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Amuleto

Auf den ersten Blick scheint es, als ob sich Roberto Bolaño mit seinem neuesten, schmalen Roman "Amuleto" etwas Gutes tun wollte - auszuruhen nämlich von der großen Anstrengung, die ihm sein zuvor erschienener, mehr als 650 Seiten umfassender und hochgelobter Roman "Die wilden Detektive" abverlangt haben muß. Aber es dürfte typisch für den 50jährigen, in Spanien lebenden Chilenen sein, daß er sich ausruht - indem er schreibt, nur diesmal eben etwas weniger, überschaubarer auf nur 160 Seiten. Ein kleines Intermezzo, gewissermaßen, denn schon hört man, daß er ein neues Werk in Angriff genommen haben soll mit mehr als tausend Seiten. Ein gutes Dutzend Bücher, Gedichtbände, Erzählungen und Romane, hat Bolaño, der erst mit 40 Jahren zu veröffentlichen begann, bisher geschrieben. Den meisten ist eine virtuose Stimmführung verschiedenster Figuren gemein. Auch in Amuleto verfällt man leicht dem Parlando der Erzählerin Auxilio Locouture. Schon der Anfang gibt sich egozentrisch und vielversprechend:

Martin Grzimek | 28.03.2003
    Das hier wird eine echte Horrorgeschichte. Eine Verbrechergeschichte wird das, ein Ding aus der schwarzen Serie und eine Horrorgeschichte. Aber es wird gar nicht danach klingen. Aus dem einfachen Grund, weil ich hier erzähle. Ich bin es, die spricht, und deshalb hört sich das alles ganz anders an. Nur, eigentlich - ja, eigentlich ist es eben die Geschichte eines furchtbaren Verbrechens.

    Auxilio Locouture stammt aus Uruguay. Gegen Mitte der 60er Jahre macht sie sich auf nach Mexico-City, um dort im Kreise exilierter spanischer Dichter und junger lateinamerikanischer Autoren das zu werden, was sie von sich selbst behauptet: die Mutter der mexikanischen Poesie zusein. Von all dem erzählt sie, besser gesagt spricht sie wie in einem Rausch auf sie eindringender Erinnerungsfetzen ungeordnet, assoziativ, mal beiläufig, meistens aber voller Emotionen. Sie spricht über die Literatencafés der Stadt, über Dichter und Dichterinnen, über das bunte und armselige Leben der Bohemiens, das Leben der Nächte, die nicht selten im Tequilarausch enden. Tagsüber verdient sich Auxilio das wenige, was sie braucht, in der Universität, macht Botengänge oder arbeitet als Hilfskraft bei Professoren.

    Dann kommt der 18. Oktober 1968, jener Tag, an dem die Universitat Autonómica von den Militärs geräumt wird - und hier nun beginnt Aucilio Locoutures eigentliche "Horrorgeschichte". A diesem Tag werden Hunderte von Studenten und Wissenschaftler verhaftet und verschleppt, ein Schicksal, das auch Auxilio getroffen hätte, wäre sie nicht just zu dem Zeitpunkt, als Panzer auffuhren und Soldaten anrückten, auf der Damentoilette im vierten Stock des Gebäudes der Fakultät für Philosophie und Literatur gewesen, auf dem Klo sitzend und in einem Gedichtband Pedro Garfías lesend. Diese Szene ist ebenso tragisch wie lächerlich, für Auxilio aber bedeutet sie den Beginn eines Alptraums. Fast zwei Wochen lang nämlich wagt sie sich nicht aus der Toilette heraus, lebt von nichts als Wasser und kleinen Stückchen Klopapier, bis sie am Rande ihrer Kräfte und des Wahnsinns gefunden wird.

    Und während dieser 13 Tage, die sie ausgehalten hat, erzählt und phantasiert sie ihr Leben, ihre Begegnungen mit Künstlern und Dichtern in den Cafés der Stadt. Das ist die Disposition des Romans, basierend auf einer wahren Begebenheit, die schon die Mexikanerin Elena Ponitowska in ihrer Erzählung Die Nacht von Tlatelolco beschreibt, dem eigentlichen Ort des "furchtbaren Verbrechens", als dort, auf diesem Platz, kurz vor Beginn der Olympiade hunderte von Studenten vom Militär erschossen werden. Bolaño hat bereits in seinem Roman "Die wilden Detektive" die Szene auf der Damentoilette auf 10 Seiten dargestellt, so daß sich "Amuleto" auch wie die Ausmalung einer Skizze lesen läßt, die in dem so umfangreichen Manuskript der "Wilden Detektive" keinen Platz mehr gefunden hat. Dort nämlich sind die Stimmen der Figuren trotz ihrer Vielfalt immer auch beherrscht und konzentriert. Auxilio Locouture hingegen, das muß man ihr und ihrem geistigen Vater vorwerfen, ermüdet bisweilen, weil sie zu sehr zum papageienhaften Klischee eines Literaturgroupie wird und zur Geschwätzigkeit neigt.

    Ich wurde nur deshalb nicht verrückt, weil mir meine gute Laune nicht verloren ging. Ich lachte über meine Röcke, meine zylinderförmigen Hosen, meine gestreiften Strümpfe, meine weißen Socken, meine Prinz-Eisenherz-Frisur, ... über meine Augen, die angestrengt die Nacht der mexikanischen Hauptstadt durchforschten, meine rosigen Ohren, in denen die Geschichte der Universität verschwanden, die Auf- und Abstiege, die Lästerein, Gemeinheiten, Schmeicheleien, Lobhudeleien, die Geschichten von wackelnden Betten, die auseinanderflogen und sich wieder zusammensetzten unter dem schaudernden Himmel über der Hauptstadt, jenem Himmel, mir so vertraut, brodelnd und unerreichbar wie ein aztekischer Kochtopf, unter dem ich meine Wege ging und mich meines Lebens erfreute, gemeinsam mit allen Dichtern Mexicos, und mit Arturito Belano, der siebzehn, sechzehn Jahre alt war und unter meinen Augen heranwuchs.

    Und so weiter, und so weiter in einem Singsang, der viele Ohren betören mag, von dem zum Schluß als Gesamteindruck aber nur übrig bleibt, daß in diesen Jahren am Ende der Sechziger, viel los gewesen ist, wie man das eben so sagt, wenn man sich mehr an die allgemeine Stimmung als an die konkrete Situation erinnert. Der Roman Amuleto, der in einer fast kitschigen Vision der Verlorenheit der lateinamerikanischen Jugend in einem Tal der Tränen endet, rührt daher unser Herz. Vorübergehend zumindest.