Dienstag, 19. März 2024

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Amoklauf in Erfurt
"Die Prävention hat sich verbessert"

Es war der erste Amoklauf an einer deutschen Schule mit so vielen Opfern: Vor 15 Jahren tötete ein Schüler in Erfurt 16 Menschen - und anschließend sich selbst. Seitdem habe sich in puncto Prävention viel getan, sagte der Psychologe Mirko Allwinn im Dlf. Neben ausgebildeten Krisenteams setzten viele Schulen etwa auch auf Risiko-Analyse-Systeme, um Gefahren einzuschätzen.

Mirko Allwinn im Gespräch mit Regina Brinkmann | 26.04.2017
    Bei einer Gedenkfeier vor dem Gutenberg-Gymnasium legen Schüler am 26.04.2017 in Erfurt (Thüringen) weiße Rosen nieder.
    15. Jahrestag des Amoklaufs am Gutenberg Gymnasium (dpa-Bildfunk / Martin Schutt)
    Regina Brinkmann: 15 Jahre sind seit dem Amoklauf von Erfurt vergangen, der Jahrestag und das Gedenken ist Thema heute in einigen Sendungen hier im Deutschlandfunk. In "Campus und Karriere" wollen wir uns mal anschauen, was sich nach der Tat an einem Erfurter Gymnasium an Schulen bundesweit verändert hat.
    - Mirko Allwinn ist jemand, der das sehr gut einschätzen kann. Er und seine Kollegen und Kolleginnen vom privaten Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt gehen nämlich regelmäßig an Schulen, um Lehrer und Krisenteams fortzubilden. Ziel dieser Schulungen ist es vor allem, möglichst frühzeitig Anzeichen für eine Amokgefahr zu erkennen und angemessen reagieren zu können. Welche Anzeichen können das sein, Herr Allwinn?
    Mirko Allwinn: Da gibt es ganz viele Anzeichen. Wichtig ist, dass natürlich ein einzelnes Anzeichen noch nichts macht. Zum Beispiel Isolation, Rückzug von anderen, von Personen, von nahestehenden Personen, zum Beispiel auch von Mitschülern. Oder auch die Beschäftigung mit Gewalttaten, zum Beispiel mit dem Amoklauf von Erfurt, was ja jetzt punktgenau 15 Jahre her ist, oder auch anderen Gewalttaten. Und wir schauen eben, wie diese Beschäftigung ausschaut, wie konkret die ausschaut. Und dort wird sie sediert, also nicht einfach, ob jemand mal danach gegoogelt hat oder nicht, sondern da müssen wirklich noch mehrere Faktoren mit reinspielen. Aber auch …
    Brinkmann: Das heißt, was machen Sie denn, wenn zum Beispiel Lehrer oder Schulleitung auf Sie zukommen und sagen, wir haben so Kriterien bei Schülern entdeckt? Was empfehlen Sie denen?
    Allwinn: Wichtig ist erst mal zu schauen: Was bringt der Fall mit? Also, was sind denn bisher an Verhaltensweisen aufgetaucht, die besorgniserregend waren für die Lehrerschaft, für die Schülerschaft? Und gehen das dann also einzeln durch. Wichtig ist natürlich, dass – da ist auch der Vorteil, denke ich, dran, wenn das externe Berater machen – man emotional nicht involviert ist. Man kann die Dinge objektiver einschätzen anhand von Risikoinstrumenten, gucken, welche Informationen haben wir schon, welche fehlt uns noch. Und gegebenenfalls natürlich auch mit dem Schüler sprechen, mit dem Schüler selbst.
    "Es soll nicht zu blindem Aktionismus kommen"
    Brinkmann: Wie vermeidet man zum Beispiel Aktionismus und vielleicht auch Stigmatisierung von Schülern?
    Allwinn: Genau, das ist ein ganz, ganz wichtiges Thema, was Sie ansprechen. Wir wissen alle, dass solche Ereignisse sehr, sehr selten sind, glücklicherweise. Und das soll auch so bleiben. Und man muss aufpassen davor, dass man nicht aufgrund von Einzelmerkmalen eben etwas überschätzt. Und deswegen sind eben wissenschaftlich evaluierte Systeme notwendig, damit man zu einer richtigen Einschätzung kommt. Und damit es eben nicht zu blindem Aktionismus kommt. Das heißt, im Regelfall tritt häufig eine Entschärfung ein oder man sagt, na ja, der Fall ist nicht gravierend, das Problem liegt vielleicht ganz woanders. Also, man muss sich das eben sehr genau anschauen. Und wir plädieren dafür – und das hat sich glücklicherweise seit den vergangenen 15 Jahren drastisch geändert –, Krisenteams an Schulen einzurichten. Das sind speziell ausgebildete Personen, die auch an der Schule vor Ort arbeiten. Und diese speziell ausgebildeten Personen, die schätzen das dann letztendlich ein, und das ist besser, als einfach irgendjemanden da ranzulassen.
    Brinkmann: Und diese Teams bilden Sie auch aus und unterstützen sie dann sozusagen bei der Präventionsarbeit. Was hat sich denn - was ist jetzt so Fortbildungsaspekt - was hat sich denn baulich an den Schulen getan, um im Fall eines Amoklaufes Schülerinnen und Schüler und auch Lehrer und Lehrerinnen zu schützen?
    Allwinn: Baulich ist viel passiert. Das ist meistens natürlich im Hinblick darauf, na ja, jetzt tritt das Ereignis ein, was können wir also in dem Ereignis konkret tun? Wir sind dann weniger in der Prävention, sondern vielmehr letztendlich in der Krisenbewältigung und um zu verhindern, dass es nicht größere Ausmaße annimmt. Zum Beispiel bestimmte Schließmechanismen an Schulen, bestimmte Warnsysteme, um Signale an die Schülerschaft, an die Lehrerschaft zu senden, solche Dinge sind viel passiert. Man hat sich auch viel Gedanken darüber gemacht, wie man Lehrräume aufbaut, wo man sich vielleicht auch in Sicherheit bringen könnte. Das ist alles auch wichtig, das ist auch ein wesentlicher Aspekt. Aber es setzt eben später an als das, was wir tun, eben nicht bei der Prävention, sondern wenn das Ereignis schon eingetreten ist.
    "Risikoanalyseinstrumente helfen bei der Beurteilung"
    Brinkmann: Jetzt haben wir über bauliche Maßnahmen gesprochen, es gibt aber auch digitale Technik, die Lehrer und Lehrerinnen dabei unterstützen kann, rechtzeitig vielleicht zu erkennen, ob ein Schüler ein gewisses Potenzial hat für einen Amoklauf.
    Allwinn: Genau, es gibt Apps natürlich, es gibt auch ein Risikoanalyseinstrument, wir nennen das DyRiAS, Dynamische Risiko-Analyse-Systeme. Und das hilft letztendlich, zu schauen, ob die Signale, die aufgetaucht sind, dem entsprechen oder auch dem Muster entsprechen, was vergangene Taten und Täter gezeigt haben, was dort auftritt. Und schätzt das objektiv ein und gibt letztendlich einen Risiko-Score aus. Wir dürfen das aber nicht so interpretieren nach dem Motto, na ja, das ist jetzt Faktum so und wir können nicht in die Zukunft schauen. Unser Ziel ist es eben, Dinge zu verhindern, und nicht vorherzusagen. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Und diese Instrumente helfen tatsächlich sogar mehr, die Dinge gelassener auch sehen zu können, weil man weiß, es ist jetzt beurteilt worden, Dinge nicht gefährlicher machen, als sie sind. Dieses System kommt nur zum Einsatz, wenn eine Person besorgniserregendes Verhalten gezeigt hat. Und da muss schon einiges vorhanden sein, nicht nur mal ein Einzelmerkmal, um tatsächlich höher auf einer Risikostufe zu landen.
    Brinkmann: Jetzt sind 15 Jahre seit Erfurt vergangen. Sie sind in diesem Bereich Bedrohungsmanagement, Amokprävention tätig. Wie oft hatten Sie den Eindruck, dass eine Schule sehr nahe an einem solchen Fall dran war und Sie konnten da auch unterstützen?
    Allwinn: Es ist immer schwierig, im Nachhinein zu sagen, man hat da jetzt was verhindert. Ich glaube, da gab es schon einige krisenhafte Entwicklungen, wo dann auch letztendlich dann die Polizei zum Einsatz kam und wo wir durchaus den Eindruck hatten, da wurde jetzt Schlimmeres verhindert. Ob es dann per se zu solch tragischen Ereignissen gekommen wäre wie in Erfurt und auch in Winnenden, ist natürlich schwer zu sagen. Also, ich glaube, da hat sich generell die Präventionslandschaft in Deutschland seit 2002 massiv verändert.
    Die Leute sind sensibler dafür geworden, ohne repressiv zu sein, Prävention statt Repression. Und dort ist an den Schulen viel passiert, auch die einzelnen Landesregierungen haben viel vorangebracht. Es gibt Krisen- und Notfallordner, ausgebildete Krisenteams, da passiert schon einiges. Und wir freuen uns natürlich immer besonders dann, wenn das sehr, sehr früh am Anfang vielleicht ein aufmerksamer Lehrer, ein Mitschüler wahrgenommen hat und dann sehr, sehr interveniert werden kann. Das ist besser für den Schüler, besser für die Schülerschaft. Und vielleicht hat man dadurch auch sogar Taten verhindert.
    Brinkmann: In Sachen Prävention hat sich nach dem Amoklauf von Erfurt einiges getan, meint Mirko Allwinn. Er ist Berater und Trainer am Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.