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Amnesty: Misshandlungen in Ukraine an der Tagesordnung

Zum Auftakt der Fußball-EM erhebt Amnesty International schwere Vorwürfe gegen den Gastgeber Ukraine: In dem Land gebe es Folter und Rassismus, die Justiz sei nicht unabhängig, sagt Generalsekretär Wolfgang Grenz. Zum Boykott des Turniers ruft Amnesty jedoch nicht auf. Wer hinreise, solle auf Einhaltung der Menschenrechte drängen, fordert Grenz. Vvor allem aber gelte es nach der EM "am Ball zu bleiben".

Wolfgang Grenz im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 09.06.2012
    Jürgen Zurheide: Hinfahren oder nicht hinfahren – und wenn, ja, was macht man dann? In der Ukraine wird Fußball gespielt bei der Europameisterschaft, und das beschwert in diesen Tagen viele, die stellen sich nämlich die Frage: Kann man das so einfach, Fußballspielen, während nebenan Menschen möglicherweise gefoltert werden? Über das Thema wollen wir sprechen, und dazu begrüße ich Wolfgang Grenz, den Generalsekretär von Amnesty International. Guten Morgen, Herr Grenz!

    Wolfgang Grenz: Guten Morgen, Herr Zurheide!

    Zurheide: Herr Grenz, zunächst einmal: Wie ist denn die Menschenrechtslage in der Ukraine? Ich habe es gerade so gesagt: Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Was heißt das konkret?

    Grenz: Das heißt konkret, dass in ukrainischen Gefängnissen und in Polizeigewahrsam es immer wieder zu Folter und anderen Misshandlungen kommt, also die sind an der Tagesordnung, und dann werden auch ethnische Minderheiten und Asylsuchende häufig diskriminiert. Also Menschen werden willkürlich verhaftet, ohne Grund in Untersuchungshaft genommen. Wer sich dagegen beschwert, muss mit konstruierten Anklagen rechnen. Also das Justizsystem ist auf jeden Fall auch reformbedürftig, die Justiz ist nicht unabhängig.

    Zurheide: Jetzt schauen wir da etwas genauer hin, seit Frau Timoschenko im Gefängnis sitzt, wobei ich da immer gewisse Schwierigkeiten habe. Da fragt man sich ja auch: Ob sie ins Gefängnis gehen muss oder nicht, das ist sicherlich die Frage – aber ein Engel ist sie natürlich auch nicht. Ist unser Fokus, das ausschließlich über den Fall Timoschenko zu sehen, eigentlich richtig?

    Grenz: Nein, also der Fall Timoschenko lenkt natürlich oder hat die Aufmerksamkeit schon vorher auf die Ukraine gelenkt, und das muss man dann auch nutzen, um darüber hinauszugucken. Und es geht eben nicht nur um Frau Timoschenko, denn Amtsmissbrauch und Folter und Misshandlung durch die Polizei treffen sehr viele Ukrainer, und es ist wichtig, eben auch darauf zu achten und nicht nur auf diese eine Person sich zu konzentrieren.

    Zurheide: Jetzt wird im politischen Feld diskutiert: Fährt man nun hin, fährt man nicht hin? Boykottiert man, boykottiert man nicht? Der französische Präsident Hollande hat gesagt, er und seine Minister wollen es eher nicht tun, bei uns in der Bundesrepublik scheint die Diskussion noch nicht so ganz entschieden zu sein. Was sagen Sie als Amnesty International?

    Grenz: Amnesty International ruft nicht zum Boykott der Europameisterschaft auf. Also wer hinfährt, die Sportler, die Funktionäre, Politiker und auch die Fans, sollten auch gucken: Was kann man denn dann machen? Also Politiker, Herr Friedrich hat das ja vorhin gerade gesagt, er will nicht hinfahren, er kann nicht da neben jemandem sitzen und sich freuen auf die Spiele oder über die Spiele. Aber man kann auch hinfahren und dann aber auch mit seinen Amtskollegen sprechen und sie darauf aufmerksam machen, dass es überhaupt nicht gern gesehen wird in Deutschland, dass es hier zu solchen Menschenrechtsverletzungen kommt. Also wer hinfährt, darf eben in der Tat nicht nur auf das Fußballspiel gucken, sondern er muss dann auch die Chance nutzen, seine Gegenüber, seine Gesprächspartner auf die Menschenrechtssituation hinzuweisen und eben auf eine Verbesserung der Menschenrechtssituation zu drängen. Man kann auch, Herr Friedrich könnte natürlich auch mit den Menschenrechtsgruppen, auch mit Amnesty International dort in der Ukraine Kontakt aufnehmen und damit auch ein Zeichen setzen, dass ein Politiker, ein Mitglied der deutschen Regierung sehr wohl die Menschenrechtssituation dort versteht und auch die Menschenrechtsgruppen unterstützen will.

    Zurheide: Jetzt ist das Argument ja immer: Wenn dann solche Großereignisse stattfinden, schauen wir genauer hin – auch wir beide reden jetzt darüber, das ist möglicherweise der positive Effekt. Nur hatten wir gerade ein anderes Großereignis in Aserbaidschan, den Eurovision Song Contest in Baku. Wenn Sie das jetzt auf sich wirken lassen, auch da hat man über die Menschenrechtslage diskutiert: Hat sich da was verbessert oder zieht das Argument, was Sie ja gerade auch in der Tendenz gebracht haben?

    Grenz: Na ja, leichte Verbesserungen waren schon zu merken. Es sind ja einige politische Gefangene freigelassen worden in Aserbaidschan, aber es sind ja immerhin noch 17 gewaltlose politische Gefangene in Haft. Und jetzt muss man drauf drängen, dass eben dann nach einem solchen Event das Land und die Situation dann nicht vergessen werden. Und das ist auch eine Aufgabe von uns, weiter am Ball zu bleiben, sowohl in Aserbaidschan als auch in der Ukraine. Wir können da nicht zur Tagesordnung übergehen. Es darf also nicht sein, dass jetzt bei der Ukraine nach der Europameisterschaft dann die Menschenrechtler im Abseits stehen bleiben, sondern da kommt es jetzt drauf an, weiter beharrlich auf die Situation hinzuweisen. Das Event selbst hat jetzt den Anlass gegeben, darauf zu gucken, und jetzt ist es wichtig, dass die Medienöffentlichkeit, dass die Politik die Länder nicht vergisst.

    Zurheide: Was raten Sie eigentlich künftig Organisatoren solcher Großereignisse, sei es im Fußball, sei es eben in sportlichen Bereichen aber auch vielleicht bei der Musik? Beim Fußball zum Beispiel gibt es Lastenhefte für die Stadien. Könnte man sich auch vorstellen, dass es eine Art Lastenheft für die Menschenrechte gibt? Was wünschten Sie sich als Amnesty International?

    Grenz: Ja, ich glaube, bei der Vergabe eines solchen Ereignisses, wenn man sagt, das soll dort stattfinden und es gibt dort eine kritische Menschenrechtssituation, dann sollte man auch Forderungen stellen. Dann sollte man auch sagen in den Ländern, wo die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, also es gibt ja … Es muss einen Zugang von ausländischen Journalisten geben, inländische Journalisten dürfen nicht in ihrer Meinungsfreiheit und Pressefreiheit beschnitten werden. Man kann auch konkrete Forderungen dann noch stellen und sagen, also hier, wie bei der Ukraine: Justizsystem muss geändert werden, Folter soll nicht stattfinden. Das wäre dann eine der Voraussetzungen dafür. Wenn natürlich die Spiele dann schon vergeben sind, dann wird es natürlich schwieriger, aber man soll die Vergabesituation auf jeden Fall nutzen und sagen: Wir kommen da hin, das wollen wir gerne machen, aber gewisse Voraussetzungen, eben auch im Bereich der Menschenrechte, müssen geschaffen werden.

    Zurheide: Im Fall Ukraine hat es natürlich die schwierige Situation gegeben, dass das Land, zu dem Zeitpunkt, als die EM vergeben wurde, war die Ukraine auf dem Weg Richtung Europa, und dann hat es diesen Rückschlag gegeben.

    Grenz: Ja, deshalb bei der Vergabesituation war dieses Problem eben nicht in dem Maße da. Und jetzt muss man eben gucken: Man kann ja nicht mehr kurzfristig dann in den meisten Fällen die Spiele woanders hin vergeben – dann muss man eben die Gelegenheit der Spiele nutzen. Aber alleine, dass die Spiele jetzt in einem Land, die Europameisterschaft in der Ukraine stattfindet, das trägt nicht zur Verbesserung der Situation bei. Aber jetzt muss man beharrlich weiter die Forderungen auf eine Verbesserung der Menschenrechtssituation stellen.

    Zurheide: Was erwarten Sie von den Sportlern? Natürlich sollen die in erster Linie Fußball spielen, aber dann vielleicht auch nicht ganz blind sein. Herr Lahm hat sich ja geäußert. Reicht so was, oder könnten die da noch ein bisschen mehr tun?

    Grenz: Es könnten sich noch mehr Sportler äußern in der Hinsicht, das wäre ein gutes Zeichen, das haben ja auch Spieler anderer Nationalmannschaften bei früheren Ereignissen gemacht. Ich erinnere an 1978 bei der Weltmeisterschaft in Argentinien unter der Militärjunta, da haben die Holländer dann den Handschlag zum Juntachef nach dem verlorenen Endspiel verweigert. Sie hatten auch vorher diskutiert, das zu tun, also es war nicht die Enttäuschung über die Niederlage, sondern das war ein klares Zeichen. Und das könnte man auch tun. Aber auch die Sportler, wenn sie dann Zeit haben, könnten auch in Gesprächen, in Interviews, aber auch eben in Kontaktaufnahmen mit Menschenrechtsgruppen ein Zeichen setzen.

    Zurheide: Was erwarten Sie von der UEFA, von Herrn Platini zum Beispiel? Der hat sich da ja einigermaßen zurückhaltend geäußert, als er aufgefordert wurde, möglicherweise klar Stellung zu beziehen.

    Grenz: Ja, die Zurückhaltung sollte er aufgeben und das ist im Gegensatz zum DFB, der doch da wesentlich sensibler ist, wäre es auch Aufgabe des DFB, auf der UEFA-Ebene drauf zu drängen, dass auch dort erkannt wird, dass der Sport sich seiner gesellschaftlichen und politischen Verantwortung nicht entziehen kann. Also die Aussage, Sport und Politik haben nichts miteinander zu tun, das stimmt mit der Realität heute nicht mehr überein, und da sollte der DFB weiter auf UEFA-Ebene drängen, dass auch diese Realitäten dort anerkannt werden. Also Her Platini hat noch einiges nachzuholen.

    Zurheide: Mindestens beim DFB sehen Sie aber Veränderungen, die aus Ihrer Sicht positiv sind?

    Grenz: Ja. Der DFB hat auch Gespräche mit dem Menschenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt, Herrn Löning, geführt, Vertreter des DFB waren auch bei uns zu einem Gespräch dabei. Wir haben Informationen über die Menschenrechtssituation in der Ukraine und Polen zusammengestellt. Also da besteht schon ein Interesse und eine Sensibilität für diese Fragen.

    Zurheide: Die Menschenrechtslage in der Ukraine und was kann man tun bei Großevents? Das war Wolfgang Grenz, der Chef von Amnesty International. Herr Grenz, ich bedanke mich für das Gespräch!

    Grenz: Ja, danke schön, Herr Zurheide!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.