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Amoklauf als Zeichen der Rebellion

Der Amoklauf von Winnenden wurde - wie alle bisherigen Amokläufe - zum Anlass genommen, über Computerspiele und Schusswaffengesetzgebung zu diskutieren. Über die Motive des Täters weiß die Öffentlichkeit bis heute nichts. Der Journalist Mark Ames hat nachgeforscht und kommt zu einer bedrohlichen Schlussfolgerung: Er sieht Amokläufe als Zeichen einer Rebellion gegen das gnadenlose wirtschaftliberale System.

Von Uli Hufen | 27.03.2009
    "Going Postal" ist ein amerikanischer Slangausdruck und bedeutet soviel wie: extrem wütend werden, wütend bis hin zur Gewaltanwendung. Die Formulierung entstand Ende der 80er-Jahre, als innerhalb weniger Jahre mehr als 40 Mitarbeiter des United States Postal Service von Kollegen beziehungsweise Ex-Kollegen erschossen wurden.

    Die Postmassaker begannen im Sommer 1983 in Johnston, South Carolina. Am 19. August marschierte der ehemalige Postangestellte Perry Smith in das Postamt, in dem er bis vor Kurzem gearbeitet hatte, erschoss einen Ex-Kollegen und verletzte zwei weitere. Es folgten ähnliche Angriffe in Aniston, Alabama und Atlanta, Georgia. Als der Postangestellte Patrick Sherill am 20. August 1986 innerhalb weniger Minuten 14 Kollegen erschoss, hatte schließlich ganz Amerika verstanden, dass sich in den Postämtern des Landes Dramatisches abspielte.

    Mit den Amokläufen bei der seit den 70er-Jahren Schritt für Schritt privatisierten amerikanischen Post begann, was seither ein Massenphänomen geworden ist: Schusswaffen-Massaker in Büros, Fabriken, Schulen und Universitäten.

    Der amerikanische Journalist Mark Ames hat unter dem Titel "Going Postal" ein zorniges Buch über die Amokläufe und ihre Ursachen veröffentlicht, das schnell ins Deutsche übersetzt werden sollte. Ames Thesen sind ebenso simpel wie explosiv: Die Gründe für die Amokläufe liegen für Ames weder in der Persönlichkeitsstruktur der Täter noch in Computerspielen oder fehlenden christlichen Grundwerten. Sie liegen da, wo die Amokläufe fast immer passieren: In Büros und Fabriken, in Schulen und Universitäten. Dort, wo die Menschen den größten Teil ihres Lebens verbringen. Ames' Buch trägt daher einen Untertitel, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: "Rage, Murder and Rebellion in America", auf Deutsch: "Wut, Mord und Rebellion in Amerika".

    "Ende 1999 kam ich aus Russland nach Amerika, um über die Vorwahlen der Demokraten zu berichten. Genau in dem Moment gab es einen Arbeitsplatz-Amoklauf und ich war abgestoßen von den Reaktionen darauf. Ich hatte Mitleid mit dem Kerl, ich konnte ihn einfach nicht als den Irren sehen, als den man ihn hinstellte. Immerhin kam das ja oft vor, seit 15 Jahren. Ich hatte die Hypothese, dass es sich um Rebellionen gegen etwas Zeitgenössisches handelt, das man nicht genau fassen kann. Bis vor kurzem existierte diese Art Verbrechen ja nirgendwo in der Welt, auch nicht in Amerika. Entweder ist also über Nacht diese seltsame psychische Krankheit ausgebrochen - was unwahrscheinlich ist. Oder es gibt einen sozioökonomischen Kontext, der das hervorbrachte."

    Ames recherchiert die Hintergründe der Amokläufe überall in Amerika: von Louisville (Kentucky) über Edmond (Colorado) bis San Diego in Süd-Kalifornien, in Postämtern, in Fabriken und in Schulen. In Gesprächen mit Angehörigen und Bekannten der Opfer und der Täter rekonstruiert Ames Vorgeschichte und Ablauf der Amokläufe.

    Eines, vielleicht das wichtigste der vielen verblüffenden Ergebnisse: Praktisch alle Täter, Jugendliche wie Erwachsene, wurden vor ihrer Tat oft über Jahre gemobbt und schikaniert, ohne Grund gefeuert, nicht befördert oder über lange Zeiträume zu Überstunden gezwungen. Und weder in Schulen noch in Unternehmen gab es für sie Möglichkeiten, sich gegen die systematische Misshandlung zu wehren.

    Den Ausgangspunkt für die allgemeine Erbarmungslosigkeit sieht Mark Ames in den berüchtigten Reagonomics der 80er-Jahre und in dem darauf folgenden Triumphzug der neoliberalen The-Winner-Takes-It-All-Logik.

    "Irgendwann einmal werden die Leute auf die 80er- und 90er-Jahre zurückblicken und sagen: Warum zum Teufel haben die Amerikaner sich das gefallen lassen? Amerika ist in den letzten 25 Jahren noch reicher geworden. Aber dieser Reichtum ist bei ganz wenigen Leuten konzentriert. Nur eine Zahl, die alles beweist, was ich sagen will: 1979 verdiente ein Topmanager im Durchschnitt 30 mal so viel wie seine Angestellten. Heute verdient er 578 mal so viel. Dass ein angestellter Mittelklasseamerikaner keine Gesundheitsversicherung hat, war bis Ende der 80er-Jahre undenkbar. Dass man gefeuert wird, obwohl die Firma Gewinn macht, das gab es seit den 20er- oder 30er-Jahren nicht mehr."

    Aus vielen gruseligen Details setzt Ames das Bild einer zutiefst grausamen Gesellschaft zusammen. Die obszönen Einkommensunterschiede zwischen Arbeitern und Management, die stetig steigende Zahl der Arbeitsstunden bei verkürztem Urlaub, die seit 1980 nahezu verfünffachte Zahl der Häftlinge in amerikanischen Gefängnissen, brutalster Leistungsdruck schon auf Schüler:

    "Alle wollen in den Top-Schul-Bezirken leben, damit ihre Kinder nicht in die elende Mittelklasse absteigen. Also müssen sie ein Haus in einem der wenigen guten kaufen. Aber es gibt nicht so viele gute Schulbezirke. An der Highschool ist der Druck dann riesengroß. Einerseits entscheiden die Highschool-Noten über den Zugang zu den Unis, andererseits müssen auch die Schulen in den Examen gut abschneiden. Wenn die Ergebnisse gut sind, hat der Schul-Distrikt einen guten Ruf und die Kids kommen an bessere Unis. Und das wiederum sorgt dafür, dass die Hauspreise hoch bleiben."

    Viel von dem, was Ames für sein Buch an Wissen über die amerikanische Arbeitswelt zusammengetragen hat, konnte man seit Beginn der allgemeinen Wirtschaftskrise auch anderswo lesen. Auch der Zorn, der Ames auf jeder Seite seines Buches anzumerken ist, hat inzwischen zumindest auf Teile der amerikanischen und europäischen Öffentlichkeit übergegriffen.

    Doch Ames geht einen entscheidenden Schritt weiter und setzt die scheinbar vollkommen irrationalen Amokläufe in direkte Beziehung zu dem, was in seinen Augen nur als systematische Ausbeutung und Unterdrückung moderner Arbeiter, Angestellter und Schüler beschrieben werden kann. Ames erkennt in den Amokläufen Akte der Rebellion: fehlgeleitet, brutal, ohne jede Aussicht auf Erfolg - und doch: politisch. Harte, wissenschaftliche Beweise für diese radikale These kann es naturgemäß nicht geben. Ames stützt sich auf eine Fülle von Indizien und eine dramatische Analogie aus der amerikanischen Geschichte.

    "Viele der Massaker sind nicht offen politisch - das war bei den Sklavenaufständen ähnlich. Bis vor etwa 200 Jahren dachte ja jeder, dass Sklaverei normal ist - Jahrtausende lang. Meine Vermutung war, dass man im 18. und 19. Jahrhundert angesichts der Gewaltausbrüche von Sklaven wahrscheinlich ähnlich fassungslos war, wie heute angesichts der Amokläufe. Und das ist wirklich so. Die offizielle Sichtweise war: Das ist das Resultat von auswärtigen Einflüssen: der Papst, die Jakobiner. Oder es liegt an der natürlichen Niedertracht der Schwarzen, am Mangel an christlichen Werten. Niemand sagte, was uns heute offensichtlich erscheint: Die Sklaverei war die Ursache der Rebellionen. Dazu kommt: Es gab wenig Rebellionen, aber dafür viel sogenannte willkürliche Gewalt: die Plantage niederbrennen, den Besitzer vergiften, eins der Kinder umbringen. Das waren keine offen politischen Akte, aber sie waren offensichtlich das Ergebnis der Sklaverei. Deshalb schauen wir heute zurück und sagen: Das waren politische Rebellionen. Und ich glaube, das trifft auf die heutigen Massaker auch zu. Die Leute, die da durchdrehen, müssen nicht wissen, dass sie gegen die Folgen der Reagonomics rebellieren."

    Mark Ames ist weder überrascht über die Gewaltausbrüche, noch macht er ein Geheimnis daraus, dass er eine Rebellion gegen die Verhältnisse in Amerika für überfällig hält. Das amerikanische Journalistenideal des vorgeblich objektiven, Fakten sammelnden Reporters ohne eigene Meinung lehnt er ab. Ames ist involviert, will involviert sein. Es geht hier auch um sein Leben. Das gibt "Going Postal" große Vitalität, macht das Buch aber auch angreifbar. Doch dieses Risiko geht Ames seit Jahren bewusst ein. Für ihn zählen persönliche Integrität, Mut und die Bereitschaft, lieber dreimal über das Ziel hinauszuschießen, als einmal zu zahm zu schreiben.

    Geboren 1965 in der Nähe von San Francisco, studierte Ames an der Berkeley University, verbrachte einige Jahre in der kalifornischen Punkszene und emigrierte schließlich 1993 nach Russland: Auf der Flucht vor eben den Verhältnissen, die er in "Going Postal" zu effektvoll beschreibt. Zwischen 1997 und 2008 war er in Moskau Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift "the exile". Deren unerhörte Mischung aus exzellenten politischen Artikeln und Reportagen, einem an Hunter Thompson geschulten Schreibstil und wildem Humor verschaffte Ames über die Jahre eine riesige Fangemeinde und eine lange Liste von Feinden.

    2008 hatten die russischen Behörden genug und schlossen "the exile" unter einem Vorwand. Ames lebt seither in Panama, setzt "the exile" als Internetprojekt fort und schreibt außerdem für diverse amerikanische Publikationen: von der linksliberalen Wochenzeitschrift "The Nation" über die "New York Post" und den "Playboy" bis hin zu der einflussreichen Internetplattform Alternet.org. In all diesen Medien publiziert Ames seit Monaten Artikel um Artikel, in denen er seine Leser auffordert nicht zuzulassen, dass die Verantwortlichen für die amerikanische Finanzkrise straffrei davonkommen und nebenbei noch Milliarden an Steuergeldern einstreichen. Dabei nimmt Ames wie gewohnt kein Blatt vor den Mund. Wie viele andere ahnt auch er, dass die große Krise eine Chance bietet, die Verhältnisse ernsthaft zu ändern.

    Die Wut der Massen, die endlich begreifen, dass sie seit Jahrzehnten betrogen wurden, wird von Tag zu größer. Drohbriefe und Mails sind an der Tagesordnung, den Mitarbeitern des Versicherungskonzern AIG wird empfohlen, keine Firmeninsignien mehr zu tragen, in Connecticut werden Bustouren veranstaltet, bei denen Opfer der Finanzkrise an den Anwesen der Wallstreet-Multimillionäre vorbeikutschiert werden, und selbst bei seriösen Sendern wie CNN fordern Anrufer, die Verantwortlichen an die Wand zu stellen.

    Wann und bei wem aus großer Wut große Gewalt wird, bleibt trotzdem unvorhersehbar. Für Mark Ames ist nur eines klar:

    "Du hältst es einfach nicht mehr aus. Darum bringst du 15 Leute um. Du denkst, dein Leben ist vorbei. Das war bei allen Arbeitsplatzmassakern so. Die Leute glaubten, dass ihr Leben zerstört wurde: von ihrem Arbeitsplatz und von der Kultur, die das ermöglicht hat. Bei den Schulkindern ist das genauso. Es ist ja ein Riesenschritt, jemanden umzubringen, selbst wenn du 15 bist und die Hormone spielen verrückt. Bevor man so etwas tut, muss man wirklich an den Abgrund gedrängt worden sein. Oder man ist verrückt. Aber diese Kids und auch die Erwachsenen Amokläufer - die sind nicht verrückt. Der Secret Service und das FBI haben das lange untersucht. Es gibt kein Profil. Es kann jeder sein, der kein Gewinner ist, jeder der ausgegrenzt wird."

    Mark Ames formuliert in "Going Postal" in der ihm eigenen drastischen Sprache Thesen, wie sie, auf sachlichere, sehr viel vorsichtigere Weise zum Beispiel auch der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl in einem aktuellen Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit" ausspricht. Vogl zitiert Ames zwar nicht, doch legt das Interview nahe, dass er Ames' Buch kennt.

    Beide verstehen, dass Amokläufer entgegen dem ersten Anschein keineswegs wahllos töten, sondern bewusst angreifen, was sie als "das System" begreifen: Schule und Arbeitsplatz. Wenn das stimmt - und Mark Ames' Buch bietet dafür leider sehr viele Indizien - dann werden wir uns darauf einstellen müssen, dass Amokläufe zu einem regelmäßigen Bestandteil unseres Lebens werden. Es sei denn wir ändern unsere Gesellschaft, und zwar dramatisch.

    Mark Ames: Going Postal. Rage, Murder and Rebellion in America
    Softskull Press New York, 13,99 Euro
    Snowbooks London, 9,99 Euro