Amikejo, Ort der Freundschaft

Von Sabine Weber · 12.05.2008
Mitten in Europa sollte ein neuer Staat gegründet werden. Sein Name: Amikejo - Ort der Freundschaft. Hier sollte die Kunstsprache Esperanto gesprochen werden. Initiator des Projekts war der französische Professor Gustave Roy. Der Plan aus dem Jahr 1906 ist heute weitgehend vergessen.
Zitator:
Wo sich vier Länder küssen, drei Steine findst du dort.
Von Belgien-Holland, Deutschland und vom neutralen Ort.
’S ist der von Belgien-Holland, der in der Mitte steht,
dort rechts ihr den Neutralen und links den Deutschen seht.

Mathieu Schrymecker
"Die Idee, hier in Neutral-Moresnet einen unabhängigen Esperantostaat zu gründen, diese Idee lag ja nahe. Esperanto war eine neutrale Sprache. Das Fleckchen Erde hier, 342 Hektar groß, war ein unabhängiges Ländchen und so wollte er die neutrale Sprache mit der Neutralität von Neutral-Moresnet verbinden."

Zitator
Gustave Roy: "Das in sechs Monaten zu realisierende Projekt eines unabhängigen Esperantisten-Staates:

Ich weiß, dass es nicht einen Mann unter Tausend gibt, der an die Realisation dieses Projektes glaubt. Aber: es ist zehn Jahre her, dass es nicht einen Menschen unter einer Million gab, der an die Realisation von drahtloser Telegraphie glaubte.

Detlev Blanke:
"Esperantisto estas nomata ĉiu persono, kiu scias kaj uzas la lingvon Esperanto, tute egale por kiaj celoj li ĝin uzas. Apartenado al ia aktiva Societo esperantista por ĉiu esperantisto estas rekomendinda, sed ne deviga. Das heißt: Esperantist wird jede Person genannt, die Esperanto kennt oder nutzt, völlig unabhängig davon, für welche Ziele. Die Zugehörigkeit zu einer aktiven Esperanto-Gesellschaft ist für jeden Esperantisten empfehlenswert, aber nicht verpflichtend."

Zitator:
Menschheit, o komm doch nach Amikejo!
Es lebe hoch der Internationalismus!
Lasst uns alle unsere Gabe bringen
Auf der Freundschaft schönem Altar!

Das Jahr 1906 ist reich an wegweisenden Ereignissen und Erfindungen: man denke nur an den ersten europäischen Motorflug, die erste Radio-Übertragung und die erste Dauerwellenapparatur. Doch während man sich auch heute noch an die Besetzung des Köpenicker Rathauses durch einen mittellosen Schuster erinnert, ist eine andere bedeutende Unternehmung aus demselben Jahr in Vergessenheit geraten. Und das, obwohl ihr Gelingen die europäische Landkarte grundlegend hätte verändern können.

Es ist der Plan, mitten in Europa einen neuen Staat zu gründen – den ersten Esperantostaat der Welt! Sein Name: Amikejo – Ort der Freundschaft. –
Initiator des Projekts ist der französische Professor Gustave Roy, ein polyglotter Philologe und Lehrer aus St. Giron in der Nähe der Pyrenäen. Mehrere Jahre lang lebt er in Aachen. Hier hört er erstmalig von Neutral-Moresnet, einem acht Kilometer entfernt liegenden völkerrechtlichen Unikum im Dreiländereck Preußen, Belgien und den Niederlanden.

Neutral-Moresnet entsteht durch die Neuaufteilung Europas auf dem Wiener Kongress 1814/15. Preußen und die neu gegründeten Vereinigten Niederlande legen den Vertragswortlaut über ihre gemeinsame Grenze unterschiedlich aus. Das strittige Gebiet ist doppelt so groß wie Monaco und sieben Mal größer als der Vatikanstaat. Es hat die Form eines Tortenstücks und ist auch genauso begehrt. Denn just hier liegt das bedeutendste europäische Vorkommen an Zinkerz, ein Rohstoff, den man für die Kupfer- und Messingherstellung benötigt.

Herbert Ruland:
"Und da hat man sich 1816 in Aachen so weit verständigt, dass man sagte: Also gut, wie gesagt, wir können es ja nicht beiden geben, beide bekommen gewisse Rechte an diesem Gebiet, wir machen da ein neutrales Gebiet, Preußen und die Niederlande haben die gleichen Rechte, sie haben einen Oberkommissar, es wird ein Bürgermeister gewählt in diesem Ort, aber die letztendlichen Entscheidungen regeln diese beiden Landesherren; der Ort hatte damals 246 Einwohner, 1816, und diese Menschen wurden Bürger, hatten quasi Pässe von Neutral-Moresnet."

Der Alltagshistoriker und Politologe Dr. Herbert Ruland, Leiter des Projekts Grenzgeschichte an der Autonomen Hochschule in Eupen/Belgien. –
Die meisten der Neutralen sind Arbeiter des Zinkerzbergwerks, der 1837 gegründeten "Société de la Vieille Montagne". Neben dem Bürgermeister und den beiden königlichen Kommissaren hat sie großen Einfluss auf das staatsrechtliche Kuriosum. Der durch sie geschaffene wirtschaftliche Aufschwung sorgt für steigende Einwohnerzahlen.

Ruland:
"Ja, durch die Zinkblende, der Ort war attraktiv; zog dann viele Menschen aus den umliegenden Gebieten an: Preußen, Belgier, ab 1830, wo Belgien gegründet worden ist, Niederländer, so dass man sagen kann, die dreieinhalbtausend Einwohner, die da an der Wende zum 20. Jahrhundert wohnten, die waren aus den verschiedensten Nationalitäten, die lebten friedlich zusammen, im Gemeinderat waren die verschiedensten Nationalitäten vertreten; es war ein Multi-Kulti-Gebilde, also es war wirklich was sehr Modernes in dem Sinne, also wie gesagt, man lebte friedlich zusammen und das hat die ganze Entwicklung da sehr befördert."

Im Neutral-Moresnet des 19. Jahrhunderts ist vieles anders als anderswo. Das fängt schon beim Namen an: zuweilen wird es als "Altenberg", ein anderes Mal als "Vieille Montagne", "La Calamine" oder "Kelmis" bezeichnet. Gesprochen wird Plattdeutsch, Hochdeutsch, Französisch und Niederländisch. Durch die doppelte Verwaltung bei gleichzeitiger Neutralität gibt es zwei Sperrstunden, zwei Gerichtsbarkeiten, zahlreiche steuerliche Schlupflöcher und einen gewissen Hang zur Illegalität, betrachtet man die große Anzahl an Schwarzbrennereien und Zockerstuben. Vor allem aber heißt es hier leben und leben lassen.

Ruland:
"Da, wo es lag und wie es eine damalige Zeitung ausdrückte, eine regionale Zeitung: Am Kreuzungspunkte der Völker, ich find den Ausdruck so interessant, also hier, wo romanische und germanische Kultur – und Frankreich war der Erbfeind oder das Französische – treffen aufeinander, wo wollen Sie denn ein völkerverbrüderndes Projekt besser mal probieren als unter 4000 Einwohnern, die sich einig sind, die sich verstehen. Also ich denke, es gab keinen besseren Ort."

Esperanto-Kurs:
Bonan Tagon. Saluton.

Schrymecker:
"Der Grundgedanke von dem Professor Gustave Roy war, hier einen Esperanto-Staat zu gründen, wo die Esperantisten sich treffen könnten, der Esperanto-Sprache eine Heimat zu geben."

Mathieu Schrymecker, Esperantist und ehemaliger Volksschullehrer im belgischen Kelmis, dem vormaligen Neutral-Moresnet.

Schrymecker:
"Als er in Aachen lebte, hat er kein Esperanto gesprochen. Er selbst beherrschte 7 bis 8 Sprachen, war aber der Esperanto-Sprache nicht mächtig. Vor 1900 hat er Aachen verlassen und ist dann nach St. Giron zurückgekehrt, wo er an einer Schule, an einem Kolleg fest angestellt wurde. Da hat er nun Esperanto gelernt und da ist ihm in St. Giron die Idee gekommen, die neutrale Sprache Esperanto mit der Neutralität von Neutral-Moresnet zu verbinden."

Die "neutrale" Sprache Esperanto wird auch bezeichnet als "Welthilfssprache", "Kunstsprache" oder – am treffendsten – "Plansprache".

Herbert Mayer:
"Plansprachen haben im Gegensatz zu den so genannten natürlichen Sprachen ein Geburtsjahr, manche sogar ein Geburtsdatum. Also: Esperanto hat das Licht der Welt am 14. Juni 1887 erblickt."

Herbert Mayer, Leiter der Sammlung für Plansprachen und des Esperantomuseums der österreichischen Nationalbibliothek in Wien.

Mayer:
"Sie verdanken das Entstehen einem willentlichen Akt eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen und es gibt verschiedene Motive, Plansprachen zu schaffen, das Hauptmotiv ist aber, das so genannte Sprachenproblem zu lösen."

Atmo
Gewirr verschiedener Sprachen

Der Traum von einer Universalsprache geht mindestens bis ins 17. Jahrhundert zurück, als die Nationalsprachen zunehmend das Lateinische als Gelehrtensprache verdrängen. Zahlreiche bedeutende Philosophen, Mathematiker und Pädagogen beschäftigten sich mit der Konstruktion einer "Lingua universalis", die der allgemeinen Verständigung, aber auch dem logischen Denken dienen soll. Doch erst im 19. Jahrhundert, als das Verständigungsproblem vor allem durch die neue Reisemöglichkeit per Eisenbahn drängend wird, entstehen echte sprechbare Plansprachen. Die erste ist das Volapük. 1879 wird es von dem badischen Pfarrer Johann Martin Schleyer vorgestellt. Es findet zwar eine gewisse Verbreitung, erweist sich jedoch als recht schwierig. Außerdem will Schleyer alleine die Fortentwicklung der Sprache bestimmen und diese nicht der Sprachgemeinschaft überlassen. Dadurch kann das Volapük nie richtig zum Leben erwachen.
Acht Jahre später, im Jahr 1887, veröffentlicht Ludwik Lejzer Zamenhof seine "Lingvo Internacia". Der Autor ist weder Philosoph noch Mathematiker, sondern ein 28-jähriger polnischer Augenarzt, vielsprachig, hochgebildet und angetrieben von einem tiefen Humanismus.

O-Ton Mayer
"Zamenhof wurde in Bialystok geboren; das war eine Stadt mit vielen Ethnien; es gab Polen, Russen, Deutsche und Juden. Und diese verschiedenen Völker wurden auch durch die Religion getrennt; also; die Russen waren orthodox, die Juden waren hebräischen Glaubens, die Deutschen waren protestantisch und die Polen Katholiken. Es gibt also zwei trennende Faktoren für Zamenhof: das Eine ist die Sprache und das Andere ist die Religion."


Bialystok liegt heute in Polen unweit der weißrussischen Grenze. Damals befindet es sich auf litauischem Gebiet, gehört zum polnischen Königreich und steht unter der Herrschaft des zaristischen Russlands. Ludwik Zamenhof, 1859 geboren, erlebt schon als Kind die Uneinigkeit unter den Nationen in seiner Heimatstadt. Und er wird Zeuge der antijüdischen Pogrome Anfang der 1880er Jahre – zunächst in Bialystok, dann in Warschau, wohin seine Eltern mit dem 14-jährigen ziehen. 1906 berichtet er darüber auf dem Zweiten Esperanto-Weltkongress in Genf.

Zitator 2
Auf den Straßen meines unglückseligen Geburtsortes warfen sich wilde Menschen mit Hacken und Eisenstangen wie grausame Tiere auf ruhige Einwohner, deren ganze Schuld nur darin bestand, dass sie eine andere Sprache sprachen und einer anderen Religion angehörten als diese Unmenschen. Darum hat man Schädel zertrümmert, Frauen und Männern, gebrechlichen Alten und hilflosen Kindern die Augen ausgestochen.

O-Ton Mayer
"Die erste Broschüre, die veröffentlicht wird, die Esperantisten nennen das liebevoll "das erste Buch", umfasst nur 40 Seiten. Und jeder, der etwas von Sprache versteht, weiß natürlich, dass keine Sprache in 40 Seiten dargestellt werden kann. Und das ist es auch nicht, es ist ein Konzept, zuerst einmal ein Projekt. Etwa 900 internationale Wörter in einer einheitlichen Rechtschreibung, 16 Grammatikregeln, Grundgrammatikregeln, einige Textbeispiele, und das ist es dann schon im Wesentlichen."

O-Ton
Historische Aufnahme Zamenhof auf Esperanto

O-Ton Detlev Blanke
"Das lateinische Alphabet wird verwendet mit 26 Buchstaben, einige Buchstaben haben Sonderzeichen."

Der Vorsitzende der Gesellschaft für Interlinguistik in Berlin, Dr. Detlev Blanke - ehemaliger Leiter der Abteilung Esperanto im Bundessekretariat des Kulturbundes der DDR und Privatdozent für Interlinguistik an der Humboldt Universität Berlin.

O-Ton Blanke
"Die Orthographie ist sehr einfach. Es gibt für jeden Laut einen Buchstaben, der die gleiche Bedeutung charakterisiert. Die Lautstruktur ist relativ einfach, es gibt fünf Vokale. Die Grundelemente der Wörter, die Grundmorpheme oder wie man sie nennen will, stammen etwa zu 70 Prozent aus dem Romanischen, zu 20 Prozent aus dem Germanischen, zu 10 Prozent aus anderen Sprachen.
Wichtig ist, dass die Elemente des Esperanto frei kombinierbar sind, d. h. also, wir haben eine außerordentlich produktive Wortbildung. Die Deklination kennt nur zwei Fälle, d. h. den Nominativ und den Akkusativ, die beiden Fälle; alles andere wird durch präpositionale Fügungen dargestellt. Auch die Konjugation ist sehr einfach, es gibt keine unregelmäßigen Verben beispielsweise, so dass man sagen kann, dass man die Grammatik relativ schnell lernt, sich dann mit dem Wortschatz befassen kann."

1887 erscheint das schmale Lehrbuch gleichzeitig auf Russisch, Polnisch, Deutsch und Französisch, bald darauf auch auf Englisch, Hebräisch und Jiddisch. Zamenhof denkt sich die "Lingvo Internacia" als internationale Zweitsprache, die niemandem gehört, auch ihm selbst nicht, und die jeder weiterentwickeln kann. Die deutsche Ausgabe trägt den Titel "Internationale Sprache. Vorrede und vollständiges Lehrbuch". Zamenhof veröffentlicht die Schrift unter dem Pseudonym "Doktoro Esperanto".

O-Ton Mayer
"Zamenhof hat ein Pseudonym verwendet, weil er fürchtete, als Arzt doch etwas schief angeschaut zu werden, wenn er mit so einer Idee kommt. Das war ein gewisser Schutz. Aber der Name ist auch Programm, denn Esperanto heißt "Der Hoffende" und dahinter steckt schon der ganze Optimismus, der ganze verzweifelte Optimismus Zamenhofs, verzweifelt deswegen, weil also die Weltlage und die kulturelle Lage alles andere als tolerant und in die richtige Richtung ging. Er nannte die Sprache "Lingvo Internacia", das heißt also Internationale Sprache. Und relativ bald ist dann das Pseudonym als Bezeichnung für die Sprache verwendet worden."

Herbert Mayer. - Esperanto findet von Anfang an eine einzigartige Verbreitung, die neben seiner leichten Erlernbarkeit und Klangschönheit vor allem der guten Werbestrategie Zamenhofs zu verdanken ist. Er verschickt sein Lehrbuch an bekannte Persönlichkeiten, Zeitungsredaktionen und Institutionen in aller Welt. Die Resonanz ist groß und teilweise sogar schon in der neuen Sprache geschrieben. Rasch gibt es nicht mehr nur in Russland, sondern auch in Westeuropa eine große Anhängerschar. Detlev Blanke:


O-Ton Blanke
"Man kann das etwa sagen, dass in Deutschland das Esperanto eine zunehmende Verbreitung fand, auch Zeitschriften entstanden, und in Frankreich - wahrscheinlich muss man sagen, in Frankreich noch mehr als in Deutschland. Jedenfalls haben die Franzosen eine ganz bedeutende Rolle gespielt. Die Franzosen hatten auch, was die Propaganda betrifft oder was Zeitschriften, Veröffentlichungen betrifft einen großen Einfluss. Es gab Intellektuelle, Universitätsrektoren, bedeutende Wissenschaftler in Frankreich, die sich für das Esperanto engagiert haben."

Zu den französischen Intellektuellen, die Esperanto nach Leibeskräften unterstützen, gehört Professor Gustave Roy. Und nachdem er von Neutral-Moresnet erfahren hat, zählt er eins und eins zusammen: das neutrale Vielvölkerländchen einerseits und die neutrale Sprache andererseits – warum sollte es nicht möglich sein, hier einen unabhängigen Staat zu gründen, der Platz bietet für die neue völkerverbindende Vision? Gustave Roy hält seinen Plan für mehr als denkbar. Im Sommer 1906 fährt er nach Neutral-Moresnet und sucht den Betriebsarzt des Bergwerks "Vieille Montagne", den 68-jährigen Geheimrat Dr. Wilhelm Molly auf. Herbert Ruland:

O-Ton Ruland
"Man kann wirklich sagen: ein Original. Und eine der prägendsten Gestalten über fast die gesamte Geschichte dieses Gebildes, der noch nicht mal hier aus der Gegend stammte, der kam aus Wetzlar. Was ihn nach hier gezogen hat, weiß ich nicht; er ist 1838 geboren worden, und er kam 1863 in die Gegend des neutralen Gebiets; er wohnte auf der preußischen Seite in Jansmühle. Und er fiel eigentlich schon dadurch auf, dass er nicht unbedingt drauf bestand, dass alles bezahlt wurde; hat sich dadurch natürlich beliebt gemacht bei den Arbeitern, war eine Person, der man vertraut hat; gebildet in dem Sinne: er konnte sehr viele Sprachen, er war ein Sprachentalent, nicht nur moderne, sondern auch alte Sprachen."

Seit 1881 ist Molly stellvertretender Bürgermeister; für die Bevölkerung aber gilt er aufgrund seines Engagements als "ungekrönter König". Gelingt es Roy, Molly für die Gründung eines unabhängigen Esperantostaates zu gewinnen, dann wird mit Sicherheit auch ganz Neutral-Moresnet hinter dem Projekt stehen.
Für das Treffen von Roy und Molly im Sommer 1906 gibt es Zeugen. Ein Enkel Mollys, Wilhelm Dithmar aus Aachen, ist an dem Tag zufällig bei seinen Großeltern zu Besuch und notiert später:

Atmo
Zimmer: leise Grammophonmusik (z. B. Amikejo-Marsch), gedämpftes Gespräch zweier Männer, gedämpftes Lachen

Zitator 2
Um 1906 erschien bei Dr. Molly der französische Professor Dr. Gustave Roy. Wahrscheinlich haben sich beide Herren auf internationaler Ebene getroffen. Es mag sein, dass Berührungspunkte über den Briefmarkenaustausch her bestanden. Es kann aber auch hier die Loge mit im Spiel sein, da Dr. Molly Mitglied der "Loge zu den drei Weltkugeln" war.
Durch Professor Dr. Roy wurde Molly mit der Esperantobewegung bekannt. Als Liebhaber vieler Sprachen, interessierte er sich nun auch für die Esperanto-Sprache, die er sehr schnell beherrschte. Die beiden Herren beschlossen in Neutral-Moresnet einen "Esperanto-Staat" zu errichten.

Nun kommt eine für die Zeit beachtliche Werbemaschinerie in Gang, die die folgenden Jahre unermüdlich am Laufen gehalten wird. Als ersten Schritt plant Gustave Roy gemeinsam mit Wilhelm Molly im Jahr 1907 eine Propagandaveranstaltung im Schützenlokal, dem Veranstaltungsort der Minenarbeiter, um Esperanto im Ort überhaupt erst einmal publik zu machen.
Mollys Enkel Wilhelm Dithmar schreibt:

Atmo
Festsaal: Reden, Musik, vereinzeltes Klatschen etc., Esperanto

Zitator 2
Ich sehe noch heute die festlich geschmückte Halle vor mir. Viel Publikum war erschienen. Die Knappschaftskapelle des Altenberger Bergwerkes Vieille Montagne schmetterte Märsche. Meine Schwester sang einige Esperanto-Lieder (deren Inhalt sie wohl nicht ganz verstand). Am Vorstandstisch saß neben Professor Dr. Roy, der die Ansprache hielt, mein Großvater Wilhelm Molly ... und ich war sehr stolz.

Eine Welle der Esperanto-Begeisterung erfasst das kleine Territorium. Roy gründet einen Verein mit dem Namen "Amikejo" und wirbt Mitglieder in Neutral-Moresnet und Umgebung. Um das Projekt auch im Ausland publik zu machen, veröffentlicht er Anfang 1908 zwei Broschüren, eine auf Französisch und eine auf Esperanto. Voran stellt er werbewirksam einen Brief von Ludwik Zamenhof.

Zitator 2
Warschau, den 18.12.1907
Lieber Herr Roy.
Mit großem Interesse habe ich Ihre beiden Artikel gelesen, Ihre Idee gefällt mir ausgezeichnet. Wenn sie verwirklicht werden könnte, wäre das meines Erachtens ein bedeutender Ansporn zur Förderung der Grundidee des Esperantismus.

Unter dem Titel "Das in sechs Monaten zu realisierende Projekt eines unabhängigen Esperantisten-Staates" fasst Gustave Roy zunächst die Vorzüge des neutralen Ländchens zusammen.

Zitator frz.
Ce qui rend exceptionnelle la situation de ce territoire pour l’Esperanto et pour le commerce international, c’est qu’il est voisin du point de croisement de la ligne Lisbonne, Madrid, Paris, Berlin, Saint-Pétersbourg et de la ligne Constantinople, Vienne, Bruxelles, Londres.

Zitator 2 (in frz. hinein)
Was die Situation dieses Territoriums für Esperanto und für den internationalen Handel besonders macht, das ist, dass es am Kreuzungspunkt der Linie Lissabon, Madrid, Paris, Berlin, St. Petersburg und der Linie Konstantinopel, Wien, Brüssel, London liegt.

Damit sei es ein Ort, an dem häufig internationale Handlungsreisende Station machen. Mehr als alle anderen seien diese auf Verständigung angewiesen. Und die neue Sprache Esperanto brauche Sprecher. Eine ideale Verbindung, so Gustave Roy. Als nächstes schlägt er die Errichtung einer Hanse vor.


Zitator frz.
Cette nouvelle hanse, à la faveur de laquelle pourrait se développer davantage la civilisation, requerrait d’abord un siège international puisqu’elle est internationale.
En second lieu, il faudrait que ce siège fût près d’une grande route de voyageurs de commerce internationaux puisqu’il doit être leur permanent rendez-vous.
Troisièmement, il faudrait, pour qu’il pût mieux jouer son rôle entre les Etats, qu’il fût lui-même un Etat et de préférence un Etat neutre.
Quatrièmement, cet Etat devrait être à proximité de l’Allemagne et de l’Angleterre, nations qui groupant aujourd’hui derrière elles l’une les Etats-Unis et la Chine, l’autre la France, la Russiie et le Japon.

Zitator 2 (in frz. hinein)
Diese neue Hanse, die sich zum Vorteil der Zivilisation entwickeln könnte, braucht zunächst einen internationalen Sitz, da sie selbst international ist.
Zweitens muss man diesen Sitz nahe einer der großen Reiserouten des internationalen Handels errichten, damit es ihr permanenter Treffpunkt sein kann.
Drittens muss man, um eine größere Rolle spielen zu können unter den Staaten, selbst ein Staat werden und am besten ein neutraler Staat.
Viertens: Dieser Staat muss in der Nähe von Deutschland und von England liegen, Nationen, von denen die einen Frankreich, Russland und Japan, die anderen die Vereinigten Staaten und China hinter sich vereinen.

Und das optimale Territorium ist natürlich Neutral-Moresnet, wird es doch all diesen Kriterien gerecht.
Das Vorgehen, so Roy, sei folgendermaßen. Durch massive Werbung locke man die international Reisenden zunächst aus touristischen Gründen nach Neutral-Moresnet. Ein extra für sie eingerichteter Treffpunkt werde sie zum Wiederkommen veranlassen. Man werde ihnen Esperanto-Unterricht anbieten und sie dazu ermutigen, sich dieser Sprache zu bedienen. Nach und nach werde man auch die ortsansässigen Geschäftsleute und die Beamten in den Ortsbehörden davon überzeugen, das neue Idiom der internationalen Gäste zu gebrauchen. Euphorisch fasst Roy zusammen:

Zitator frz.
Il ne sera plus l’obscur Moresnet-Neutre que personne ne connaît encore, il sera « Amikejo », le lieu des amis, le temple de l’amitié.

Zitator 2
Es wird nicht länger das unbedeutende Neutral-Moresnet sein, das niemand kennt, sondern es wird "Amikejo" sein, der Ort der Freunde, der Tempel der Freundschaft.

O-Ton Schrymecker
"Sehr viele Esperantisten, sehr viele Esperanto-Vereine Belgiens waren bereit, das Projekt zu unterstützen."

Mathieu Schrymecker.

O-Ton Schrymecker
Da gab es schon Esperantisten, die Karten verschickten, auf der die Landkarte von diesem künstlichen Territorium mit Umgebung zu sehen war und die darauf schrieben: Nächstes Jahr in Esperantujo. Das heißt: nächstes Jahr in der Heimatstadt oder im Heimatland von Esperanto. Und ein Pfeil zeigt dann das Dreieck Amikejo."


Die Werbemaschinerie läuft weiter. Roy schreibt über einhundert Tageszeitungen an. So wird selbst in Übersee berichtet. In einem Artikel aus der New York Times vom 23. Februar 1908 heißt es:

Atmo
Stadt

Zitator engl.
(ausgerufen:) New European state! Prof. Roy’s plans for Moresnet! – Only for Esperantists!

Zitator 1 (in voriges hinein)
(ausgerufen:) Ein neuer europäischer Staat! Professor Roys Pläne für Moresnet! – Nur für Esperantisten!

Blättern in einer Zeitung

Zitator engl.
(normal:) Paris, February 14th – Prof. Gustave Roy has explained his project for a "universal nation”. He intends to found a State in Europe where only Esperanto will be spoken and where Esperantists from all over the world will stop on their way to the different resorts.
Professor Roy has chosen Moresnet, a small commune on the outskirts of Belgium and the Prussian Rhine province, neutral territory claimed by the adjoining countries. It is seventy acres square and contains about 3.000 inhabitants. It is near the transcontinental railway lines from Constantinople to Ostend and London and from Madrid to St. Petersburg.
The professor will not buy the State, but will turn it into an Esperantist community. Every one in Moresnet will learn the universal language, so that travellers who will stop there may be understood. Professor Roy hopes that from this little nation the whole world will be "Esperantized”. He has been taken rather seriously until now, even by those who do not believe in him. But now that he has stated that it would take only six months to turn Moresnet into an Esperanto country even his most enthusiastic disciples have begun to doubt.

Zitator 1 (in Voriges hinein)
(normal:) Paris, 14. Februar – Professor Gustave Roy hat sein Projekt einer "universellen Nation" dargelegt. Er beabsichtigt einen Staat in Europa zu gründen, in dem nur Esperanto gesprochen wird und in dem Esperantisten aus aller Welt auf ihren Reisen Halt machen werden. Professor Roy hat Moresnet gewählt, ein kleines Territorium am Rande Belgiens und der preußischen Rheinprovinzen, ein neutrales Territorium, das jeweils von den anliegenden Ländern beansprucht wird. Der Professor will den Staat in eine Esperantistengemeinschaft umwandeln. Jeder in Moresnet wird die Universalsprache lernen, so dass die Reisenden, die dort Station machen, verstanden werden. Professor Roy hofft, dass von dieser kleinen Nation aus die ganze Welt "esperantisiert" werden wird. Bisher ist er sehr ernst genommen worden, selbst von denen, die nicht an seine Pläne glauben. Aber nun, nachdem er behauptet hat, dass es nur sechs Monate brauche, um Moresnet in ein Esperanto-Land zu verwandeln, nun haben selbst die enthusiastischsten Jünger begonnen zu zweifeln.

Atmo
Stadt Ende

Zu diesen zweifelnden "enthusiastischen Jüngern" ist wohl die Esperanto-Vereinigung von Verviers zu zählen, die vehement gegen das Projekt, sowohl als Esperantisten-Staat als auch als Zentrum für Handelsreisende opponiert.

Zitator 1
La Belga Sonorilo, 21. Juni 1908.
Angesichts der Tatsache, dass wir als der bei Moresnet nächst liegenden Esperanto-Gruppe die Pflicht haben und wir betrachten es als ein Fehlverhalten, nicht schon früher reagiert zu haben, unsere belgischen und ausländischen Freunde aufzuklären über die Unbesonnenheit des Projektes von Herrn Roy sowie über den Schaden, den ein Verwirklichungsversuch dem Esperanto zufügen würde, haben wir einstimmig beschlossen, jede Beteiligung an einem zum jämmerlichen Scheitern bestimmten Unternehmen zu verweigern; und, soweit es in unserer Macht steht, gegen jede Verbindung zu opponieren, die nichts anderes bewirken könnte, als das Esperanto und die Esperantisten lächerlich zu machen.

Eine positive Folge aber haben die Negativschlagzeilen. Ein junger Mann aus Neutral-Moresnet, Karl Schriewer, trotz seiner erst 19 Jahre schon ein hervorragender Esperantist, erklärt sich gegenüber Gustave Roy bereit, unentgeltlich Esperanto-Kurse abzuhalten. Mit Karl Schriewer hat das Projekt Amikejo sein Zugpferd gefunden.

Atmo
Klassenzimmer: Unterricht Esperanto

O-Ton Schrymecker
"Vier Mal in der Woche unterrichtete Karl Schriewer in Kelmis Esperanto. Zwei Mal für die Kinder; und zwei Mal für die Erwachsenen. Schriewer, das war ein großer Pädagoge, der es verstand, die Kinder, die Erwachsenen für die Esperanto-Sprache zu begeistern. - Jetzt sind im Nu 139 Mitglieder im Neutral-Moresneter Esperanto-Club. 139 folgen dem Unterricht."

Weitere lernbegierige Schüler kommen aus den umliegenden Dörfern. Es ist der nächste Schritt in der Werbekampagne und ganz so, wie es Roy geplant hat. Sein Projekt nimmt Gestalt an.

O-Ton Schrymecker
"Jetzt hatte er auch unter Handelsleuten, Geschäftsleuten und Industrieleuten sehr viel Anklang gefunden, die bereit waren – es waren sogar 200 an der Zahl – das Projekt finanziell zu unterstützen. Also das war keine Utopie in dem Sinne, dass er Gelegenheit hatte, wirklich konkret etwas aufzubauen mit finanzieller Hilfe seiner Freunde."

Die Begeisterung für das Projekt liegt nicht nur in der originellen Idee, im guten Marketing und in der klugen Taktik Gustave Roys begründet, charismatische Persönlichkeiten einzuspannen; sie liegt auch in der Sprache Esperanto selbst begründet. - Detlev Blanke.

O-Ton Blanke
"Also erst einmal ist diese Sprache nicht schlecht gemacht: der internationale Wortschatz, romanisches Wortgut, die einfache Orthographie etc. Zweitens hat Zamenhof sehr klug und schnell, d. h. schon 1905, auf dem Ersten Weltkongress, erwirkt, dass eine Normurkunde beschlossen wurde, also die Grundlagen des Esperanto, die unveränderlich sind, so dass damit ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung der Sprache geleistet wurde. Und dann hat Zamenhof enorm viel Modelltexte geliefert, hat also sehr viele Übersetzungen angefertigt, die Nachahmer fanden, und das hat zur Stabilisierung der Sprache beigetragen. Und dann war ganz wichtig die Verbindung eines humanistischen Ideals mit dieser Sprache. Zamenhof wollte einen Beitrag zur Völkerverständigung leisten und das hat viele Leute motiviert, die Sprache zu erlernen."

Nach Propagandaveranstaltungen, Sprachkursen, Informieren der internationalen Presse, Vereinsgründung und Requirieren angesehener Unterstützer werden in Neutral-Moresnet und weiterer Umgebung Handzettel verteilt. Sie laden zu einem Festakt am 13. August 1908 ein. An diesem Tag soll in einer feierlichen Zeremonie Neutral-Moresnet, des Öfteren auch mit seinem älteren Namen Altenberg bezeichnet, zum unabhängigen Esperantostaat Amikejo ausgerufen werden.

Chorgesang (zu Melodie O Tannenbaum)
O Altenberg, o Altenberg,
Du kannst mir sehr gefallen.
Man spricht von dir jetzt nah und fern,
drum Altenberg, dich hab ich gern.
O Altenberg, o Altenberg,
Du kannst mir sehr gefallen.

Die Meinungen darüber, ob die Ausrufung des Esperantostaates im Sommer 1908 nun rein metaphorisch oder aber de facto ist, gehen auseinander. Karl Schriewer etwa betont, dass es nur sinnbildlich zu verstehen sei. Und auch die opponierende Esperanto-Gruppe von Verviers geht zugunsten Gustave Roys davon aus, dass er es doch wohl nicht ernst gemeint haben könne, legt aber trotzdem vorsorglich ihr Veto ein. Gustave Roy selbst aber lässt keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Absichten. Und auch Wilhelm Molly, der schon länger die echte Loslösung Neutral-Moresnets von Belgien und Preußen anstrebt, hat sicher das Gleiche im Sinn.

Chorgesang
Was ist es denn, was dich so hebt,
sogar bis zum Lepanto?
Die Sprach, nach der jetzt alles strebt,
bekannt als Esperanto.

Zwar bis du weiter noch bekannt,
ja, selbst bis an der Ostsee Strand.
Doch als Esperantistenstaat,
das Land noch größ‘ren Ruf jetzt hat.

Zur Zeremonie erscheinen rund einhundert Esperantisten; und auch die Neutral-Moresneter sind natürlich dabei. Der Schuldirektor Emile Horgnies fasst wenig später die Ereignisse des Jahres zusammen.

Zitator 2
Neutral-Moresnet zum Esperanto Staat erhoben.
Vom 1. Januar bis 31. März 1908 haben mehr als 150 Zeitungen aus verschiedenen Ländern das Projekt des französischen Professors Herrn Gustave Roy besprochen, nach welchem Neutral-Moresnet zum "Esperanto-Staat" erhoben werden sollte. Dieses Projekt ist am 13. August 1908 Wirklichkeit geworden.
Am 13. August erschienen in Neutral-Moresnet ungefähr 80 bis 100 Esperantisten, Spanier und Franzosen, welche im Hotel Bergerhof einkehrten. Ein Glück für den Hotelbesitzer war es, dass die Kellner sich mit diesen fremden Völkern auf Esperanto verständigen konnten. Und ich möchte sagen, es war dies die beste Reklame für die Einführung der neuen Weltsprache; denn alsbald meldeten sich sehr viele zur Teilnahme an den Esperanto-Kursen.

Es werden Reden über die Errichtung des Esperantofreistaates gehalten; dazu spielt die ortsansässige Bergmannskapelle. Feierlich stellt man Wappen und Fahne Amikejos vor. Und schließlich erklingt "O Altenberg!", ein eigens für diesen großen Anlass auf die Melodie eines bekannten Weihnachtsliedes geschriebenes Gedicht.

Chorgesang
Alljährlich strömen her nach dir
der fremden Völker viele.
Sie sprechen nicht bald so, bald so:
Sie sprechen Esperanto.

Neben "O Altenberg" erzählt noch ein anderes Dokument vom 13. August 1908. Es ist ein an diesem Tag aufgenommenes Schwarz-Weiß-Foto, das 51 zuversichtlich blickende Frauen, Männer und Kinder im Halbkreis auf einer Sommerwiese zeigt. Die Damen tragen hochgeschlossene Sommerkleider und Blumenhüte, die Herren stecken in dunklen Anzügen und Vatermördern. Kurioserweise gruppiert sich die dicht gedrängte Menschenmenge um ein hochrädriges offenes Automobil – vielleicht als Zeichen der Moderne. Der junge Mann darin, selbstbewusst und seriös, ist Karl Schriewer. Und in der ersten Reihe finden wir, mit buschigem Schnurrbart, Dr. Molly. Eine Aufschrift lautet: "Esperantista Grupo de Amikejo", also: Esperantistengruppe von Amikejo. Dahinter in Klammern: "Neutra-Moresneto".
Auf diesem Foto ist die Utopie greifbar nah.

Chorgesang
Drum Altenberger, seid jetzt klug,
kauft euch ein 50 Pfennigs Buch,
sprecht all: auch ich will, comme il faut,
Jetzt lernen Esperanto!
Dann Altenberg, dann Altenberg,
dann kannst du mir gefallen.

Sicher ist der 13. August 1908 ein Höhepunkt auf dem Weg zur Verwirklichung des neuen Staates. Doch Gustave Roy plant schon den nächsten Coup.
Seit 1905 findet jedes Jahr ein Esperanto-Weltkongress statt. Der erste "Universala Kongreso de Esperanto" wird im französischen Boulogne-sur-Mer veranstaltet. Detlev Blanke:

O-Ton Blanke
"Der erste Weltkongress 1905 war natürlich ein riesiges Ereignis, weil erstmalig etwa 700 Leute zusammengekommen sind und gemerkt haben, also, die Sprache kann man ja sprechen; und da trat natürlich auch Zamenhof, der Guru, auf und hielt eine Rede und die Leute waren also begeistert, das war eine Stimmung, man spricht auch häufig vom Pfingstwunder, den Leuten traten wahrscheinlich die Tränen in die Augen und sie waren ganz mitgerissen."

Zitator 2
Heute sind nicht Franzosen mit Engländern zusammengekommen, nicht Russen mit Polen, sondern Menschen mit Menschen. – Ludwik Zamenhof.

In den folgenden Jahren steigt die Zahl der Teilnehmer an den Kongressen kontinuierlich an. 1906 treffen sich in Genf 1200 Esperantisten; 1907 in Cambridge sind es 1317; und auf dem ersten in Deutschland stattfindenden Weltkongress vom 16. bis zum 22. August 1908 in Dresden kommen gar 1500 Teilnehmer aus rund 40 Ländern zusammen. Die Leipziger Abendzeitung berichtet am 18. August 1908:

Atmo
Stadtgeräusche: wenige Autos, Hupen, vereinzelte Rufe etc., Esperanto

Zitator 1
Seit gestern scheint Elbflorenz eine fremde Stadt geworden zu sein. Die gute deutsche Muttersprache und das noch vertrautere Sächsisch sind auf dem Hauptbahnhof und den Hauptverkehrsadern der Stadt fast in den Hintergrund gedrängt worden. Fremde, an das Rumänische erinnernde Laute hört man überall. Der 4. Internationale Esperanto-Kongress hat dieses Wunder bewirkt. Die Gendarme auf den Bahnhöfen tragen einen grünen Stern an der Uniform. Die fremden Ankömmlinge umringten freudig die Beamten, auf die ein Chaos an Fragen einstürmte. Langsam, aber deutlich gaben die Gendarme im schönsten Esperanto die gewünschte Auskunft.

Atmo
Ende

Die folgenden Tage bieten Zeit für Ausflüge, Theater und Empfänge, vor allem aber für Kongressarbeit. Unter anderem konferieren das Sprachkomitee, das Rote Kreuz und die internationale Polizeivereinigung, weiterhin Ärzte, Antialkoholiker, Juristen, Blinde, Freimaurer, Seeleute, Vegetarier, Sozialisten und der internationale kaufmännische Verband. Auf der dritten Hauptversammlung am 21. August 1908 spricht Gustave Roy. – Mathieu Schrymecker:

O-Ton Schrymecker
"Er hat das geschickt gemacht, er ist auf Begeisterung gestoßen; er fand dort ein offenes Ohr für sein Projekt, wie aber immer: er fand auch Gegenargumente, er fand auch Leute, die das nicht für richtig oder für notwendig hielten, einen unabhängigen Esperanto-Staat zu gründen."

Protokolle der Sitzung verzeichnen das Für und Wider.

O-Ton Blanke
"Pro la gazetoj oni estu singardema kaj zorge evitu enmiksi kun Esperanto aferojn, kiuj povos sajni politikaj au religiaj."

Zitator 2
Was die Zeitungen betrifft, sei man vorsichtig und vermeide sorgfältig, Esperanto mit Dingen zu vermischen, die politisch oder religiös sein könnten.

O-Ton Blanke
"Se neinstruita popolo parolos ciutage Esperanton, gi povos rapide gin difekti."

Zitator 1
Wenn ein ungebildetes Volk jeden Tag Esperanto spricht, kann das diese Sprache negativ beeinflussen.

O-Ton Blanke
"Li diras, ke la forto de la lingvo venos de la popolo, kiu gin parolos. Tute ne estos dangere, se laboristoj parolos malbone."

Zitator 2
Die Stärke der Sprache kommt vom Volk, das diese spricht. Es ist völlig ungefährlich, wenn Arbeiter sie schlecht beherrschen.

Schließlich kommt es zur Abstimmung, allerdings nicht über die Errichtung eines Esperantostaates. Kurz zuvor ist der Esperanto-Weltbund gegründet worden. Er soll der rasch wachsenden internationalen Sprachgemeinschaft zur Seite stehen, etwa mit der Vermittlung von Kontaktpersonen; natürlich soll er aber auch die Verbreitung der Sprache fördern. Der Weltbund hat seinen vorläufigen Sitz in Genf. Gustave Roy schlägt nun der Hauptversammlung vor, dieses Esperanto-Weltbüro nach Neutral-Moresnet zu verlegen – ein Coup, sollte dies gelingen, hätte Amikejo damit internationale esperantistische Anerkennung.
Emile Horgnies fasst das Ergebnis der Abstimmung zusammen.

Zitator 2
Man hat sich für Neutral-Moresnet entschieden, einmal wegen seiner günstigen geographischen Lage: an den Grenzen dreier Staaten, wo sich die Nachteile der Verschiedenartigkeit der Völkersprachen fühlbar machten. Dann aber auch wegen der politischen Eigenart dieses Gebietes, die einzig in der Welt dastand. Endlich hat man in Betracht gezogen, dass Neutral-Moresnet von den europäischen Staaten aus verhältnismäßig leicht erreichbar war.

So ist die Reise nach Dresden ein voller Erfolg für Roys Projekt. Die Neutral-Moresneter freuen sich über die Zusage und Karl Schriewer beginnt sogleich damit, das Büro einzurichten. Als esperantistischer Konsul, wie er genannt wird, ist er zuständig für die Erledigung von Anfragen aus aller Welt sowie für Sprachkurse vor Ort. Wieder ist Gustave Roy seinem Ziel einen Schritt näher gekommen. Nun wartet man in Neutral-Moresnet nur noch auf die Delegierten aus Genf, die sich für Ende des Jahres angekündigt haben. – Doch vergebens.

O-Ton Schrymecker
"Die große Frage bleibt offen: warum sind sie nicht gekommen? Hat man befürchtet, dass der Gustave Roy zu sehr Politik machen würde über den Weg der Esperanto-Sprache? - Das war aber überhaupt nicht die Idee von Gustave Roy. Sein Ziel und Bestreben war, den unabhängigen Staat zu gründen, um der Sprache eine Heimat zu geben. Ein Ort, ein Begegnungsort für alle Esperantisten."

Obwohl die Enttäuschung groß ist, lassen sich die Neutral-Moresneter Esperantisten nicht unterkriegen. Wie geplant findet am 27. Dezember 1908 in Amikejo ein großes Fest statt. 150 Esperantisten aus verschiedenen Ländern sind dabei. Und zu feiern wissen die Neutral-Moresneter. Theaterstücke werden auf Esperanto aufgeführt, Gedichte vorgetragen und man singt die "Himno de Amikejo", die Hymne von Amikejo. Ihre Melodie ist bekannt, folgt sie doch der internationalen Esperanto-Hymne "La Espero" – Die Hoffnung. Die Verse aber sind neu und auf Amikejo zugeschnitten. Gewidmet ist die Hymne …

Zitator 1
… dem eifrigen Konsul für Esperanto in Amikejo, Karl Schriewer.

Musik
La Espero Instrumental

Zitator 1
Ein neues Wort fliegt durch die Welt!
Im Esperantoland kennt man es längst.
Es heißt Amikejo! Sein Echo hallt
rundum ganz fröhlich für Jung und Alt.

Esperanto hat nun sein eigenes Heim
in Amikejo, dem schönen Land.
Und jeder Besucher findet hier
einen Kongressort voller Bequemlichkeit.

Menschheit, o komm doch nach Amikejo!
Es lebe hoch der Internationalismus!
Lasst uns alle unsere Gabe bringen
auf der Freundschaft schönem Altar!

Musik
Ende

So geht das Jahr doch noch recht erfolgreich zu Ende. Seit dem ersten Treffen 1906 haben die beiden Initiatoren Roy und Molly gemeinsam mit Karl Schriewer sowohl Mitstreiter vor Ort gewonnen als auch weitreichende internationale Unterstützung gefunden. Selbst vom Vater des Esperanto, Ludwik Zamenhof, erhielten sie den Ritterschlag, indem er das Projekt ausdrücklich guthieß. Mathieu Schrymecker:



O-Ton Schrymecker
"Leider Gottes kommt das Jahr, wo Karl Schriewer zum Militärdienst berufen wird. Das war ein Gegenschlag, eine große Enttäuschung für den Club, denn Schriewer war die treibende Kraft, er war die Triebfeder, er war derjenige, der den Club vorwärts brachte."

In der Folgezeit werden die Nachrichten über Amikejo immer spärlicher. Zwar berichtet noch hin und wieder die esperantistische Presse darüber. Auch der Verein "Amikejo" bleibt nach dem Weggang Karl Schriewers im Februar zunächst erhalten und wird von Hubert Nyssen weitergeführt. Und 1910 wirbt eine Ansichtskarte für Neutral-Moresnet als Luftkurort und verzeichnet die Aufschrift: "Luftkurort Neutral-Moresnet/Altenberg" und rechts daneben "Esperantostaat Amikejo". Doch: …

O-Ton Schrymecker
"Die Seele fehlt. Dem Verein fehlt die Seele. Bis 1914 ging es weiter, aber ohne Höhepunkte. Die Esperantisten, die sich noch für die Sache interessierten, kamen noch zusammen, aber es blieb bei Gesprächen, bei Unterhaltungen, bei schönen Abenden, die sie veranstalten. Es war erblasst, keine Kinder wurden mehr unterrichtet, es wurden keine Theaterstücke mehr aufgeführt, kurzum: Der Esperantistenstrom in Kelmis versickerte."

Am 4. August 1914 marschiert die deutsche Armee quer durch das neutrale Gebiet in Belgien ein. Wie überall schlägt der Erste Weltkrieg auch in Neutral-Moresnet tiefe Wunden. Die bis dahin friedlich miteinander lebenden Nationalitäten werden gezwungen, gegeneinander zu kämpfen. Verwandte, Freunde, Nachbarn stehen sich als Soldaten feindlich gegenüber.

Musik
Amikejo-Marsch, leise, "verweht"



Zu ihnen gehört auch der Musiker Willy Huppermann, ebenfalls ein überzeugter Esperantist. Während er auf belgischer Seite steht, kämpft sein Schwager unter deutscher Flagge. An der Front komponiert Huppermann einen Marsch. Heiterkeit und Zuversicht klingen darin, er nennt das Stück "Amikejo" - mitten im Krieg lässt er die Erinnerung an eine große völkerverbindende Idee aufscheinen.

Musik
Ende

Zitator 2
Die Zerrissenheit und der Hass zwischen den Nationen werden nur dann vollständig verschwinden, wenn die ganze Menschheit eine Sprache und eine Religion hat.

Das war zeitlebens die Hoffnung des Esperanto-Erfinders Ludwik Lejzer Zamenhofs.

Musik
Valso por Amikoj/Walzer für Freunde – (Jomart & Natasha) Intro Instrumental

Den Ersten Weltkrieg betrachtet er als schrecklichen Rückschlag. Seinen letzten großen Text veröffentlicht er im Jahr 1915. Es ist ein Aufruf "An die Diplomaten"; mitten im Krieg plädiert er für "Vereinigte Staaten von Europa".

Musik
Intro Ende

Im Jahr 1917 stirbt Ludwik Zamenhof mit 58 Jahren an einem Herzinfarkt. Eine riesige Menschenmenge begleitet ihn zum jüdischen Friedhof in Warschau.

Musik
Valso por Amikoj

Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags am 28. Juni 1919 hört Neutral-Moresnet auf zu bestehen. Es wird mit seinen beiden Nachbargemeinden zusammengefasst und erhält den Namen "Kelmis", von "la calamine", einem alten Wort für Galmei oder Zink. Heute gehört es zur belgischen Provinz Lüttich. –
Dr. Wilhelm Molly, der immer an dem Gedanken eines unabhängigen Ländchens festgehalten hat, stirbt im Jahr 1919, also genau zu dem Zeitpunkt, als es auch mit dem neutralen Gebiet und Amikejo ein Ende hat.
Auf seinem Grabstein steht: "58 Jahre im treuen Dienst am Nächsten."
Karl Schriewer, der esperantistische Konsul und die Seele des Vereins "Amikejo" wird ein Opfer des Ersten Weltkriegs. Als Leutnant im belgischen Heer fällt er 1916 in Ost-Afrika.
Professor Gustave Roy schließlich stirbt 1943 in Frankreich bei einem Badeunfall.

Musik
Ende

O-Ton Schrymecker
"Auf die Frage hin: Hätte das Esperanto-Amikejo, eine Chance gehabt, hätte es den Ersten Weltkrieg nicht gegeben, darauf sage ich ohne zu zögern "Nein". Auch wenn Gustave Roy eine große Esperantisten-Schar hinter sich gehabt hätte, die das Projekt befürwortet hätten, glaube ich nicht, dass er die Chance gehabt hätte, beide Mächte zu überzeugen von der Notwendigkeit eines Esperanto-Staates."


Nicht zuletzt als Folge des Ersten Weltkrieges erhält die internationale Sprache Esperanto in den 1920er Jahren weltweit neuen Aufschwung. Unter Hitler und Stalin hat es damit zumindest in Europa ein vorläufiges Ende. Bekennende Esperantisten werden verfolgt und zu Zehntausenden ermordet. Darunter sind auch die drei Kinder Ludwik Zamenhofs, die von den Nationalsozialisten umgebracht werden.



O-Ton Mayer
"Für die Esperantosprecher ist Esperanto nicht nur eine Sprache, sondern eine Idee; namlich die Idee und die Überzeugung, dass man sich verständigen kann, wenn man es will. Das ist nicht selbstverständlich, denn es gibt nämlich Theorien, die besagen, dass man so von seiner Kultur geprägt ist, dass eigentlich eine wirkliche Verständigung über die Kulturen hinweg nicht möglich ist. Und Esperanto liefert doch hier ein Gegenbeispiel."

Herbert Mayer. –

Atmo
Mix verschiedener internationaler Esperanto-Radiosendungen

Heute wird Esperanto von schätzungsweise drei Millionen Menschen in 120 Ländern gesprochen – keine andere Plansprache hat solchen Erfolg gehabt. Nach wie vor finden jedes Jahr Weltkongresse statt, an denen 2.000 - 3.000 Esperanto-Sprechende aus 50 - 70 Ländern teilnehmen. Es gibt eine reiche Esperanto-Literatur, Hunderte von regelmäßig erscheinenden Zeitschriften, Esperanto-Musik aller Stilrichtungen und seit den 1920er Jahren auch Radiosendungen in Esperanto. Polen und China senden täglich; mehrmals wöchentlich sind Sendungen aus Italien, Kuba, Litauen, Österreich und dem Vatikan zu hören. Verschiedene Fachverbände beschäftigen sich mit einzelnen Themen, so dass auch ein reicher fachspezifischer Esperanto-Wortschatz entstanden ist.

Detlev Blanke:

O-Ton Blanke
"Ich gehe schon davon aus, dass es auch in Zukunft Leute geben wird, die sich mit dieser Sprache befassen. Man kann wahrscheinlich sagen, dass das Modell so weit ausgebaut ist, dass es übernommen werden könnte und weiterentwickelt werden könnte, wenn das politische Bedürfnis vorhanden wäre. Ob es das jemals sein wird, weiß ich nicht, das ist schwer vorauszusehen

Musik
bis zum Ende: Amikejo-Marsch

Und was bleibt von Amikejo? Die schöne Utopie mag von den Geschichtsbüchern ignoriert werden. Auf seinem ehemaligen Territorium Neutral-Moresnet, dem heutigen Kelmis, hat es jedoch seine Spuren hinterlassen. Mathieu Schrymecker und Herbert Ruland.

O-Ton Schrymecker
"Heute können wir aber mit Stolz sagen, dass Esperanto weiterlebt; wir haben zwei internationale Treffen organisiert unter dem Namen Trilanda Renkontigho. Seit zwölf Jahren organisieren wir im Monat Dezember das Zamenhof-Fest. Hier werden noch Rundführungen veranstaltet, es kommen Esperantisten per Bus, fast jedes Jahr kommt eine Gruppe, die wir dann durch Kelmis führen, wir gehen ins Museum. Wir fahren an den Dreiländerblick. – Amikejo ist heute noch lebendig, es gibt immer noch Leute, die sich für Amikejo interessieren. Und das ist natürlich das Verdienst von unserm Herrn Roy."

O-Ton Ruland
"Es war ein Pulverfass in Europa. Und dann kommen Menschen an den Grenzen, zwischen dem romanischen und germanischen Sprachraum auf die Idee, hier in diesem Gebiet, wo sowieso schon Multi-Kulti herrscht, hier gründen wir jetzt ein Zentrum dieser Bewegung, die sich ja auch als völkerverständigend verstand, genau diesen imperialen oder imperialistischen Bestrebungen entgegenstand – ich finde, das ist also mehr als eine sympathische Geschichte und so hat es zumindest, so finde ich, bis heute einen großen symbolischen Wert."