden. Aber die Verletzbarkeit ist ja nicht nur ein amerikanisches Problem, das ist ein Problem der modernen Gesellschaft, also auch der europäischen generell bei solchen großen Veranstaltungen.

    Kaess: Herr Kaiser, der ältere der beiden Brüder war ja bereits im Visier des FBI und da kamen jetzt Nachfragen vonseiten der Republikaner. Wird die Aufarbeitung von Boston auch politisch ausgeschlachtet?

    Kaiser: Es gibt jetzt schon einige Republikaner, die eine andere Meinung vertreten als die meisten der Demokraten. Sie wollen ja, dass solche Fälle jetzt vor die Militärgerichtsbarkeit kommen. Das heißt praktisch, dass man diesen Attentäter nach Guantanamo schafft. Das wird aber keine Mehrheit haben. Darüber wird es sicher noch eine Diskussion geben, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass das Militärgericht in diesem Falle aktiv wird, sondern es wird die normale zivile Strafgerichtsbarkeit werden.

    Kaess: Auf der anderen Seite: Obama hat ja sehr besonnen reagiert. Wie kommt das an?

    Kaiser: Obama ist auch in dieser Krise in seiner Statur gewachsen. Er hat in wunderbarer Weise in meinen Augen die Gefühle der Bevölkerung zum Ausdruck gebracht, aber auch die Entschlossenheit zu handeln. Er hat mit der richtigen Mischung von Empathie und Entschlossenheit reagiert. Für Obama ist dies ein Ereignis gewesen, wo seine Führungskraft doch sehr stark bewiesen wurde.

    Kaess: Herr Kaiser, im Rückblick – ich habe schon am Anfang gesagt: Sie haben das miterlebt, was hierzulande von vielen auch als Hetzjagd wahrgenommen worden ist. War dieses Großaufgebot und der Belagerungszustand nötig, wenn letztendlich ein Hausbesitzer den zweiten Verdächtigen in seinem Boot im Garten entdeckt hat und die Polizei gerufen hat?

    Kaiser: Darüber kann man sich streiten. Das Aufgebot von 9000 Polizisten und Soldaten und Spezialisten, um einen Menschen zu finden, sieht auf den ersten Blick natürlich etwas extrem aus. Auf der anderen Seite muss man aber sehen, dass jeder Einzelne betroffen sein konnte. Die Angst war groß, ein Polizist wurde erschossen, im Kugelhagel sind in erstaunlicher Weise wenige Leute verletzt worden, obwohl ich hörte die Geschichte, dass praktisch die Kugeln durch das Kinderzimmer flogen. Also es war gefährlich und die Art und Weise, wie der Anschlag geplant wurde, und die Brutalität des Umgangs mit diesen Bomben zeigt, dass die Täter eben doch bereit waren, hemmungslos Gewalt zu benutzen, und deshalb war der Aufwand wohl schon gerechtfertigt.

    Kaess: …, sagt Karl Kaiser, ehemals Direktor der Gesellschaft für Auswärtige Politik und heute ist er Politikwissenschaftler an der Harvard Universität. Danke für diese Einschätzungen, Herr Kaiser.

    Kaiser: Auf Wiederhören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.