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Analphabetismus
Leseförderung in der Grundschule notwendig

Rund siebeneinhalb Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig schreiben und lesen - obwohl ein großer Teil von ihnen das deutsche Schulsystem durchlaufen hat. Wissenschaftler sprechen von funktionalen Analphabeten. In Hildesheim arbeiten Universität, Grundschulen und das Jugendamt gemeinsam an einer Lösung.

Von Torben Hildebrandt | 03.02.2014
    Wie tief kann ein Maulwurf graben? Darum geht’s in der dritten Klasse der Grundschule Barnten. Der neunjährige Levin hangelt sich durch den Text:
    "Der Maulwurf lebt fast immer unter der Erde, deswegen hat er da unten fast alles, was man zum Leben braucht."
    Levin hat Probleme beim Lesen, aber: er kann stolz auf sich sein: innerhalb eines halben Jahres hat er sich stark verbessert. Der Grund: seine Schule bietet eine besondere Art der Lernförderung an: in der dritten und vierten Klasse bekommen alle Kinder zwei Stunden extra Unterricht in Sachen Lesen und Schreiben - nicht nachmittags als Förderstunde, sondern vormittags, eingebunden in den normalen Stundenplan. Levin merkt also gar nicht, dass er besonders gefördert wird - für ihn fühlt sich die Extrastunde wie normaler Deutschunterricht an, sagt Lehrerin Brigitte Kusior:
    "Levin fängt an, sich zu melden, sich zuzutrauen, was vorzulesen. Er wird viel sicherer in die Gruppe, das gilt für alle Kinder, die morgens kommen. Dann geht es erst in die Einzelarbeit, dann in die Gruppe… sodass keiner merkt, ich kann da irgendwas nicht, und das klappt ganz prima."
    Das Projekt heißt LeFis - die Abkürzung bedeutet Lernförderung in Schulen. Hinter die Idee steckt die Uni Hildesheim. Die Wissenschaftler haben knapp 500 Kinder aus der Umgebung untersucht. Das Ergebnis: jeder dritte Drittklässler hat Probleme mit dem Lesen, Schreiben und Verstehen. (Professorin) Claudia Mähler, Expertin für Pädagogische Psychologie, sagt: diese Risiko-Kinder muss das Bildungssystem mehr in Blick nehmen:
    "Wenn diese Kinder nicht diese Förderung bekommen in der Grundschulzeit, dann ist die Gefahr groß, dass sie später den Schritt in richtiges, flüssiges Lesen nicht schaffen."
    Mit anderen Worten: Je früher Kinder beim Lesen und Schreiben Unterstützung bekommen, desto geringer ist das Risiko Analphabet zu werden. Was Lehrer und Wissenschaftler lange geahnt haben, beweist die Untersuchung der Uni Hildesheim: Nach zwei Jahren Förderung im LeFIs-Projekt konnten 62 Prozent der Schüler ihre Schwäche überwinden. Auch die 8-Jährige Inga profitiert vom LeFis-Projekt:
    "Also, da machen wir also, wir lesen manchmal ganz leise, dann kommen wir in den Stuhlkreis und dann sollen wir passieren, was in dem Buch passiert ist, wir lesen das manchmal laut vor im Stuhlkreis, ja."
    Zum Beispiel die Geschichte vom Maulwurf - und wie er sich durch die Erde gräbt:
    "Das hängt davon ab, ob man sich sein Gang… Gang…Gangsystem im Winter oder im Sommer anguckt."
    Das "Gangsystem" macht Inga Schwierigkeiten – doch zum Glück ist Lehrerin Brigitte Kusior zur Stelle. Sie achtet auf Kleinigkeiten, die im normalen Schulalltag vielleicht untergehen würden. Dass an der Grundschule Barnten in der dritten und vierten Klasse das Lesen und Schreiben gefördert wird, ist sinnvoll, sagt Kusior. Denn: sind die Kinder erst mal in der weiter führenden Schule, ist es zu spät:
    "Ende der vierten Klasse, wenn der Übergang in die weiterführende Schule kommt, dann setzen die Kolleginnen und Kolleginnen voraus, dass der Leselehrgang abgeschlossen ist, und dann wird er nicht mehr vertieft. Man setzt voraus, dass die Kinder lesen können - und wer das nicht kann, macht dann Rückschritte."
    Das ist eine Erklärung dafür, dass Kinder und Jugendliche ein Jahrzehnt zur Schule gehen und trotzdem zu funktionalen Analphabeten werden. Der Grundschule kommt eine besondere Bedeutung zu, sagt Uni-Professorin Claudia Mähler. Förderung im Unterricht in der Klasse, sei wirkungsvoller als Nachhilfeunterricht, Lerntherapie oder Extra-Stunden am Nachmittag - weil Kinder so für ihre Schwächen keinen Stempel aufgedrückt bekommen:
    "Die einen müssen Rechnen üben, die anderen können nicht so gut basteln, oder irgendwas zusammenkleben - deswegen sage ich: das gehört in den schulischen Kontext und zwar je früher desto besser."
    In Hildesheim mischt auch das Jugendamt mit. Die Behörde unterstützt die Leseförderung mit Geld: damit Kinder den Nachmittag frei haben, um zum Beispiel im Verein Fußball zu spielen oder in die Musikschule zu gehen. Vereinfacht ausgedrückt: wer besser lesen und schreiben kann, hat weniger seelische Probleme und zuhause weniger Ärger. Josef-Godehard Wolpers ist Erziehungsberater beim Jugendamt in Hildesheim - und er wünscht sich, dass das Programm zum festen Unterrichtsbestandteil an allen Schulen der Region wird:
    "Das kann ja nicht Sinn von Jugendhilfe sein, zu gucken, dass erst Reparatur fällig wird, sondern vorab einzusteigen."
    Die Chancen stehen nicht schlecht, dass aus dem Modellversuch mehr wird. Die Grundschule Barnten machen vorerst auf eigene Faust weiter. Elternverein und Gemeinde finanzieren die Leseförderung:
    "Levin, liest du noch mal vor ab Seite 24? Der Maulwurf…"
    Vielleicht, hoffen die Initiatoren, nimmt sich die Politik ein Beispiel daran.