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Europawahl-Kandidat
Sergey Lagodinsky: grün, jüdisch, europäisch

Das Kandidatenfeld zur Europawahl ist bunt. Unter den vielen Anwärtern für das Europäische Parlament ist auch Sergey Lagodinsky, der als jüdischer Kontingentflüchtling vor 25 Jahren aus der Sowjetunion nach Deutschland kam. Er war zunächst in der SPD, nun kandidiert er für die Grünen.

Von Carsten Dippel | 08.05.2019
Der Rechtsanwalt und Publizist Sergey Lagodinsky, aufgenommen am 9.4.2018 im Rahmen einer Pressekonferenz in Berlin
Rechtsanwalt und Publizist Sergey Lagodinsky: "Für mich ist dieses Leben in diesem Europa ein Stück Freiheit. Und für mich ist es total wichtig, diese Demokratie zu erhalten" (imago / photothek)
Berlin, Prenzlauer Berg. An einer Kreuzung im beliebten Szeneviertel, die Cafés sind allesamt gut gefüllt bei den ersten warmen Frühlingstemperaturen, säumen Wahlplakate der Parteien die Laternen. Von einem blickt Sergey Lagodinsky. Wenn Bündnis 90/Die Grünen so gut abschneiden, wie es die Umfragen sagen, wird er Abgeordneter des Europäischen Parlaments werden. Europa, sagt der promovierte Jurist, liege ihm am Herzen, gerade aufgrund seiner Erfahrung, als Kind in der Sowjetunion groß geworden zu sein.
"Also ich mache meine politische Arbeit und diese politische Arbeit resultiert aus der Vielfalt meiner Perspektiven. Und eine davon ist eben, dass ich ein Zuwanderer aus der Sowjetunion bin. Eine andere ist, dass ich ein russischsprachiger Deutscher bin. Und die andere ist, dass ich ein aktives Mitglied in der jüdischen Gemeinde bin. Ich hatte halt Glück im Unglück, dass ich aufgewachsen bin mit einem Pass, wo es stand, dass ich Jude bin. Ich hatte keine andere Wahl. Und dann arrangiert man sich damit, dann eignet man sich diese Identität auch gezwungenermaßen an."
Die jüdische Minderheit der Sowjetunion
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, die Ausgestaltung neuer Bürgerrechte im Zeitalter der Digitalisierung, das sind die Themen, die Lagodinsky umtreiben, neben seinem Engagement gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Es sind Themen, die ins grüne Portfolio passen, zumal für jemanden, der in der parteinahen Böll-Stiftung das Referat EU/Nordamerika leitet. Auch auf außenpolitischem Feld bewegt er sich und hierhin passt sein zweites Studium der Public Administration in Harvard. Hinter all diesen Themenfeldern scheint seine Erfahrung der Perestroika-Jahre durch, als es um die Suche nach Freiräumen innerhalb des kommunistischen Systems ging.
"Ich bin jemand, der eben in der Sowjetunion aufgewachsen ist und für mich ist dieses Leben in diesem Europa ein Stück Freiheit. Und für mich ist es total wichtig, diese Demokratie zu erhalten, darum zu kämpfen und auch konstruktiv nach Wegen zu schauen, den Zusammenhalt dieser Gesellschaft zu erhalten."
Dossier: Europawahlen
Alle Beiträge zum Thema finden Sie auf unserem Europawahl-Portal (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
Sergey Lagodinsky wurde in Astrachan, ganz im Süden Russlands, an der Wolga geboren. Wie sich das für ein Kind zu Sowjetzeiten gehörte, spielte Religion keine Rolle. Er wuchs so atheistisch auf wie alle seine Mitschüler. "Für uns war selbstverständlich, dass wir jüdisch waren. Das Religiöse war aber beschränkt auf eine Schublade, wo ein Tallit von meinem Urgroßvater lag, der als letzter religiös war und noch jeden Tag in die Synagoge gegangen ist. Für uns war es aber zugleich selbstverständlich, dass wir uns zu unserem Jüdisch-Sein bekannten - im Sinne der kulturellen, familiären Tradition und eines gewissen Selbstbewusstseins als einer Minderheit in der Sowjetunion."
Viele Juden in der Sowjetunion haben ihr Jüdisch-Sein aus Angst vor Diskriminierung verborgen. Aber im Pass wurde unter Nationalität "jüdisch" eingetragen und diese Markierung brachte viele Nachteile, etwa bei Bewerbungsverfahren.
"Verkrustete Identitätsvorstellungen aufbrechen"
Lagodinsky weiß um die Schwierigkeiten von Neuankömmlingen in einem fremden Land. Er weiß, wie es ist, mehrere Leben zu haben. Er war viele Jahre Mitglied der Berliner Repräsentantenversammlung. Die jüdischen Gemeinden hätten von den Zuwanderern viel gelernt, ist er überzeugt, dass es eine Vielfalt an jüdischen Identitäten geben kann.
"Das war auch ein schmerzhafter Prozess, auch hier für die Gemeinden. Und ich glaube, dass durch die russische Zuwanderung diese doch relativ verkrusteten Identitätsvorstellungen über das Jüdisch-Sein in der damaligen jüdischen Gemeinschaft doch aufgebrochen wurden."
Nach seiner Einbürgerung im Jahr 2000 engagierte er sich verstärkt politisch. Seinerzeit in Kassel lag es für ihn nahe, in die SPD einzutreten. Später gründete er den Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokraten. Es war ihm wichtig, an das jüdische Erbe der Sozialdemokratie anzuknüpfen. Bis er aus Protest gegen den unklaren Kurs seiner Partei mit Thilo Sarrazin ausgetreten ist und zu den Grünen wechselte.
Auf jüdischer Seite gibt es manche Vorbehalte gegen die Grünen und allgemeiner gegen linke Positionen, was nicht selten mit einer gewissen Entfremdung zu tun hat, gerade durch Themen wie den Nahostkonflikt provoziert.
"Entgleisende Israelkritik"
"Viele dieser Themen, die jetzt virulent werden, sind Themen, die sehr lange vernachlässigt wurden. Das sind Fragen des Antisemitismus in Form der entgleisenden Israelkritik, der Systemkritik, wo eben Elitenkritik, Verschwörungstheorien, Finanzkapital-Bashing - was ja nicht bedeutet, dass man das nicht kritisieren darf, aber die Formen, die das annimmt, sehr schnell in eine antisemitische Richtung gehen."
Dass er auf der politischen Bühne immer wieder auf das Judentum angesprochen wird, ist Sergey Lagodinsky bewusst. Auf naheliegende Themen wie Antisemitismus will sich aber dennoch nicht festlegen lassen. Denn so sehr seine Herkunft ihn prägt, sie soll nicht seine gesamte politische Arbeit bestimmen.
"Für mich ist Judentum auch etwas, was gewissermaßen ein Exotentum ist und daher auch Grenzen überwindet und öffnet und auch Freiräume öffnet. Ich glaube schon, dass gerade, weil Menschen jüdischer Herkunft sind, eine kleine Minderheit sind, wir auch dadurch häufig viel mehr bewirken können, weil entweder viel mehr Aufmerksamkeit oder auch viel mehr Anfeindungen an uns gerichtet sind. Das ist eine Verantwortung, aber das sind auch Gestaltungschancen."